Quereinstieg in eine laufende Debatte
Ein auch programmatischer Beitrag aus den Reihen der proletarischen Plattform zur Antisemitismusdebatte des Sommers 2011 in der Partei DIE LINKE.
Der Text erschien zuerst im Septemberheft 2011 der Zeitschrift Konkret.
Zwei bemerkenswerte Sätze haben Halina Wawzyniak und Raju Sharma in den ersten Abschnitt („Woher wir kommen wer wir sind“) ihres Alternativentwurfs zum Parteiprogramm der Partei die Linke[1] hineingeschrieben. Die Passage, in deren Zusammenhang sie stehen, lautet folgendermaßen:
„Die bittere Erfahrung der Spaltung der Arbeiterbewegung Anfang des vergangenen Jahrhunderts bleibt uns eine Lehre. Sie erleichterte den Aufstieg der Nationalsozialisten und verhinderte gemeinsamen Widerstand gegen ihre Machtübernahme. Die historische Einmaligkeit der industriellen Massenvernichtung von Jüdinnen und Juden lastet noch heute auf der Geschichte Deutschlands. Die barbarische Verfolgung von Kommunistinnen und Kommunisten, von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern sowie Homosexuellen prägte die Zeit des Faschismus. Viele sind von den Nazis ermordet worden, andere saßen in den Gefängnissen und Konzentrationslagern oder befanden sich auf der Flucht. Die Barbarei und der verbrecherische Krieg der deutschen Nationalsozialisten verheerten ganz Europa. Es bleibt ein Versagen der deutschen Bevölkerung den Faschismus nicht selbst niedergerungen zu haben.“ (s. dort S. 5)
Bemerkenswert sind die zwei hier kursiv hervorgehobenen Sätze zunächst vor allem deshalb, weil sie im Entwurf der Programmkommission fehlen. Zur millionenfachen Vernichtung der Juden Europas durch das nazistische Deutschland steht dort wahrhaftig kein einziges Wort. Und auch keines dazu, dass die Niederringung des Nazismus den Deutschen von außen aufgezwungen werden musste. Zwei Tatsachen, die bei der Formulierung ihres Programms nicht im Blick zu haben, der Linken in Deutschland das Attest sichern, mit Blindheit geschlagen zu sein. Unter den Blinden ist aber der Einäugige bekanntlich König und vergisst dann gerne, dass er der König der Blinden ist.
Was das Lasten der „historischen Einmaligkeit“ der Judenvernichtung „auf der Geschichte Deutschlands“ mit dem Programm der Linken in Deutschland des Näheren zu tun haben könnte, darüber schweigt sich auch der Alternativentwurf aus. Und vollends ungereimt mutet an, „der deutschen Bevölkerung“, die ja zu keinem geringen Teil aus Nazis bestand, deutschen Faschisten also, weil sie diese „nicht selbst niedergerungen“ habe, ausgerechnet „ein Versagen“ zu bescheinigen.
Auf die erste Frage gibt nun der zum Leitantrag an den kommenden Programmparteitag überarbeitete Entwurf der Programmkommission[2] immerhin eine wenn auch einigermaßen zweifelhafte Antwort. Offenbar unter dem Eindruck der Debatte über Antisemitismus in der Linken hat man nachgebessert und einen entsprechenden Passus eingeschoben.
„Deutschland“, heißt es da, habe „wegen der beispiellosen Verbrechen der Deutschen an den Jüdinnen und Juden während des deutschen Faschismus“, man rate und staune: „eine besondere Verantwortung“, und: „Insbesondere diese Verantwortung verpflichtet auch uns“, also die Linke. Erst also kommt Deutschland und dann, wenn sie Glück (oder vielmehr: Pech) hat, vielleicht auch die Linke.
Das Drama der von „Auschwitz“ abgeleiteten „besonderen Verantwortung“ Deutschlands haben wir zuletzt erleben dürfen, als vor gut zwölf Jahren auf Belgrad und andere jugoslawische Städte von den Leitstrahlen deutscher Tornados ins Ziel gelenkte Bomben fielen. Eine Linke, die sich programmatisch in „insbesondere diese Verantwortung“ begibt, möchte offenbar am ganz großen Rad drehen und hat eben drum von Deutschland und seiner unsäglichen Geschichte vorsichtshalber fast nichts begriffen.
In ihrem Menschheitsverbrechen an den europäischen Juden vollzog dereinst die Gemeinschaft der Deutschen den grausigen Ritus ihrer Initiation. Zur ersten Voraussetzung hatte dies die terroristische Domestizierung ihres inneren Gegensatzes: die Verwandlung der tödlich verfeindeten Klassen von Kapital und Lohnarbeit in Führungen und Gefolgschaften an der Front der deutschen Arbeit. Dass die Linke in Deutschland, namentlich die sozialdemokratisch oder kommunistisch organisierte Arbeiterbewegung das mit sich hat machen lassen, dass sie – obendrein ohne ernsthafte Gegenwehr – sich hat zertrümmern lassen, bezeichnet ihr entscheidendes Versagen in der sogenannten Judenfrage, die in Wahrheit natürlich die Antisemitenfrage ist. Mit ihrer eigenen Niederlage hat sie das Schicksal der europäischen Juden besiegelt.
Und denen, die das Inferno überlebten, hat sie keinen anderen Ausweg gelassen als zum Staatsvolk sich zu verbinden, das die Sicherung seines ferneres Überlebens und der dazu nötigen Mittel für alle absehbare Zukunft ganz allein in die eigenen Hände nimmt – mit allen vielfach abscheulichen Konsequenzen, die eine solche Verbindung unweigerlich mit sich bringt. Das zu beanstanden und gar dem Zionismus, d.h. der organisierten Anstrengung der Juden, einen eigenen Nationalstaat zu errichten und zu erhalten, die unbezweifelbare Unzulänglichkeit dieser jüdischen Antwort auf den schier unausrottbar in der Welt grassierenden Antisemitismus vorzurechnen, verbietet sich seither an sich für jeden denkenden Menschen.
Die Rede vom Existenzrecht Israels, auf die sich so mancher Kritiker des Antizionismus in der Linken etwas einbildet, zollt indes solcher Einsicht völlig unzureichend Tribut. Denn zum Begriff des Staates gehört es – auch das hat die Shoa mit kaum mehr denkbarer Brutalität offengelegt –, dass jegliches Recht an einen staatsförmigen, d.h. mit Gewaltmitteln ausgestatteten Souverän gebunden ist und also immer nur soweit praktische Geltung hat, wie sich dessen Gewalt erstreckt, es durchzusetzen. Einen Souverän, der noch über den real auf unserem Globus existierenden Staaten rangierte und diesen gegenüber irgendein Recht durchsetzen könnte, gibt es jedoch nicht. Das sogenannte internationale Recht oder Völkerrecht kann nie mehr sein als die Summe dessen, worauf die wirklichen Souveräne dieser Welt sich jeweils verständigen können, und sehr oft ist es noch weit weniger. Israels „Recht“ zu existieren ist daher mit seiner wirklichen Existenz ganz und gar identisch und deren Garantie aus nichts anderem ableitbar.
Zur Souveränität Israels gehört es natürlich, auf Bekenntnisse der deutschen Regierung zu seinem Existenzrecht einen gewissen Wert zu legen. Israel kann es nicht gleichgültig sein, wie Deutschland, immerhin die Führungsmacht der EU und der Eurozone, seine Rolle in der Auseinandersetzung um Israels Sicherheit und Integrität definiert. Israel aber muss Deutschland nehmen, wie es Deutschland vorfindet: nämlich als nunmehr in sich gefestigte und insofern freiheitlich-demokratisch verfasste Gemeinschaft der Deutschen; jene Gemeinschaft, die das Naziregime uns gnädig Spätgeborenen als sein bis heute hierzulande hochgeschätztes Erbe hinterlassen hat. Und wenn die Kanzlerin dieser vergemeinschafteten Deutschen die „Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels“ zur deutschen Staaträson ausruft, [3] dann wird man das in Israel mit artigem Beifall zur Kenntnis genommen haben, ohne das banale imperiale Interesse zu verkennen, das da heutzutage auf dem Vehikel der „historischen Verantwortung“ nach Jerusalem geritten kommt.
Darum wird man in Israel sicher auch nicht aus allen Wolken gefallen sein, als gut zwei Jahre nach Merkels hierzulande als „historisch“ apostrophiertem Auftritt vor der Knesset der deutsche Bundestag in einer einstimmig verabschiedeten Entschließung ganz ungeschminkt der israelischen Regierung die Leviten las und die sofortige Aufhebung der Seeblockade des Gazastreifens verlangte, weil, was „den politischen und Sicherheitsinteressen Israels letztlich“ diene, man in Deutschland „letztlich“ immer noch am besten weiß.[4]
Dieser Beschluss wurde wie gesagt einstimmig gefasst, was nicht oft vorkommt im Bundestag, schon gar nicht bei einem Gegenstand von solcher Brisanz. Und noch bemerkenswerter: An seinem Zustandekommen hatte die Linksfraktion ganz maßgeblichen Anteil. Für einen flüchtigen, aber ebenso bezeichnenden wie trostlosen historischen Moment durfte die Linke sich schmeicheln, die Takt- und Stichwortgeberin der deutschen Politik gewesen zu sein, denn zwei Abgeordnete aus ihren Reihen waren mit jener Free-Gaza-Flotille gen Israel gefahren, deren Forderung der Bundestag sich nun zueigen gemacht hatte. Obendrein waren sie auf dem Flagschiff der Flotte (präziser: auf seinem Frauendeck) gewesen, dessen Aufbringung durch die israelische Marine, den Anlass für den Bundestagsbeschluss geliefert hatte.
Übrigens hatte die Linksfraktion, ehe sie sich dem interfraktionellen Antrag anschloss, einen eigenen, deutlich schärfer gegen Israel formulierten Entschließungsantrag eingebracht, der natürlich (von wegen „Staaträson“) abgelehnt worden war. Unter den Einbringern namentlich festgehalten findet sich auch Stefan Liebich, seinerzeit Bundessprecher jenes Forums demokratischer Sozialismus (FDS), das sich zurzeit besonders hervortut beim Gestikulieren gegen israelfeindliche Tendenzen in der Linken. Niemand von diesen Herrschaften, die jetzt die Bundestagsfraktion dazu erpresst haben „Entschieden gegen Antisemitismus“ Stellung zu beziehen, hat damals dem deprimierenden Schauspiel Einhalt geboten, worin die Linksfraktion einer großangelegten Propagandaaktion für die ausgewiesenen Antisemiten der Hamas den verlängerten Arm im deutschen Parlament gemacht hat.
Die Linksjugend ['solid] Hamburg hat insofern zweifellos ganz Recht, wenn sie in einer Pressemitteilung vermutet, es gehe beim Antisemitismus-Beschluss der Linksfraktion, „im Kern nicht um Antisemitismus“, sondern „um die Beteiligung der Linken an der politischen Macht im Staate, um Karrieren, Geld und Reputation.“[5]
Vor allem aber geht es, so steht zu befürchten, auf allen Seiten um die unbedingte Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Deutschen. Und die Frage, ob man unter dieser Prämisse beim politischen Spitzenpersonal ein bisschen mitmischen möchte oder lieber bei den Fußtruppen bleiben und auf der Straße „Druck“ dafür machen möchte, dass die da oben das einfache Volk pfleglicher behandeln, wäre am Ende bloß eine Frage der persönlichen Möglichkeiten und des sich daraus zwanglos ergebenden politischen Geschmacks.
Ziemlich verdächtig jedenfalls, dass ganz offensichtlich keine Gelegenheit die Linken in der Linken mit derselben Einmütigkeit und Vehemenz auf den Plan ruft wie die, ihre unverbrüchliche Solidarität mit dem Volk der Palästinenser im Kampf gegen seine israelischen Unterdrücker zu demonstrieren. Wo beispielsweise ist der allgemeine Aufstand dieser linken Linken abgeblieben, als kürzlich die linke Landtagsfraktion in NRW den rot-grünen Landeshaushalt durchgewunken hat, um nur nicht bei ansonsten befürchteten Neuwahlen womöglich wieder aus dem Landtag zu fliegen?
Israel war und bleibt der Stachel, der das gute Gewissen der Linken stört. Sein Dasein ist der Beweis, dass die „Traditionen der Demokratie und des Sozialismus, der Kämpfe für Menschenrechte und Emanzipation“, die alle drei Programmentwürfe der Partei die Linke so völlig unbeschwert in Anspruch nehmen, seit langem zerbrochen sind. Es ist die materiell gewordene Erinnerung an den Verrat dieser Traditionen, den die Shoa markiert, als das negative gemeinsame Erbe sämtlicher größeren Strömungen oder kleinen Splitter der Linken (innerhalb wie außerhalb der Partei). Und gemeinsam wendet man, statt sich ihm zu stellen, alle Energie für seine Verdrängung auf; in der Identifikation mit Deutschland und seiner „Verantwortung“ oder mit den Palästinensern und ihrem Kampf gegen die israelische „Apartheid“, und am besten gleich mit beiden: Seine Partei sei, erklärte jüngst Stefan Liebich dem niederländischen Reformatorisch Dagblad, „pro-palästinensisch und“ (Achtung: Staatsräson!) „pro-israelisch zugleich“.[6]
Und um zum bösen Schluss noch einmal auf Raju Sharma zurückzukommen: Der hat dem Spiegel im Zusammenhang der Debatte um Antisemitismus in der Linken zu Protokoll gegeben:
„Wenn in meiner Partei die israelische Regierung kritisiert wird, mangelt es häufig an Achtsamkeit. Wir müssen aber auch auf Gefühle des israelischen Volkes Rücksicht nehmen, die sich aus der Geschichte des Landes ergeben.“[7]
Die aus seinem alternativen Programmentwurf eingangs zitierte Last „auf der Geschichte Deutschlands“ war hier also schon wieder komplett vergessen, und es spricht der deutsche Minister in spe, den die Frage umtreibt, wie man „die israelische Regierung kritisiert“, ohne in der Welt allzu dumm aufzufallen. Es spricht der unbedingte Wille, in der Gemeinschaft der Deutschen mitzumischen, der von einer „soziale[n] Spaltung der Gesellschaft“[8] stammelt, statt auf den Begriff zu bringen, was er da so begrifflos beklagt: die nach wie vor wirksame Spaltung der Gesellschaft in zwei gegensätzliche Klassen, die es nötig hätte, in einer Partei der selbstbewussten besitzlosen Klasse politischen Ausdruck zu bekommen, damit die ihr innewohnende Gewalt sich nicht einmal mehr im Ressentiment der Deutschen austobt.
Emil Neubauer
Daniel Dockerill
Ralph Odd
(Mitglieder der Partei DIE LINKE
und der proletarischen Plattform)
[1] Mit einer Vorbemerkung, betitelt „Warum ein Alternativentwurf? – oder: Die Sehnsucht nach dem Meer“, gibt's als PDF-Dokument den Programmentwurf hier.
[2] http://www.die-linke.de/programm/programmdebatte/leitantragandenerfurterparteitag/programmentwurf/
[3] Angela Merkel in ihrer Rede vor der Knesset am 18.3.2008.
[4] Beschluss des Bundestages „Ereignisse um die Gaza-Flottille aufklären – Lage der Menschen in Gaza verbessern – Nahost-Friedensprozess unterstützen“ vom 30.6.2010, eingereicht als Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
[5] Pressemitteilung (datiert vom 13.6.2011): Sozialdemokratischer Opportunismus oder linke Opposition? „Antisemitismus“-Beschluss der LINKEN ist die erste Weichenstellung für Rot-Rot-Grün. (www.linksjugend-solid-hamburg.de)
[6] Ausgabe vom 13.7.2011 (http://www.stefan-liebich.de/article/2564.pro-palaestinensisch-und-pro-israelisch-zugleich.html)
[7] Björn Hengst: „Linke zerstreitet sich mit Zentralrat der Juden“, Spiegel Online, 20.6.2011
[8] Z. B. im Alternativen Programmentwurf auf S. 14.
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