4. Die Kerneuropa-Modelle der deutschen Großmachtstrategen

Deutschland sieht sich selbst seit 1871als kommende europäische Vormacht. Daher sah und sieht es die Neuordnung Europas als seine „natürliche“, selbstverständliche Aufgabe. Also mussten entsprechende ideologische Konzeptionen und Strategien ihrer Umsetzung her. Sie griffen naturwüchsig feudal auf das römische Reich deutscher Nation zurück.

Zur Übersicht Teil 1

Mit der Selbsterhebung zum zweiten Deutschen Kaiserreich im besetzten Versailles posaunte Deutschland 1871 die gedachte und erhoffte feudale Kontinuität mit dem ersten Deutschen Kaiserreich der Ottonen, Staufer und Salier vor und nach 1000 u. Z. in alle Welt hinaus. Preußens Armee belagerte derweil Paris, kurz darauf die Pariser Kommune und bewachte als neukonstituierter Nationalstaat deren mörderische Niederschlagung durch die von Bismarck aus der Kriegsgefangenschaft losgelassene französische Armee.

Drei Varianten von Kerneuropa-Modellen[1] je nach akuter Staatsraison: 

Bei allen drei deutschen Anläufen zur Weltmacht ging und geht es aus deutscher Sicht um die entscheidende Zwischenetappe Kerneuropa auf dem Weg zur ersehnten (Vor-)Machtstellung in Europa und dann in der Welt. Die europäische Großraumwirtschaft ist grundlegender ökonomischer Bestandteil der Kerneuropa-Konzepte. Ebenso gilt die Kontinuitätslinie einer völkischen Reichskonzeption statt nationalstaatlicher Föderation als grundlegendes politisches Konzept des deutschen Europakurses. Deutschlands Großmachtstrategen kennen und arbeiten seit der Reichsgründung 1871 je nach historischer Machtkonstellation mit drei Modellen Kerneuropas.    

 

Kerneuropa-Modell I, das Westmodell

Das karolingische Europa Karls des Großen um 800 unserer Zeitrechnung

Ausdehnung: vom Atlantik bis zur Elbe, von Friesland bis Rom, von Barcelona bis Budapest; Strategische Dimensionen: der Schwerpunkt (Gravitationsachse) lag am Rhein; der Silberpfennig war die gemeinsame Währung; gemeinsame Amtssprache war Latein; es pflegte eine kluge Ostpolitik und beste Beziehungen zum Kalifen von Bagdad.

Dieses Kerneuropa-Modell I[2] wurde während der Bonner Republik[3] von Frankreich und Deutschland, BDI/DIHT, CDU, SPD/DGB, GRÜNEN favorisiert. Es umfasste notgedrungen die EWG-Staaten, da in Mittel-Ost-Süd-Europa der militärisch aufgerüstete kommunistische Erzfeind stand. Zudem war damals schon klar – was in der gegenwärtigen „Euro-Krise“ überdeutlich wird –, dass die dazugehörigen Nationalökonomien wenigstens vergleichsweise ähnlich weit ökonomisch entwickelt sind. Das Kerneuropa-Modell I setzt sich faktisch in abgewandelter Form durch und wird nach dem Scheitern des Ostblocks praxisgerecht moduliert durch nachfolgende Modelle.  

 

Kerneuropa-Modell II, das Mitteleuropamodell

Das Reich Otto I. 962, bis Staufer, Salier 1250

- Ausdehnung: Deutschland, Ostfrankreich (Burgund), Norditalien, Brügge bis Zagreb, später Krakau und Riga, Marseille bis Lübeck. Preußenkönig Friedrich II. sah sich in dieser Tradition, Wilhelm II. und Hitler ebenfalls, und auch heute werden Elemente dieser alten Achsenbildung genutzt. Als sich im Zuge der deutschen Wiedervereinigung 1990 die zuständigen westlichen Siegermächte bezüglich der neu-deutschen Souveränitätsvorstellungen zögerlich zeigten, zog die deutsche Diplomatie ungeniert drohend diese Karte der Abwendung vom Westen. Was die Achse Berlin – Paris als „Motor“ der EU-Integration in Frage stellte.[4]

 

Kerneuropa- Modell III,

deutsch-römisches Imperiumsmodell aus der Zeit der Paulskirche von 1848:

Variation des ottonisch-staufischen Modells[5]: den Kern bilden Österreich-Ungarn und Deutschland. Popularisiert wurde es – wie vorstehend charakterisiert – zwecks Kriegsziele-Propaganda vom damaligen Führer der Liberalen, dem Pfaffen Friedrich Naumann, 1915 in seiner Schrift: Mitteleuropa. Grundsätzlich formuliert hatte es schon 1841 – wie vorhin angeklungen – Friedrich List.

 

Wer nun denkt, die Reichsidee mit den Kerneuropa-Konzepten sei alter Tobak, sollte die einfühlsame deutsche Propagierung der Reichsidee mittels EU-gesponserten archäologischen Prunk-Ausstellungen zumindest wahrnehmen und ideologisch gewichten. Immerhin beförderte eine mittelintensive online-Suche unsererseits deren sieben zwischen 1996 und 2006 ans Tageslicht. Im Inhaltsverzeichnis des Katalogs der 2006 im Deutschen Historischem Museum Berlin gezeigten Protz-Ausstellung: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation 962-1806 Ausstellungsteil „Altes Reich und neue Staaten 1495–1806” findet sich beispielsweise folgender scheinbar harmlose Abschnitt:

"VIII. Sehnsucht nach dem Reich – „Des Reiches Herrlichkeit“

1. Wiederbelebung auf dem Wiener Kongress?

2. Reichsromantik, Denkmäler und Nationalbewegung: „Nach deutscher Art“

3. „Was geht das Reich uns heute an?“ - Das Reich als Modell?"[6]

 

Dass sich die Berliner Republik dabei unhinterfragt auch die österreichische Kaiserreichszeit propagandistisch unter den Nagel reißt, unterstreicht die scheinbar unausrottbare preußische Chuzpe. Offensichtlich versucht die staatliche Propagandaabteilung, den deutsch-zugerichteten Durchschnittsbürger in halb-feudalistischer völkischer Ideologie von der Gemeinschaftlichkeit, in der alle in einem Boot sitzen, gefangen zu halten. Daher wundert es nicht, dass Länder wie Frankreich und die Niederlande, wo der Durchschnittsbürger die moderne Nation freier Bürger lebt, denkt und empfindet, die Wanderausstellungen dankend ablehnten.

 

Wie vorstehend erwähnt und später ausgeführt wird, griff Deutschland bei seiner obrigkeitsstaatlichen Gründung als Nationalstaat 1871 ideologisch notgedrungen auf seine vermeintlich große Reichs-Geschichte zurück. Denn die Bourgeoisie hatte aus Angst vor dem aufkommenden proletarischen Feind nur eine feige bürgerliche Revolutionsepoche zustande gebracht, die keine hehren bürgerlichen Phrasen hergab. Autosuggestiv Kontinuität vorgaukelnd, nannte es sich in Anlehnung an das ottonische-stauffersche erste Kaisertum des römischen Reiches deutscher Nation zweites deutsches Kaiserreich. Teil dieser feudalen Auffassung vom Nationalstaat als Reich waren die unbestimmten Grenzziehungen jenes römischen Reiches deutscher Nation. Deutschland war im 19. Jahrhundert des feudalen Flickenteppichs da, wo deutsch gesprochen wurde. Und diese Art „Deutsch“ war der Bevölkerungszahl und Siedlungsgeschichte nach die entschieden größte Sprachgruppe, selbstüberhöhte „Kulturnation“ in Kontinentaleuropa. Schon daraus entsprang nach 1871 auf Grundlage des dynamisch wachsenden nationalen Gesamtkapitals ideologisch der behauptete Führungsanspruch und die „Verantwortung“ für die einigende Neuordnung von Europas Kleinstaaterei durch den Wilhelmismus.

 

Nachdem der erste militärische Neuordnungsversuch zur Schaffung einer europäischen Großraumwirtschaft als Zollunion 1914 bis 1918 scheiterte, machte sich der Mann mit dem Schnurbärtchen aus Österreich ans unausgegorene Werk, das Dritte deutsche Reich als völkisch geordnetes Pangermanisches Reich (nach dem Sieg über Frankreich 1940) und nach der Stalingrad-Wende 1941als Neues Europa[7] unter aktiver Beteiligung faschistischer Kollaborateure in den unterworfenen Ländern zu errichten und dann „natürlich“ die-ganze Welt zu beherrschen. Das Ganze geriet zum Desaster im historisch unvergleichlichen Maßstab.

 

Der 1991 offiziell ausgerufene Drang und Wille zur deutschen Weltmachtrolle auf Grundlage deutscher ökonomischer Vorherrschaft in der EU rief 20 Jahre lang den Widerspruch der EU-„Partner“ hervor, ohne dass der deutsche Michel was davon wissen wollte. In der jetzigen Phase der Staatsschuldenkrise versucht nun das Hauptgläubigerland BRD mittels fiskalpolitischer Instrumente die Neuordnung Europas Richtung Vereinigte Staaten von Europa (VSE) weiter zu treiben. Nach Herrn Kauder wird nun in Europa – endlich – deutsch gesprochen.

Wenn im Ausland zunehmend vom vierten Reich gesprochen wird, sei hier nochmals daran erinnert, dass der neue deutsche Erzengel Angela keineswegs nur mit Adolfs Schnurbart karikiert, sondern gerade in England mit der wilhelminischen Pickelhaube gekennzeichnet wird, weil dort die deutsche Außenpolitik nach 1989 – zurecht, wie sich herausstellen wird – als Wideraufnahme der Großmachtpolitik des Wilhelmismus begriffen wird, der Englands führende Weltmachtstellung nach 1900 zu brechen trachtete.

 

Die Bundeszentrale für politische Bildung führt folgende Definition: „Kerneuropa“ 

„Europapolitische Vorstellung, wonach eine Gruppe von Mitgliedstaaten innerhalb der Europäischen Union ("Kern") eine verstärkte Integration anstrebt, während andere, weniger integrationswillige Staaten eine weitreichende Zusammenarbeit z.B. in den Bereichen Währungs- oder Verteidigungspolitik ablehnen (dauerhaft abgestufte Integration)“.[8]

 

Die BpB folgt hiermit dem scheinbar unverfänglichen EU-Integrations-Konzept des Schäuble-Lamers-Papiers[9] der CDU/CSU-Fraktion vom 1. September 1994 – dem Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen –, das die ursprünglichen sechs EWG-Staaten als „Kern“ Europas fasste. Das Kerneuropa der EWG des Schäuble-Lamers Papier entspricht obigem karolinger´-schen Kerneuropa Modell I

 

Das grundlegende Verhältnis zu den EU-Partnern ist in jenem Papier diplomatisch verpackt zugleich implizit mit Blick auf die allen europäischen Ländern seit hundert Jahren[10] gegenwärtige Bedrohung durch Deutschland gefasst. Im Abschnitt „Deutschlands Interessen“ heißt es Eingangs:

„Deutschland hat aufgrund seiner geographischen Lage, seiner Größe und seiner Geschichte ein besonderes Interesse, ein Auseinanderdriften Europas zu verhindern, durch das es in seine alte Mittellage zurückversetzt würde. Diese Lage zwischen Ost und West hat es Deutschland in der Vergangenheit erschwert, seine innere Ordnung eindeutig auszurichten und eine dauerhaft stabile außenpolitische Balance zu errichten. Die Versuche, diese Lage im Zentrum aller europäischen Konflikte durch die Errichtung einer Hegemonie zu überwinden, scheiterten. Die militärische, politische und moralische Katastrophe 1945 als Folge des letzten dieser Versuche ließ Deutschland nicht nur erkennen, daß seine Kräfte hierzu nicht ausreichen, sie führte vor allem zu der Überzeugung, daß Sicherheit nur durch eine grundlegende Änderung des europäischen Staatensystems gewonnen werden kann, in dem Hegemonie weder möglich noch erstrebenswert erscheint. Diese Überzeugung ist zur Maxime deutscher Politik geworden. So konnte im Westen das Problem "Sicherheit vor Deutschland" durch "Sicherheit mit Deutschland" gelöst werden. Dieses neue System verband also die Kontrolle Deutschlands durch seine Partner mit der Kontrolle der Partner durch Deutschland.“[11]

 

Diese Sprachregelung kommt schon näher an den „Kern“ von Kohls drohendem Raunen, dass das Gelingen der Einigung Europas über Krieg und Frieden in Europa entscheidet. Da mag Herr Schäuble noch so sehr suggerieren: gerade die letzte militärische Niederlage „ließ Deutschland … erkennen“, dass es sich überschätzt hatte. Denn: überschätzt sich die BRD des gegenwärtigen Finanzminister-Dompteurs der EU als scheinbar unverwundbarer ökonomischer Hegemon nicht schon wieder?

 

Im Hinblick auf die deutschen Interessen einer EU-Osterweiterung drohte das Papier schon mal klar mit dem deutschen Sonderweg eines Kerneuropa-Modells III, wenn die West-„Partner“ die deutschen Vorstellungen der EU-Integration der MOE-Staaten blockieren sollten:

„Ein stabilitätsgefährdendes Vakuum, ein Zwischen-Europa darf es nicht wieder geben. Ohne eine solche Weiterentwicklung der (west-)europäischen Integration könnte Deutschland aufgefordert werden oder aus eigenen Sicherheitszwängen versucht sein, die Stabilisierung des östlichen Europa alleine und in der traditionellen Weise zu bewerkstelligen. Das aber würde seine Kräfte bei weitem überfordern und zugleich zu einer Erosion des Zusammenhalts der Europäischen Union führen, zumal die geschichtliche Erinnerung daran, daß die Ostpolitik Deutschlands in der Geschichte im wesentlichen im Zusammenwirken mit Rußland auf Kosten der dazwischen liegenden Länder bestand, noch allenthalben lebendig ist..“[12]

 

Hier wird in „traditioneller Weise[13]“ mit dem großpreußischen Zaunpfahl des Kerneuropa-Modells III gewunken und mit einem deutschen Sonderweg in Abwendung vom Westen gedroht. Selbst wenn Schäuble mit dem Eingeständnis der begrenzten deutschen Kräfte kokettiert: Das Kohl´sche Rätsel vom potentiellen Krieg und gefährdeten Frieden in Europa wird hierbei ein weiteres Stück weit gelüftet.

 

Das Schäuble-Lamers-Papier forderte zur Stabilisierung der EU im Zuge der angestrebten Osterweiterung eine tiefere Integration bis hin zu einer, dem französischen Sprachgebrauch geläufigen „Föderation“: Zugleich wird entsprechend der deutschen Vorstellung tiefstapelnd von einer „politischen Union“ gesprochen, vorangetrieben unter dem Slogan „Den festen Kern festigen“, in der die „Währungsunion den harte(n) Kern der politischen Union“[14] bilde. 

Die „Härte“ des währungspolitischen Kerns bekommen die EU-“Partner“ Deutschlands seit 2011 zu spüren. Die Staatsschuldenkrise erweist sich als deutscher Hebel zur fiskalpolitischen Union als erhofftem Zwischenschritt zur vollständigen politischen Union.

 

 

Mit der unverhohlenen Geste des geschichtlichen Siegers (von 1989), der z.B. bezüglich Mittel-Ost-Europa auch anders kann, fordert das Papier seinen Juniorpartner Frankreich zu diesen Schritten auf und noch dreister, dazu, sich ausgerechnet in der Außen- und Sicherheitspolitik mit Deutschland „eng“ abzusprechen[15] – gerade mal zwei Jahre nach dem Alleingang Deutschlands in der Frage der Anerkennung Kroatiens. Seither wird das deutsche Mantra „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ von jedem unwilligen EU-„Nachzügler“ als Drohung des preußischen Dorfschulmeisters verstanden, notfalls den erzwungenen EU-Kanon mit dem Rohrstock des Musterschülers eingebläut zu bekommen. Jedenfalls sollen die Unwilligen und Nachzügler bezüglich des Vorrückens der EU-Front ohne Vetorecht bleiben.

 

Was im Schäuble-Lamers-Papier so harmlos als gewährleistete gegenseitige politische Kontrolle alter Kriegsgegner jenseits jeden Hegemonie-Anspruchs daherkommt, war tatsächlich schon spätestens mit der „Wiedervereinigung“ Deutschlands 1989 von der ökonomischen Führung Deutschlands in dessen politische Hegemonie in Europa umgeschlagen.

 

Mit der faktischen Annexion/Anschluss der DDR durch die BRD eröffnete sich zugleich ein Machtvakuum in Mittel- und Osteuropa, das dem nationalen Gesamtkapital Deutschlands praktisch regelrechte Sonderwirtschaftszonen vor der Haustür bescherte. Die deutsche Politik setzte alle Hebel in Bewegung, die devisenlosen vormaligen staatsmonopolistischen RWG-Länder an die EU zu binden. Deutschland rückte von seiner EWG-Randlage vor 1989 geopolitisch wieder ins Zentrum Europas und konnte darangehen, das bis 1989 existierende Kerneuropa-Modell I mit den Kerneuropa-Modellen II und III nach Gusto zu modifizieren. Frankreich verlor seine hervorragende politische EWG-Stellung endgültig an Deutschland.

Die BRD nutzte das Machtvakuum auf dem Balkan als Probeterrain ihrer völkischen Separationspolitik und gewann mit der Anerkennung Kroatiens und Sloweniens die Vorherrschaft auf dem Balkan als ihren von ihr als „natürlich“ angesehenen Hinterhof. Gleichzeitig wurde der EU-„Anschluss“ Österreichs, Schwedens, Finnlands und Norwegens für 1995 angepeilt. In Westeuropa ging die Angst vor einer Pangermanisierung[16] Europas um und erinnert sei an Maggi Thatchers Akzentsetzung von Ende 1993, wer sich worin verankern wolle.

 

Die Außenpolitik der BRD von 1989 bis zu den Maastricht-Verträgen 1992 war ein Blitzkrieg, der Deutschland einen großen machtstrategischen Sprung nach vorne brachte, einschließlich des ersten Anstinkens 1991 gegen die Hegemonialmacht USA im Golfkrieg II.

Die USA sahen sich gezwungen, Deutschlands Hegemonie in Europa anzuerkennen. Sie machte der BRD schon im Mai 1989 das Angebot der „Partners in Leadership“. Das war zugleich der politische US-amerikanische Einbindungsversuch der neuen unberechenbaren Mittelmacht in Kontinentaleuropa. Seither fordert die USA die BRD auf, machtpolitische Verantwortung zu übernehmen – selbstverständlich unter ihrer Führung. Damit wendete sich die USA von der 45 jährigen europäischen „Special Relationship“ mit Großbritannien ab. Hierauf wird später im Zusammenhang mit der den Ausführungen zur Außenpolitik der Berliner Republik nach 1990 zurückgekommen.

 

Dass der deutsche Michel von all diesen Schritten nichts wissen wollte, sondern die von Kohl verkündete Weltmachtrolle mit einem dreigliedrigen Initiations-Ritus zur neuen deutschen Volksgemeinschaft nach Innen flankierte, wird später verhandelt. Im Abschlusskapitel des vorliegenden Teil I der Arbeit werden diese deutschen Hasardeur-Schritte der Außenpolitik der „freien Hand“ der Berliner Republik nach 1990 auf dem Weltparkett zum großen Teil skizziert.

 

In Teil II der Gesamtarbeit wird der Arbeitshypothese nachgegangen, dass und wie Deutschland seit Beginn der Europäischen-Wirtschafts-Gemeinschaft (EWG) 1957 

  • den Kurs einer am gerne zitierten Souverän vorbei obrigkeitsstaatlich organisierten tiefen Integration der europäischen Länder oder ihres „Kerns“ zu einem europäischen Bundestaat mit eigenmächtigen supranationalen Organen und eigener Bundesverfassung 
  •  gegen eine demokratisch legitimierte Föderation souveräner Nationalstaaten als politische Gleichen unter Gleichen, ebenfalls mit einer eigenen Verfassung, nach französischem Konzept
  • sowie gegen britische Vorstellungen eines europäischen Staatenbundes zwecks ausgebauter Freihandelszone

Schritt für Schritt durchsetzte.

 

Die ökonomischen, politischen und ideologischen Kontinuitäten und Diskontinuitäten der zwei ersten und des dritten Anlaufs Deutschlands zur Neuordnung Europas werden dort genauer beleuchtet.[17]

 

Zugleich wird dort die theoretische Anstrengung unternommen, das empirische Material als Beleg für die Unmöglichkeit eines friedlichen Gelingens von kapitalistischen Vereinigten Staaten von Europa (VSE) auf den Begriff zu bringen. Als Grund hierfür wird die sich verschärfende Konkurrenz der nationalen Gesamtkapitale auf dem Weltmarkt und die dadurch bedingten gegensätzlichen Politiken der Nationalstaaten innerhalb der EU inhaltlich ausgeführt. Gelingen kann anstatt erhoffter VSE nach deutschem Fasson höchstens die Zwangsgemeinschaft-der-Vasallen-Deutschlands-in-Europa (ZVDE).

Die ZVDE wäre das Resultat einer fortwährende Zerrüttung der nationalen Gesamtkapitale der EU-„Partner“-Staaten bis hin zu ihrer Unterwerfung unter, Zurichtung durch und Integration in das nationale Gesamtkapital Deutschlands, gipfelnd im entsprechendem politischen Kotau der „Partner“ in Form ihres quasi „kalten Anschlusses“ an Deutsch-EURO-land.

Seit 2011 lässt sich diese Zerrüttung und Unterwerfung beispielsweise im zentralen industriellen Produktionszweig des Automobilbaus beobachten. Die französische und italienische Konkurrenz wird durch die deutschen Autobauer vernichtend niederkonkurriert. Insbesondere der aufgeblühte Wagen des deutschen Volkes mit seinen ein Dutzend eingesackten europäischen Marken walzt die Massenproduzenten Italiens und Frankreichs platt. Auf den Zeitpunkt des Einsatzes nationaler protektionistischer Maßnahmen der unterlegenen Nationen wird gespannt gewartet. Es sei denn, die Situation ist schon so verfahren, dass Frankreich und Italien in einem ihrer zentralen Industriezweige die Waffen vorzeitig strecken. Was wohl kaum ohne politische Friktionen über die Bühne gehen dürfte.

 

Übrigens legt schon eine skizzenhafte Analyse des deutschen Wegs zur politischen Vormacht in der EU den Schluss nahe, dass spätestens der deutsche Druck zur Gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU (GASVP) den Wendepunkt hin zum deutschen Absturz vom jetzigen hegemonialen Zenit Deutschlands über die EU markieren – falls die zwanghafte Aufrechterhaltung einer Euro-Währungsunion stark ungleichmäßig entwickelter Mitgliedsstaaten[18] nicht schon der Sargnagel der EU-Hegemonie der BRD ist. Der Gesamttext ist so fokussiert, dass in Teil III Schlüsse für die anstehenden Aufgaben einer Emanzipationsbewegung des Proletariats in Deutschland gezogen werden können.

 

Die dritte abenteuerliche Runde des Kampfes um eine ökonomische und poltische Weltmachtstellung Deutschlands, diesmal als deutsches Euro-Spiel, ist inzwischen in das „Endkampfstadium“ getreten, wiederum ohne Aussicht auf den „Endsieg“. Der derzeitige deutsche Michel ist ein Musterexemplar dafür, wie die propagierte nationale Ideologie die Individuen soweit im Griff hat, dass sie die ernste internationale Konfrontation mit Deutschland als objektivem ökonomischen und politischen Aggressor der Gegenwart nicht wahrzunehmen im Stande sind, obwohl die ausländische Presse jetzt in der sogenannten Euro-Krise aus allen Rohren gegen Berlin feuert. Wie stets in der deutschen Geschichte versteht sich „der“ Deutsche als „Volk“ wieder einmal als Opfer der anderen.

 

Notfalls wird Deutschland in einer scharfen Weltwirtschaftskrise eine Kerneuropa-EURO-Zone der Staaten ähnlich hoher Produktivität heraus treiben müssen[19] und dabei Länder wie Griechenland, Zypern, Malta, Portugal, Irland, Slowakei aus der Euro-Zone drängen sowie die Sezession von Padania (Norditalien), Südtirol, Katalonien und Baskenland sowie Flandern protegieren wird. Diese Sezessionsstaaten zusammen mit Österreich, Deutschland, den Niederlanden, Luxemburg und politisch notgedrungen Frankreich und Restbelgien (Wallonien) entspräche dann Kerneuropa-Modell I plus. Oder die BRD versucht gar, wenn es ökonomisch noch härter kommt, unter Ausschluss Frankreichs, Spaniens, Italiens und Walloniens eine Euro-Nord-Zone mit Österreich, Flandern, Niederlande, Deutschland und willigen skandinavischen Ländern ein Pan-Germanisches Reich zu errichten. Ob bei solchen Szenarien der EU-Binnenmarkt unbeschadet weiter funktionieren würde, ist mehr als fraglich.

 

Ansonsten droht Deutschland beim Zerbrechen der Euro-Gemeinschaftswährung und Instabilität des EU-Binnenmarktes mit der Wiedereinführung der D-Mark als der „natürlichen“ nationalen Währung ein nicht zu unterschätzender politisch-ökonomischer Absturz am Weltmarkt. Und den anderen Nationalstaaten Europas erst recht.

 

Mit dem faktischen Zerfall des deutschen Kerneuropas wäre der geschichtlich dritte Anlauf Deutschlands zur Neuordnung Europas als arbeitsteiliger Großraumwirtschaft ad acta gelegt. Ob dies ohne Krawall oder Schlimmeres über die Bühne gehen kann? 

Luxembourgs Chef Juncker, der als alter Haudegen der EU-Ära Einblicke hinter die Kulissen hat, malte sicherlich im März 2013 nicht nur aus wahltaktischen Gründen schon mal den Teufel an die Wand. Er verknüpfte die Zukunft der Eurozone mit der Frage von Krieg und Frieden in Europa. Demnach schlafen die Dämonen nur. Die von Herrn Kohl ins Spiel gebrachten Geister der Vergangenheit Europas sind nicht durch politische Beschwörungen zu bändigen, solange sie ökonomisch durch die nationalen Gesamtkapitale im Kampf um den kapitalistischen Weltmarkt stetig reanimiert werden. Immerhin ist der Versuch der „friedlichen“ europäischen Integration bis zu den VSE ein geschichtliches supranationales Projekt zuvor unbekannter politischer Qualität und unberechenbaren Ausgangs.

 



[1]     Kurz und bündig zur zentralen Stellung der Kerneuropa-Modelle in der deutschen Außenpolitik vor allem nach 1989, siehe: Wolfgang Michal, Deutschland und der nächste Krieg, Berlin 1995, S. 41 ff. Michal warnte schon 1995 vor der aufgekommenen deutschen Großmachtpolitik. Gut bürgerlich verfolgt er die Ideengeschichte eher verknüpfend mit nietzscheanischem Willen zur Macht und vermag die ökonomischen Triebkräfte der deutschen Weltmachtpolitik nach 1989 nicht zu fassen.

Massenhaft Dokumente zu deutschen Europastrategien, siehe: Reinhard Opitz (1994): Die Europastrategien des deutschen Kapitals 1900 bis 1945.

Anzumerken ist, dass die Dokumentensammlung die Kontinuität der deutschen Neuordnungspläne Europas bis 1945 reduktionistisch aus den ideologischen Versatzstücken der Partikularinteressen der Kapitalfraktionen herleitet, ohne empirischen Bezug auf den konkreten Entwicklungsstand des deutschen nationalen Gesamtkapitals und dessen historisch-spezifischen Ausprägungen des deutschen Staats und dessen Politiken in diesem Zeitraum.     

 

[2]     Die Staaten dieses unhinterfragten wirtschaftsgeographischen Raums waren auch der Adressat einiger idealistischer westeuropäischer Europa-Bewegungen nach 1945 – gerade auch aus den westlichen kommunistischen Widerstandsbewegungen gegen Nazideutschland. So z.B. der 1946 gegründeten Union Europäischer Föderalisten als europaweiter Zusammenschluss verschiedener nationaler Vereine mit dem Ideal eines europäischen Bundesstaates. Die UEL ist wie 30 andere Organisationen Mitglied der 1948 auf dem „Europa-Kongress“ in Brüssel gegründeten Europäischen Bewegung (EB). Dieser Zusammenschluss propagiert eine demokratisch legitimierte Föderation der europäischen Nationalstaaten zu einem Bundesstaat. Es sei auf die Kontinuitätslinie insbesondere der SPD hingewiesen, die 1926 die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa als Ziel in ihr Parteiprogramm einbauten. Dies geschah unter dem Eindruck der Versöhnung Deutschlands mit Frankreich nach der Konferenz von Locarno 1925, dem Beitritt Deutschlands zum Völkerbund 1926 und der Vergabe des Friedensnobelpreises 1926 (sic!) an den Initiator Stresemann und den französischen Protagonisten Briand. Hierauf wird später bei theoretischen Fragen zur Möglichkeit und Grenzen kapitalistischer VSE noch zurückgekommen.

 

[3]     Das widerspricht nicht der Tatsache, dass die westlichen Siegermächte der BRD die Westintegration aufzwangen und der außenpolitische Handlungsspielraum der BRD nach 1949 bis zum Deutschlandvertrag 1955 von den Westalliierten sehr eingeengt war. Die BRD musste Vorleistungen zur Westintegration erbringen, um schrittweise innen- und außenpolitische Souveränität zu erlangen: Anerkennung der Vor- und Nachkriegsschulden, Beitritt zum Europarat, Gemeinsame Kohle- und Stahlunion, Europäische Verteidigungs Gemeinschaftg (EVG) und dann NATO. Siehe sämtliche Beiträge, insbesondere Ludolf Herbst, Stil und Handlungsräume westdeutscher Integrationspolitik, in: Herbst, Ludolf, Bührer, Werner, Sowade, Hanno (1990): Vom Marschall Plan zur EWG. Die Eingliederung der Bundesrepublik in die westliche Welt, R. Oldenbourg Verlag München; Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Herausgegeben vom Institut für Zeitgeschichte, Band 30

 

[4]     Siehe nachfolgend zum Schäuble-Lamers-Papier von 1994.

 

[5]     Sachse, Carola (Hrsg.) (2009): Mitteleuropa« und »Südosteuropa« als Planungsraum - Wirtschafts- und kulturpolitische Expertisen im Zeitalter der Weltkriege, Wallstein Verlag Göttingen

 

 

[6]     aus: Historische Ausstellungen zur Propagierung der germano-zentrischen REICHsidee         http://www.mxks.de//files/nation/GermEU.pdf

Siehe dazu auch die dortige Endnote 18:

„Newsletter vom 29.08.2006 – Überstaatliche Ordnung

BERLIN/MAGDEBURG/WEIMAR (Eigener Bericht) - Das europaweite deutsche Reich mittelalterlichen Zuschnitts kann als Modell für den Zusammenschluss der heutigen EU- Staaten gelten. Dies erklärt der Berliner Staatsminister für Kultur, Bernd Neumann. Demnach offenbare erst die Erinnerung an das Heilige Römische Reich deutscher Nation die "innere, historische Folgerichtigkeit" von Gründung und stetiger Erweiterung der EU. Die Äußerungen bereiten die Berliner Feiern zum 50. Jahrestag der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) vor, zu denen Bundeskanzlerin Merkel den deutschen Papst Joseph Ratzinger eingeladen hat. Ratzinger ist engagierter Befürworter der "Reichsidee" und soll in der deutschen Hauptstadt über die "geistigen Grundlagen" Europas sprechen. Die Regierungsoffensive zur Revitalisierung der Reichsidee unterstreicht den deutschen Führungsanspruch in der EU und bestätigt Befürchtungen in Frankreich, Großbritannien und fast sämtlichen Staaten Osteuropas. Teile der deutschen Eliten warnen vor einer allzu offenen deutschen Hegemonialpolitik.“       Mehr:

http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/56480 

 

[7]     Grunert, Robert, (2012): Autoritärer Staatenbund oder nationalsozialistischer Großraum? „Europa“ in der Ideenwelt faschistischer Bewegungen, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 9 (2012), H. 3, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Grunert-3-2012

 

 

[8]     http://www.bpb.de/wissen/NNQWQD nach: Quelle: Zandonella, Bruno: Pocket Europa. EU-Begriffe und Länderdaten. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2005, 2009 aktualisiert.

 

[9]     Schäuble/Lamers-Papier: Überlegungen zur europäischen Politik http://www.cducsu.de/upload/schaeublelamers94.pdf (1994)

 

[10]        Vanessa Conze, Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920–1970), München 2005, S. 211-218, S. 232-242.

 

[11]       Schäuble/Lamers-Papier: Überlegungen zur europäischen Politik http://www.cducsu.de/upload/schaeublelamers94.pdf (1994) Seite 2

 

[12]       Ebenda, Seite 3

 

[13]       Zur Frage der Kontinuität in der Mittel-Süd-Ost-Europa-Politik wäre zurückzugreifen auf: Jürgen Elvert, Mitteleuropa! Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung (1918–1945), Stuttgart 1999, S. 21-26.

 

[14]       Schäuble/Lamers-Papier: Überlegungen zur europäischen Politik http://www.cducsu.de/upload/schaeublelamers94.pdf (1994)

 

[15]       Da sich die EU-„Partner“ gerade in diesen Fragen bis heute den deutschen Interessen verweigern, rief der jetzige Gaukler von Schlösschen B. in seiner „Grundsatzrede“ zu Europas Zukunft im Februar 2013 geradezu nach „Bannerträgern“ statt „Bedenkenträgern“ zur Durchsetzung dieser urdeutschen Forderungen an die EU-„Partner“. Die „Visionen“ des Bundespräsidenten waren nur der pastorale Neuaufguss solcher deutschen politischen Papiere wie der Herren Schäuble/Lamers oder der Dr. h.c. Fischer „Grundsatzrede“ zu Europa 2000: Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der europäischen Integration.

 

[16]      Außenpolitik - Angst vorm Koloß 09.08.1993 http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13691248.html

 

[17]       Siehe beispielsweise die Beiträge in: Thomas, Sandkühler Hg. (2002): Europäische Integration. Deutsche Hegemonialpolitik gegenüber Westeuropa 1920 – 1960, Wallstein Verlag Göttingen; Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, Band 18

 

[18]       Reflexionen über den unterschiedlichen Entwicklungsgrad der nationalen Gesamtkapitale siehe: c. leveler, Beitrag zur Diskussion über die tendenzielle Entwicklung der nationalen Gesamtkapitale ( Frühjahr/Herbst 2006 ) http://www.mxks.de//files/ag/global06n.html Empirische Annäherung an die Entwicklungstendenzen der nationalen Gesamtkapitale. In kritischer Auseinandersetzung mit den theoretischen Anstrengungen von Guenther Sandleben: Nationalökonomie und Staat (VSA-Verlag 2003). 

 

[19]     Kosma Poli & Lee Tan, Über die ungleichmäßigen Entwicklungstendenzen der nationalen Gesamtkapitale in Europa und die Niedergangsphase der Nationalstaaten (09/2007) pdf

Die ökonomische Skizzierung der EU-Staaten legt den Schluss nahe, dass die entwickelten Nationalstaaten in ihre Zerfallsperiode übergehen.

http://www.mxks.de//files/nation/UngleichmaessigeEntwicklung.pdf

 

Und so sehen laut gfp die Krisenszenarien für die EU nach Analysen aus der Friedrich-Ebert Stiftung aus:

 

"Die Perspektiven der Krise 20.03.2013 BERLIN

 

(Eigener Bericht) - In einer aktuellen Analyse entwickelt die Friedrich-Ebert-Stiftung (SPD) vier mögliche Szenarien für die künftige Entwicklung der EU unter dem Druck der Euro-Krise. Wie die Stiftung berichtet, hat sie letztes Jahr in einer Serie von Konferenzen in diversen europäischen Ländern ausgelotet, wie sich die Krise auf den Staatenbund auswirken könne. Das Resultat liegt in der nun publizierten Analyse vor. Demnach sei die Verdichtung der EU zu einer politischen Union "wünschenswert", aber nicht wahrscheinlich; eher sei mit der Bildung eines kleineren Zusammenschlusses um das deutsche Zentrum herum zu rechnen ("Kerneuropa"), bei gleichzeitigem Fortbestand der EU in Gestalt einer Art größerer Freihandelszone. In letzterem Fall sei ebenso mit einer dramatischen Verelendung der EU-Peripherie zu rechnen wie bei einem möglichen Totalzusammenbruch der Eurozone. Dieser wiederum habe das Potenzial, die Feindseligkeiten zwischen den verschiedenen Regionen der EU, etwa zwischen Nord und Süd, auf neue Eskalationsstufen zu treiben. Die Ebert-Stiftung ruft in Erinnerung, dass der Zerfall staatlicher Bündnisse durchaus gewaltförmig enden kann: Man müsse diese Gefahr "ernst nehmen", warnt sie mit ausdrücklichem Verweis auf das ehemalige Jugoslawien.

 

Furcht vor Deutschlands Stärke

 

Die neue Analyse der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung basiert auf zahlreichen Workshops und Diskussionsveranstaltungen, die im vergangenen Jahr in mehreren europäischen Staaten durchgeführt wurden. Thema war jeweils die Entwicklung der EU unter dem Druck der Krise. Wie die Stiftung schreibt, kristallisierten sich dabei insbesondere vier Szenarien heraus, die die Analyse nun der Öffentlichkeit zugänglich macht. Zusammenfassend heißt es, ganz allgemein sei "ein Bewusstsein für Deutschlands Stärke" im Rahmen der EU spürbar gewesen - ja sogar, "wenn auch unausgesprochen, eine Furcht" vor Berlin.[1] Diese habe alle vier Entwicklungsszenarien für die EU gleichermaßen überlagert.

 

Durchwursteln

 

Das erste Szenario, das die Ebert-Stiftung beschreibt, bezeichnet sie als "Durchwursteln". In ihm werde die aktuelle Krisenpolitik im Wesentlichen weitergeführt. Regelmäßig gebe es neue Spardiktate, allenfalls leicht gemildert durch eine vorsichtige Wachstumspolitik. Die Krisenstaaten der südlichen Eurozone müssten weiterhin mit "Rettungspaketen" gestützt werden; es komme in diesen Ländern aufgrund von Massenarbeitslosigkeit und Verelendung immer wieder zu Armutsunruhen. Weltpolitisch sei die EU durch die fortdauernde Krise empfindlich geschwächt, in ihrem Inneren setzten "Wanderungsströme" aus dem perspektivlosen Süden in die Wohlstandszentren ein - eine Entwicklung, die Berlin inzwischen antizipiert und mit der Forderung zu konterkarieren sucht, "Wiedereinreisesperren" zu verhängen (german-foreign-policy.com berichtete [2]). Wie die Ebert-Stiftung schreibt, gehe kaum jemand davon aus, dass "Durchwursteln" auf Dauer möglich sei; man müsse vielmehr mit größeren Unruhen in den Krisenstaaten rechnen, die zum Politikwechsel zwängen. Hinzu kommt, dass einflussreiche Kreise in Deutschland immer stärker darauf drängen, das Euro-Experiment zu beenden, weil es Berlin zu teuer zu stehen komme und man im globalen Machtstreben über nationale Alternativen verfüge.[3] Für April ist die offizielle Gründung einer deutschen Anti-Euro-Partei angekündigt, die dieser Überlegung Rechnung tragen soll.

 

Politische Union

 

Als Erfolgsszenario wertet die Ebert-Stiftung dasjenige Szenario, in dem der Sprung in die vollständige Fiskalunion gelingt. Dabei würden sämtliche relevanten Kompetenzen an Brüssel übertragen, das eine weitgehende Vereinheitlichung der europäischen Wirtschaftspolitik vornehme. Dazu gehörten die Angleichung der Steuersätze und die Harmonisierung der Sozialleistungen - sowie schließlich die Einführung einer umfassenden "politischen Union". Die Ebert-Stiftung räumt ein, dass dieses Szenario kaum eintreffen wird, weil ihm starke nationale Interessen entgegenstehen - nicht zuletzt übrigens das deutsche Interesse, eine Umverteilung eines Teils des nationalen Wohlstands in die Krisenstaaten Südeuropas ebenso zu verhindern wie die Aufgabe zentraler Souveränitätsrechte, die die dauerhafte deutsche Vormachtstellung gefährden könnte. Allerdings könne eine weitgehend vereinheitlichte EU darauf hoffen, urteilt die Stiftung, im Weltmaßstab deutlich stärkeren Einfluss zu erlangen: Ihr Euro würde zunehmend zur globalen Referenzwährung werden und finanzielle Ressourcen aus aller Welt anziehen können.

 

Kerneuropa

 

Größere Wahrscheinlichkeit kommt der Ebert-Stiftung zufolge jedoch dem "Kerneuropa"-Szenario zu. Die Staaten des europäischen Zentrums, die der Krise bislang am erfolgreichsten widerständen, könnten sich demnach enger zusammenschließen, ohne die EU zu verlassen. Es entstünde ein Kern aus wohlhabenden Ländern, die die Fiskalunion vollendeten und sich auf eine politische Union hin bewegten, schreibt die Ebert-Stiftung; damit verliere jedoch die - "Kerneuropa" weiterhin überspannende - EU an Bedeutung und entwickle sich zu einer Art riesigen Freihandelszone. In diese könnten dann zwar auch Länder wie die Türkei integriert werden, doch sei klar, dass ein wachsendes Wohlstandsgefälle zwischen "Kerneuropa" und der Peripherie für Spannungen sorge: Während in "Kerneuropa" ein gewisser Reichtum erhalten bleibe, drohe einigen Ländern der Peripherie ein "ökonomisches Desaster". Die Ebert-Stiftung weist darauf hin, dass dieses Szenario einen "potenziell nicht-demokratischen" Charakter trage: Die maßgeblichen Entscheidungen würden in "Kerneuropa" getroffen, auch wenn sie die gesamte fortbestehende EU in hohem Maße beträfen. Die Staaten der Peripherie würden also de facto vom deutsch dominierten "Kern" aus regiert. Abgesehen davon bestünden Zweifel, heißt es bei der Stiftung weiter, ob nicht mit schweren Unruhen an der Peripherie und deswegen mit einem Auseinanderbrechen der Eurozone oder gar der EU zu rechnen sei.

 

Disintegration

 

Ein Auseinanderbrechen zumindest der Eurozone gilt der Ebert-Stiftung als viertes Szenario, das in Betracht gezogen werden muss. Gelinge es nicht, die Krise zumindest per "Durchwursteln" einzugrenzen, dann sei mit der Aufspaltung der gemeinsamen Währung zu rechnen, heißt es. Dabei könne um Deutschland herum ein Block mit einer neuen Gemeinschaftswährung entstehen - ein "Nord-Euro" wird in der Tat bereits diskutiert -, während vor allem die Krisenstaaten im Süden zu Drachme, Lira und Peseten zurückkehren müssten. Der Zusammenhalt der EU erodiere, protektionistische Maßnahmen stellten selbst den Freihandel in Frage; im Süden drohe "eine tiefe Rezession einige Regionen zu verwüsten", was zu Massenauswanderung führen könne. "Feindseligkeiten zwischen europäischen Regionen", zum Beispiel "zwischen Süden und Norden", aber auch "zwischen Ländern" könnten stark zunehmen, gründend auch auf alten nationalistischen Stereotypen. Die "Disintegration der EU" scheine in diesem Fall geradezu unvermeidlich. Dabei sei die Frage, heißt es bei der Ebert-Stiftung, ob sich die "Disintegration" nach sowjetischem oder nach jugoslawischem Vorbild vollziehe - also als eine weitgehend friedliche Auflösung wie im Falle der Sowjetunion 1991 oder als kriegerischer Zerfall wie zur selben Zeit in Jugoslawien. Die Möglichkeit, dass Letzteres eintrete, müsse "ernst genommen" werden, urteilt die Stiftung.

 

Das Mezzogiorno-Syndrom

 

Sollte das Zerfalls-Szenario eintreten, rechnet die Ebert-Stiftung mit dem Zusammenschluss einiger Staaten nach "kerneuropäischem" Modell um das deutsche Zentrum herum. Die Stiftung hält zudem ein "Mezzogiorno-Syndrom" für denkbar. Demnach könnten sich von den verarmenden südlichen Ländern einige wohlhabende Regionen abspalten, um dem wirtschaftlichen Absturz zu entgehen. Das gelte beispielsweise für Katalonien und für Norditalien. Tatsächlich treiben separatistische Kräfte die Abspaltung dieser Regionen derzeit mit aller Macht voran, zumindest partiell unterstützt von Deutschland (german-foreign-policy.com berichtete [4]). Schlössen sich die - wenigen - wohlhabenden Regionen des europäischen Südens einem deutsch beherrschten Kerneuropa an, dann könnte es Berlin gelingen, aus der Konkursmasse einer zerfallenden EU das Maximum an ökonomischer und politischer Macht für sich zu retten [5] - eine Variante, die lange Zeit als wenig wahrscheinlich galt, inzwischen aber selbst von Vorfeldorganisationen der deutschen Außenpolitik wie der Friedrich-Ebert-Stiftung nicht mehr ausgeschlossen wird."

 

[1] Zitate hier und im Folgenden aus: Friedrich Ebert Stiftung: Future Scenarios for the Eurozone. 15 Perspectives on the Euro Crisis, March 2013
[2] s. dazu Das Ende der Freizügigkeit
[3] s. dazu Die deutsche Transferunion und Nicht mehr lange im selben Club
[4] s. dazu Der Zentralstaat als Minusgeschäft und Der Zentralstaat als Minusgeschäft (II)
[5] s. dazu Wirtschaftskulturen

http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58566

 

 

 

[→ Zur Übersicht Teil 1]

Nicht seine Kritik der politischen Ökonomie lieferte Marx den Schluss auf jenes „revolutio-näre Subjekt“ namens „Prole-tariat“ – herleiten lässt sich aus ihr nichts dergleichen –, son-dern genau andersherum be-gründete die schiere Evidenz des Daseins und Wirkens die-ses Subjekts allererst eine Kritik der politischen Ökonomie, die das Kapital als „Durchgang“ hin zur menschlichen Gesellschaft diagnostiziert. Striche man da-gegen aus der Marxschen Di-agnose dieses einzige wahrhaft historisch-subjek­tive Moment darin aus, bliebe von ihr nur das Attest eines unaufhaltsa-men Verhängnisses.(*)

Wertkritischer Exorzismus
Hässlicher Deutscher
Finanzmarktkrise