11.3. Einwurf über den Verlust des angestammten inneren Feindes Nummer zwei, des Juden

Die Rolle des zweiten inneren Feindes hatten bis 1945 unangefochten die Juden eingenommen. In der Shoah entledigte sich die deutsche Volksgemeinschaft gründlich ein für allemal dieses ihres vermeintlichen Unglücks.

Trotzdem blieb der Antisemitismus auch ohne jüdische Mitbürger nach 1945 in der BRD manifest – selbstverständlich nicht von Seiten der offiziellen Politik und des Staatsapparats. Dies belegen so manche Beispiele wie die fünfjährige Farce Anfang der 1970er um die Namensgebung der Heinrich Heine Universität Düsseldorf.[1]

Vor, während und nach dem 2. Weltkrieg hatte seinerseits der Zionismus[2] als Ideologie der jüdischen Befreiungsbewegung seine praktische politische Tauglichkeit bewiesen. Er erreichte mit der Gründung des Staates Israel nach fünfzig Jahren sein Ziel. Dabei war die Todesangst der dem Furor Teutonicus entkommenen Überlebenden der Shoah die unaufhaltbare, entscheidende Kraft dieser Staatsgründung. Denn ihre Einwanderung nach Palästina/britisches Mandat war getrieben vom unbedingten Überlebenswillen. Sie eröffnete die Aussicht, aus eigener Anstrengung die Negation als Mitglieder der menschlichen Gattung – welche die im Rassenwahn regressiv geeinte "Kulturnation" Deutschland dem europäischen Judentum individuell wie kollektiv zuwies und eliminatorisch vollstreckte – in der Staatsgründung durch die eigene Tat aufzuheben.

Die BRD konnte nicht umhin, Israel 1952 im Luxemburger Abkommen[3] finanzielle und materielle Mittel und Zugeständnisse zu machen. In der veröffentlichten Meinung befeuerten die als „Wiedergutmachung“ geschönten Peanutsbeträge seit 1965 bis heute die „Schlussstrichdebatte“.

Die frühe BRD reduzierte den Nationalsozialismus mit der publizitätsträchtigen Sonderstellung der „Wiedergutmachung“ einseitig auf die Judenvernichtung, um dadurch den Bruch der BRD mit der NS-Ära umso stärker betonen zu können. Dadurch wurden die im Text nach und nach zu skizzierenden zentralen Kontinuitätslinien von Politik, Wirtschaft, gesellschaftlichen Eliten und Ideologie der neuen BRD mit dem NS verdeckt.

Die Instrumentalisierung durch das bürgerliche Lager, das den Antisemitismus auf eine spezifische Rassenideologie des Vorurteils reduzierte, um so die strukturelle und personelle Kontinuität der BRD mit dem NS auszublenden zu versuchen, sah sich mit der Tatsache konfrontiert, dass jenes ideologische Moment einer Mannigfaltigkeit materieller, strukturell-organisatorischer und persönlicher äußerst tatkräftiger – obsessiver –  Momente bedurfte, um als „Idee“ der Endlösung der Judenfrage überhaupt in die Wirklichkeit umgesetzt werden zu können.

Wie alle politischen Strömungen versuchte auch die deutsche Restlinke seit den 1960er Jahren eine neue Identität zu finden. Sie hoffte das durch die Aufarbeitung der Geschichte der Arbeiterbewegung der Weimarer Republik zu erreichen. Die „Theorie des Faschismus“ der alten wie der neuen deutschen Linke hatte ihre eigenen Blindstellen, was nicht zuletzt zur proletarischen Niederlage von 1933 geführt hatte. Der NS wurde reduktionistisch untersucht in seinen Funktionen für das Kapital. Darin thematisierte die Linke den Weg des Widerstands und den Blutzoll der Arbeiterbewegung. Die Shoah wurde durchaus moralisch akzentuiert hervorgehoben, sie fiel jedoch als Randerscheinung durch ihr polit-ökonomisches Untersuchungsraster.

Die bezüglich der geschichtlichen Stellung der Shoah und allgemein der „Judenfrage“ unreflektierten deutschen Linken vollzogen nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 eine schroffe ideologische Wende. Bis zu jenem Zeitpunkt waren sie  philosemitisch ausgerichtet gegenüber den Opfern ihrer Eltern und dem zur Selbstverteidigung errichteten Staates Israel. Dann zeigte sich ihr Projektionsopfer „Jude“ ihnen gegenüber äußerst undankbar: Anstatt als Opferlamm dem arabischen Slogan „Werft sie ins Meer!“ nachzukommen, verteidigten sie sich ein weiteres Mal in die Offensive übergehend erfolgreich. Dass der zum mythischen Opfer erkorene Jude sich in der selbstbewussten Verteidigung gegen die arabischen Angreifer zur „Täterschaft“ des jüdischen Staates verkehrte, war der deutschen Linken zu viel. Seither pflegen sie ritualhaft ihren Antizionismus als Israelkritik und haben ihren Philosemitismus auf die arabischen Massen verschoben, als den interpretierten „Opfern“ Israels. Hierauf wird bald zurückgekommen.

Die frühe Instrumentalisierung der Shoah durch die Bonner Republik, wie sie schon im Begriff „Wiedergutmachung“[4] ganz platt daher kam, bedurfte mit der ökonomischen Erstarkung der BRD und einhergehenden Bestrebungen zur nationalen Normalisierung in den 1980er Jahren einer Uminterpretation. Spätestens mit dem „Historikerstreit“ 1986 gewann der Kampf um die Deutungshoheit der „Endlösung“ der Judenfrage an Eigendynamik. Im Kapitel zur historischen Stellung der Shoah wird u. a. die deutsche Geschichtsrevision nachgezeichnet werden, wonach Deutschland gerade wegen Auschwitz zur „Wächternation für Menschenrechte“ prädestiniert sei, weil es wegen seines Lernens aus dieser „Erfahrung“ jedwedes neue „Auschwitz“ zu verhindern suche.

    


[1]    Empirische Belege zur Kontinuität des deutschen Antisemitismus, siehe beispielsweise: Dietrich Schwanitz, Das Shylock Syndrom oder Die Dramaturgie der Barbarei; Eichborn 1997
 

[2]    Viele Juden Europas, die vor 1933 strikt antizionistisch orientiert waren, schwenkten nach 1945  zum Zionismus um. Dies war u.a. ihrer Erfahrung geschuldet, dass die Antisemiten des völkisch faschistischen Lagers Flanderns, des Vichy-Regimes, Kroatiens, Rumäniens, Ungarns, der Ukraine und der baltischen Länder ebenfalls freiwillig, exzessiv eliminatorisch an der „Endlösung“ mitwirkten. Immerhin bestand die Waffen-SS gegen Kriegsende im Umfang von ca. einer halben Million Mann nur zur Hälfte aus Volksdeutschen. Die andere Hälfte waren völkisch-faschistische Freiwillige aus 24 europäischen und außereuropäischen Ländern. Dass die Mehrzahl der überlebenden Juden schleunigst den Weg nach Palästina suchten, erklärt sich aus ihrer hoffnungslosen Lage nach 1945. Auch das machtstrategische Wegsehen und die restriktive Einwanderungspolitik der USA und Englands während der NS-Zeit trug zu diesem Umschwung bei.
    

[3]    Laut Auswärtigem Amt in Berlin hat die Bundesrepublik bis 2000 insgesamt 22 Milliarden Euro zur Wiedergutmachung nach Israel überwiesen. Das Bundesfinanzministerium berichtet von 64 Milliarden Euro Wiedergutmachung bis 2006. Der Löwenanteil hiervon ging freilich an "Vertriebene", Flüchtlinge aus der "sowjetischen Besatzungszone" und andere nicht-jüdische Verfolgte selbstverständlich mit Ausnahme von Kommunisten. Die "Israel-Verträge" von 1952 fallen nur mit 1,7 Milliarden Euro ins Gewicht. "Wiedergutmachungsrenten", von denen etwa 40 Prozent nach Israel gehen, machen lediglich 0,1 Prozent des deutschen Sozialbudgets aus.

 

[4]    Zur Instrumentalisierung der „Endlösung“, zur Wirkung der Filmserie Holocaust, zum damaligen Elend der deutschen Linken bezüglich NS und ihrer Blindheit gegenüber der Shoah: Siehe den Aufsatz  von 1979: Moishe Postone, Antisemitismus und Nationalsozialismus In: Ders.: Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen. Freiburg 2005, S. 165-194.
Der als Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung und anschließender Promotion von 1972 bis 1982 in Frankfurt lebende US-Historiker  Moishe Postone intervenierte häufiger gegen die deutsche Linke wegen deren Verdrängens des NS und des blinden Flecks Shoah.

Nicht seine Kritik der politischen Ökonomie lieferte Marx den Schluss auf jenes „revolutio-näre Subjekt“ namens „Prole-tariat“ – herleiten lässt sich aus ihr nichts dergleichen –, son-dern genau andersherum be-gründete die schiere Evidenz des Daseins und Wirkens die-ses Subjekts allererst eine Kritik der politischen Ökonomie, die das Kapital als „Durchgang“ hin zur menschlichen Gesellschaft diagnostiziert. Striche man da-gegen aus der Marxschen Di-agnose dieses einzige wahrhaft historisch-subjek­tive Moment darin aus, bliebe von ihr nur das Attest eines unaufhaltsa-men Verhängnisses.(*)

Wertkritischer Exorzismus
Hässlicher Deutscher
Finanzmarktkrise