21. Zu den Schachbrettern der Diplomatie

Die Diplomatie ist die Domäne des politischen Feldes zwischenstaatlicher Beziehungen.

Die Diplomatie eines jeden Nationalstaates gleicht einem vom nationalen Gesamtkapital gesteuerten Demiurgen, der unsichtbar unter dem Schachbrett platziert, seine Schachfiguren im großen Spiel des Weltmarkts mit dem jeweiligen nationalen Gegenüber zieht.

Hier erscheint das national-gesellschaftliche Gesamtkapital als scheinbares automatisches Subjekt der nationalen Außenpolitik. Tatsächlich greift das Kapital als gesellschaftliche Macht über alle Momente des Staates der bürgerlichen Klassengesellschaft über. Vorgängig und konstitutiv ist dabei die allgemeine Durchsetzung und Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Produktion als Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital als eines antagonistischen Klassenverhältnisses, welches das Privateigentum zur Voraussetzung hat. Zum Schluss von Teil III dieser Arbeit wird der Gang durch die drei deutschen Anlaufversuche zur Weltmacht als Verlauf des Klassenkampfs von Bourgeoisie und Proletariat dargelegt. Darin wird deutlich, dass dessen Verlaufsform entscheidend war und ist für den Spielraum der deutschen Außen- wie Innenpolitik.

 

Entsprechend des temporären Kräfteverhältnisses beider Hauptkräfte im Innern versucht der Staat, die widersprüchlichen Interessen der verschiedenen Kapitalfraktionen bezüglich eines bestimmten Landes mit seinen geopolitischen und anderweitigen außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Strategien zu einer Gesamtstrategie zusammenzuführen und die konkrete Situation dann taktisch anzugehen.

 

Im Vorfeld der Diplomatie setzen die Verbände und Kapitalfraktionen des Exports, des Imports, des Bankensektors, des Nachschubs von Rohstoffen ihre im Staatsapparat vielfach platzierten Verbindungsfiguren ein. Der Zug auf dem diplomatischen Schachbrett ist dann die Resultante der widersprüchlichen Interessen von nationalen Kapitalfraktionen. Gerade in der Außenpolitik stoßen die widersprüchlichen Interessen der nationalen Kapitalfraktionen sichtbar und schroff aufeinander. Gleichzeitig befinden sich diese Kapitalistengruppen im Kampf um die Neuaufteilung des Weltmarkts auf Leben und Tod mit den konkurrierenden Kapitalistengruppen anderer Nationen.

 

Die Schachfiguren der Diplomatie einer jeden Nation sind diejenigen nationalstaatlichen Verbündeten, Satelliten, Vasallen, welche im Spiel mit der gegnerischen Nation zum gegebenen Zeitpunkt und bestimmten Inhalten am klügsten einsetzbar sind. Wichtige Nationen des Weltmarkts sind gezwungen, gleichzeitig entsprechend der Nationalstaaten-Vielzahl des Globus auf 180 Schachbrettern zeitgleich täglich neue Züge entsprechend der Dynamik der jeweiligen Zweier-Beziehungen im Geflecht der Weltmarktkonkurrenten tätigen zu müssen, um das Spiel offen zu halten. Sicherlich gibt es Zeitfenster und Situationen, wo mehrere Schachspiele simultan vom gleichen Demiurgen durchgezogen werden können.

 

Bezüglich der Diplomatie gilt, noch umfangreicher als bei einem Eisberg, dass mehr als schätzungsweise 99 Prozent in der Dunkelheit des Wassers der inoffiziellen Diplomatie, der Geheimdiplomatie liegen. Auch wenn Schachfiguren wechseln bleiben hinreichende unterirdische diplomatische Kontinuitäten bewahrt, wie uns die Geheimdienst-Connection aller Länder regelmäßig zu Ohren kommen lassen. Die Diplomatie ist für ihre situationsgerechten Schachzüge absolut auf die Resultate angewiesen, die im operativen Feld der nationalen geheimen Dienste gewonnen werden. So erfährt der Staatsbürger dann beispielsweise, dass entführte deutsche Touristen frei gekauft werden. Oder dass CIA-Gefängnisse in vielen Ländern existieren. Oder dass die nationalen Geheimdienste sämtlicher Industriestaaten zusätzlich zu den eigenen Schnüffelanstalten bei NSA und Prism zusammenarbeiten – schließlich geht es um die Sicherung der kapitalistischen Eigentumsordnung auf dem Globus als übergreifender Aufgabe.

 

Das diplomatische Handgemenge ist wie der juristische Streit durch jene machtpolitischen Vorgehensweisen bestimmt, die C. v. Clausewitz im Vom Kriege formulierte, wonach dieses Gewaltmittel eingesetzt wird, „um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen“. Die Waffen der Diplomatie sind die ökonomische und militärische Stärke der Nation, Scheckbuch, Drohung und Erpressung sowie eine spitze Feder unter Vorgabe einer Staatsraison, nach der der Zweck machiavellistisch jedes Mittel heiligt, um das anvisierte Ziel durchzusetzen.

 

Die Öffentlichkeit bekommt kaum diplomatische Noten und dahinterstehende Querelen und Konfrontationen zu Augen und Gehör. Die politische Propaganda verdolmetscht dem Bürger selbstverständlich nur die notwendigsten diplomatischen Resultate nach nationalen Interessen. Zwischenstaatliche Verträge sind wie jedes juristische Schriftstück interessengeleiteter Interpretation unterworfen. Die Staaten des internationalen Gefüges interpretieren diese Verträge folgerichtig auf Grund historisch bedingter unterschiedlicher Rechtsauffassungen entsprechend ihrer nationalen Interessen. Als Ausweg greift die Politik der Nationen in aussichtslosen Situationen immer wieder zum Mittel des Krieges.

 

Die Teilhabe am Weltmarkt erzwingt ihrerseits auf dem Wege der Diplomatie mannigfache nationale Rechtsangleichungen an internationales Recht, um in bestimmenden Gremien transnationaler Organisationen das nationale ökonomische Gewicht politisch in die Waagschale zu werfen. In der Regel setzen sich in internationalen Organisationen die Vorgaben der ökonomischen Hauptkraft durch – wie zur Zeit in der EU und in der NATO von Anfang an zu bewundern. Zugleich zeigt die Krise der EU beispielhaft auf, wie unterschiedlich die EU-„Partner“ die ausgehandelten wirtschaftspolitischen Abmachungen und gültigen Verträge auslegen und umsetzen. Politik ist stets die Kunst des Kompromisses, letztendlich des Klassenkompromisses, und daher die Domäne von List, Intrige, Täuschung, Lüge, Desinformation im Jargon des Ungefähren.

 

Die temporäre ökonomische und somit politische Stellung der einzelnen Nation auf dem Weltmarkt sind letztendlich ausschlaggebend dafür, welches Durchsetzungs-Gewicht ihre Diplomatie in den ökonomischen, politischen und militärischen multinationalen Staaten-Bündnissen wie UNO, NATO, NAFTA, EU, ASEAN-Pakt, MERCOSOUR etc. hat. Grundlage bleiben allerdings auch hier die diplomatischen bilateralen Beziehungen zwischen zwei Staaten. H.-F. Genscher, Meister der multilateralen Verschleierung der EG-Ära zwischen 1975 und 1990, betrieb stets bilaterale Scheckbuchdiplomatie, um die EG-„Partner“ auf deutsche Linie zu bringen. Dem diplomatischen Druck des Hegemon standzuhalten, kann tiefgreifende Nachteile in den ökonomischen und politischen Beziehungen nach sich ziehen. So hat die deutsche Außenpolitik es Italien nicht verziehen, dass es sich 2005 als EU-Prellbock gegen Deutschlands Durchsetzungsversuch eines ständigen Sitzes im UN-Sicherheitsrat mit Vetorecht zur Verfügung stellte. Wer weiß, bei welcher Gelegenheit die deutsche Abrechnung erfolgt. Die Protektion der Separatisten Südtirols und Pandanias durch die BRD?

 

Das ökonomische und daran gekoppelte politische Gewicht der Nationen erzwingt bedeutende Souveränitätsverluste unbedeutender Staaten des Weltmarkts bezüglich der Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs- und Militärpolitik. Praktisch werden sie zu politischen Vasallen ihrer nachbarschaftlichen Hegemonialmächte, in deren „Bündnissen“ sie eingebunden sein müssen, wenn sie sich nicht politisch isolieren und ökonomisch weiter zurückfallen wollen. Das Verschwinden der SU als Gegenpart der USA legte offen an den Tag, dass die kleinen Staaten der Welt nach 1945 bis 1989 immerhin die Möglichkeit hatten, zwischen jenen Großmächten zu changieren, um wenigstens ein Paar scheinbare eigene Souveränitäts-Vorteile herauszuschinden.

 

Zum jetzigen Zeitpunkt Spätsommer 2013 lässt sich das Gerangel auf dem diplomatischen Weltparkett wie folgt umreißen: Die zunehmende Konkurrenz zwischen China und den USA als den zwei jetzigen Hauptkräften des Weltmarkt und der drohende Zerfall der Staaten des islamischen Halbmonds werden die Karten der Diplomatie auf sämtlichen Ebenen neu mischen. Wer eben noch als Vasall auf dem Schachbrett des Hegemons oder dessen Konkurrenten eingesetzt werden konnte, wird im nächsten Moment zur unberechenbaren Bürde. Gingen afrikanische und südamerikanische Staaten seit 20 Jahren liebend gerne auf ökonomische Abkommen mit China ein, um die einseitige Abhängigkeit von den USA und Europa zurückzudrängen, so wird ihnen nun schon Chinas Dominanz zu einengend.

 

Wer den ökonomisch relativ absteigenden Hegemon USA abschreiben will, verkennt die ökonomische Wandlungsfähigkeit dieser kontinentalen Staatenvereinigung. Zudem sind die USA mittelfristig unersetzlich als Weltpolizist aller nationalen Bourgeoisien dieser Welt. Um den dazu notwendigen, erdrückenden Militäretat zu stabilisieren, werden sie allerdings ihre „Partner“ als die Saubermänner-Profiteure gehörig zur Kasse bitten. China hält sich seinerseits auf dem Weltparkett meist taktisch zurück. Wann und ob Chinas hegemoniale Stunde kommen wird, hängt vom Verlauf des dortigen Klassenkampfes ab, der sich mit der Schärfe der sich abzeichnenden ersten Überproduktionskrise dynamisieren wird wie auch der einhergehende drohende Zerfall der Volksrepublik. Zugleich kämpft Russland – gestützt auf hohe Rohstoffpreise und sein modernisiertes Atomwaffenarsenal – in der Syrienkrise 2013 wieder um eine Position in der vordersten Front der Taktgeber des diplomatischen Weltparketts. Eine strategische Annäherung der USA und Russlands würde Deutschlands Spielraum für ein strategisches eurasisches Bündnis mit Russland und China in Abwendung von der EU sehr eingrenzen; die deutschen Gedankenspiele zu 'Alternativen' zur Westbindung werden noch zur Sprache kommen. Indiens und Brasiliens erste stärkere ökonomische Einbrüche bremsen derzeit deren politischen Aufstieg auf dem Weltparkett. Japans trotz zwanzig Jahre Super-Keynesianismus nicht überwindbare ökonomische Stagnation lässt dessen politischen Einfluss auf dem diplomatischen Feld der G-9-Staaten zusehends schwinden.

 

Soweit zur Einstimmung auf das mit diplomatischen Tretminen gespickte Gelände des politischen Weltparketts. Hier in Abschnitt V werden die von 1989 bis 2013 abgelegten besonderen diplomatischen Tretminen des neuen Deutschlands skizziert. Was die spezifische europäische Diplomatie der BRD bei ihrem Aufstieg zur EG/EU-Vormacht seit 1949 betrifft, so ist diese Gegenstand von Teil II der Arbeit.

Nicht seine Kritik der politischen Ökonomie lieferte Marx den Schluss auf jenes „revolutio-näre Subjekt“ namens „Prole-tariat“ – herleiten lässt sich aus ihr nichts dergleichen –, son-dern genau andersherum be-gründete die schiere Evidenz des Daseins und Wirkens die-ses Subjekts allererst eine Kritik der politischen Ökonomie, die das Kapital als „Durchgang“ hin zur menschlichen Gesellschaft diagnostiziert. Striche man da-gegen aus der Marxschen Di-agnose dieses einzige wahrhaft historisch-subjek­tive Moment darin aus, bliebe von ihr nur das Attest eines unaufhaltsa-men Verhängnisses.(*)

Wertkritischer Exorzismus
Hässlicher Deutscher
Finanzmarktkrise