24.3. Deutschland, die WEU und der deutsche Griff nach der Atombombe

Weltmacht zu sein im 21. Jahrhundert impliziert bis auf weiteres den Besitz eines umfangreichen Atomwaffenarsenals. Die Verhinderung der deutschen Nuklearbewaffnung ist daher folgerichtig seit 1945 bis heute der Kern der militärpolitischen Westeinbindung der BRD durch die Westalliierten.

In diesem Widerspruch liegt eines der zentralen machtstrategischen Handicaps für die deutschen Weltmachtambitionen nach 1989. Wie Deutschland sich Anfang der 1990er Jahre aus diesem Aspekt seiner militärpolitischen Bredouille – keinen Zugriff auf den roten Knopf der A-Bomben zu haben – heraus manövrieren wollte, wird hier abzuhandeln sein.

Deutschland hält sich äußerst bedeckt, was seine Ambitionen auf eigene Atomwaffen betrifft. Gehörte nicht zur deutschen Normalität vor 1945 der Vorsprung im Bau der Atombombe? War der Anteil der deutschen Wissenschaftler am Bau der Bombe der Siegermächte nicht enorm?

 

Technisch ist die BRD zum Bau von Atombomben in der Lage, immerhin liefert ihre Nuklearindustrie weltweit zahlreiche Komponenten für kerntechnische Anlagen aller Art. Fachleute der Militärtechnik gehen jedenfalls von drei bis vier Monate als hinreichender Bauzeit für eine deutsche A-Bombe aus. Diese technische Fähigkeit Deutschlands ist allen „Partner“-Staaten bewusst. Atombomben-Träger zu Luft und zu Wasser besitzt Deutschland. Atomwaffenfähiges Spaltmaterial lag bis 2005 im „Plutoniumbunker“ zu Hanau. Seit 2004 werden zum Betrieb des von der bayrischen Landesregierung und BMBF geförderten Reaktors in München jährlich 40 Kilogramm hoch-angereichertes Uran (HEU) eingesetzt – waffentaugliches Material für immerhin zwei A-Bomben von Hiroshima-Stärke1.

 

Allerdings braucht jede Technologie ihre praktische Erprobungsphase, die auf diesem Feld nicht unerheblich ist, wenn Desaster ausgeschlossen sein sollen. Und bei der A-Bombe ist es wie im Sprichwort: eine Schwalbe macht noch keinen Sommer aus. „Die“ A-Bombe reicht vielleicht zur regionalen Abschreckung und Erpressung, ein umfangreiches, kriegstaugliches, einsatzbereites interkontinentales Atomwaffensystem haben bisher nur die militärischen Großmächte USA und Russland, China (?).

 

Für die Westalliierten stand die Frage der militärpolitischen Westeinbindung der 1949 gegründeten BRD im Zentrum ihrer Bemühungen, um eine potentielle Rückkehr des Reichs-Nachfolge-Deutschlands zu militärischen Abenteuern zu verhindern. Wie die BRD langfristig von der A-Bombe fernzuhalten sei, war der Nukleus der Problemstellung. Dass ein sich dynamisch entwickelndes nationales Gesamtkapital der BRD die Kontinuität des Strebens nach politischer Hegemonie in Europa an den Tag legte, erfuhren die Westalliierten schon in den harten deutschen Verhandlungsführungen zur Erweiterung der Souveränität der neugegründeten BRD seit Anfang der 1950er Jahren. Die BRD wollte im Wissen um ihre ökonomische Bedeutung gerade für die „Eindämmungspolitik gegen den Kommunismus“ der USA auf „Augenhöhe“ behandelt werden. Offensichtlich schaffte sich die BRD zwischen dem EVP-Vertrag 1951 und dem Abkommen mit den USA 1957 größere Spielräume für die Forschung, Entwicklung und Anwendung der sich entwickelnden zivilen Kernenergie-Technologie2, die ihrerseits mit der A-Bombe untrennbar verbunden ist. Es gab vor 1955 von deutscher Seite keinen Zuspruch zu einer Europäischen Atomgemeinschaft, die dann zeitgleich mit der EWG 1957 als Euratom gegründet wurde, deren zentrale „heiße“ Aufgabe in der gegenseitigen Kontrolle der Verwendung der erzeugten Mengen waffengängigen Spaltmaterials bestand.

 

"In der Bundesrepublik entstand eine neue Situation, als Konrad Adenauer am 4. April 1957 erklärte: 'Die taktischen Atomwaffen sind nichts weiter als die Weiterentwicklung der Artillerie. Selbstverständlich können wir nicht darauf verzichten, dass unsere Truppen auch in der normalen Bewaffnung mitmachen.'"3

 

Das „Göttinger Manifest“ und die starke Ostermarsch-Bewegung belegen den Ernst der damaligen heiklen militärpolitischen Situation der „Wiederbewaffnung“ in der BRD. Franz Josef Strauß gab 1955 bis 1962 auch für Adenauer4 die Rampensau ab für Wiederbewaffnung, Atombombenstationierung und atomare Bewaffnung der BRD. Formal könnte sich jede BRD-Regierung beim Bau der Bombe bis heute auf den damaligen Beschluss der Legislative5 berufen:

 

"Im März 1958 sprach sich der Deutsche Bundestag mit der absoluten Mehrheit der CDU/CSU für die atomare Bewaffnung der Bundeswehr aus. Der Widerstand der Alliierten verhinderte die Umsetzung dieses bis heute nicht revidierten Beschlusses."6

 

Die atomwaffenfreie „Sonderrolle“ fesselt den ökonomischen Riesen BRD nach 1945 bis heute in der militärtechnischen Zweitklassigkeit. Dem militärischen Winzling BRD bleibt nichts übrig, als aus dieser machtpolitischen Not eine friedensengelgleiche Tugend zu machen: als Unterzeichner des Atomwaffensperrvertrags oderVertrag für die Nichtverbreitung von Kernwaffen

(NVV) betreibt die BRD schon länger mit besorgter Miene die Rettung der Welt, indem sie den moralischen Saubermann spielend an die mit dem NVV verknüpfte Verpflichtung der Atombombenmächte erinnert, ihr Arsenal zu verringern – oder gar abzuschaffen. So zuletzt unter holden Worten initiiert im Juni 2010 vom Auswärtigen Amt7, kurz nach der Vollversammlung der Mitgliedsstaaten zur fünfjährig turnusgemäßen Frage der Verlängerung des NVV, was wie schon 2000 und 2005 bejaht wurde. Die deutsch-französische Freundschaft ging erst recht beim NATO-Gipfel 2012 nicht soweit, sich Deutschlands Ansinnen des Abzugs der amerikanischen A-Waffen aus Europa zu beugen.

 

Die Vertragsverlängerung des NVV war im Zeitraum 1990 bis 1995 ungewiss, da der Atomwaffensperrvertrag im Jahre 1995 nach 25 Jahren vertragsgemäß erstmals auslief – und dann bei der Überpüfungskonferenz doch verlängert wurde.

 

Nach Vorstehendem kann ein Nationalstaat in der imperialen Konstellation des angefangenen 21. Jahrhunderts nur eine ernsthafte Rolle als Weltmacht spielen, wenn er selbst über Atomwaffen verfügt. Das war Anfang der 90er Jahre angesichts des Zusammenbruchs des bipolaren atomaren Gleichgewichts erst recht so. Deutschlands Option auf den Zugriff zur Atombombe stand 1994 so:

 

"DIE RECHTLICHE SONDERPOSITION

Der nukleare Handlungsspielraum der Bundesrepublik wird durch drei Verzichtserklärungen begrenzt: Den als Anlage zum WEU-Vertrag formulierten Adenauer-Verzicht von 1954, den Atomwaffensperrvertrag von 1975 und den 'Zwei-plus-Vier-Vertrag' von 1990, in dem es heißt: 'Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihren Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen. Sie erklären, daß auch das vereinte Deutschland sich an diese Verpflichtungen halten wird. Insbesondere gelten die Rechte und Verpflichtungen aus dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen vom 1. Juli 1968 für das vereinte Deutschland fort.' Dieser Verzicht 'bekräftigt' lediglich die Erklärungen von 1954 und 1975 und ist hinsichtlich seiner Reichweite mit diesen identisch. Seine Geltung ist gesichert, solange es den Sperrvertrag und den WEU-Verzicht noch gibt. Wie steht es um die Zukunft jener Abkommen sowie um die aus ihnen abgeleiteten 'Rechte und Verpflichtungen' für die BRD?“8

 

In dieser Umbruchphase waren die diplomatischen Aktivitäten des militärpolitischen Feldes der westalliierten Atombombenmächte äußerst stark darauf gerichtet, den Zugriff des neuen Deutschlands auf die Bombe zu unterbinden. Es ist bis heute ihr letzter Rettungsanker gegen den politischen Durchmarsch Deutschlands in Europa. Einige Begebenheiten der zwischenstaatlichen Verhandlungen auf dem vor der Öffentlichkeit abgeschirmten Feld der staatlichen „Plutoniumwirtschaft“ gelangten soweit an die Oberfläche der Diplomatie, dass sie die deutschen Ambitionen auf die Verfügung über die Bombe nicht mehr unter hehren Zielen kaschieren konnten9

. Dies zu skizzieren, ist hier nicht die Stelle10, sondern wird als empirischer Beleg dafür genommen, dass Deutschland das öffentliche Tabuthema eigener Atombewaffnung nie aus den Augen verlor, sondern seine Ambitionen im Schatten der Diplomatie entsprechend dem hohen Entwicklungsstand seiner „Plutoniumwirtschaft“ weiter treibt und 1990 bis 1995 seine Front nach vorne zu schieben versuchte.

 

Da es für die neue BRD politisch tödlich gewesen wäre, die Option auf eigene A-Waffen allzu augenfällig zu forcieren, geriet gerade damals die sogenannte „Europäische Option“ erstmals sehr ernsthaft ins außen-, sicherheits-, verteidigungs- und militärpolitische Visier Deutschlands.

Der Griff der alten BRD nach der europäischen A-Bombe hatte schon seine eigene verdeckte Geschichte11, deren Kontinuität darin bestand, die nukleare deutsch-französische Zusammenarbeit in Unabhängigkeit von der Kontrolle durch die USA zu halten:

 

"Als ehemaliger Verteidigungsminister hatte Strauß mit seinem Atomwaffen-Gepolter in den 50er Jahren ebenso viel Porzellan zerschlagen, wie in den 60er Jahren der christdemokratische Außenminister Gerhard Schröder mit seinem Versteifen auf nukleare Mitverfügung im Rahmen der Multilateralen Atomstreitmacht, MLF. Die Brechstangen-Methodik deutscher Regierungen hatte im Nuklearbereich zum Desaster geführt: Seitdem 1966 die Regierung Erhard aufgrund ihrer gescheiterten Außen- und Atomwaffenpolitik zum Rücktritt gezwungen worden war, wurde von der Union ein Außenminister nicht mehr gestellt. Die deutsche Politik hat hieraus, wie die vorsichtige Frankreich-Diplomatie eines Kohl oder eines Teltschik beweist, gelernt. Jacques Attali, der engste Mitarbeiter Francois Mitterands, hat in seinen politischen Tagebuchaufzeichnungen den diskreten Stil jener Annäherungsversuche festgehalten. Einige (hier erstmals übersetzte) Auszüge:

'Donnerstag, 2. Februar 1984: Helmut Kohl (im Gespräch mit Mitterand): Sogar auf dem Gebiet der Atomwaffen kann man viel mehr gemeinsam machen: Es gibt einen Geheimvertrag zwischen dem Präsidenten der USA und mir über den Einsatz von Atomwaffen. Ich habe hierzu von Reagan einen Brief bekommen. Man könnte sich einen Brief gleichen Typs von Ihnen an mich vorstellen.
Francois Mitterand: Warum nicht. (Es wurde vereinbart, daß Teltschik und ich das Projekt dieser Vereinbarung vertiefen.)
Francois Mitterand: Man muß hinsichtlich des Haushalts der Europäischen Gemeinschaft einen Geheimpakt zwischen Frankreich, der Bundesrepublik und Großbritannien abschließen, um diesen Haushalt zu kontrollieren.
Helmut Kohl: Ja. Sehr gerne! ...'“
12

 

Das war vor 1989. Danach war alles anders. Nur der bürgerliche Pazifismus hatte die neu-deutschen Großmacht-Ambitionen nicht geschnallt. Nicht bezüglich Deutschlands Appeasement-Politik im Golfkrieg II. Dann spielte die deutsche Friedensbewegung 1995 beispielsweise mit ihren fundamentalistischen Protesten gegen die französischen A-Bomben-Tests wiederum ihrer eigenen Bourgeoisie in die Hände: jede Schwächung Frankreichs auf dem militärischen Feld verstärkt Deutschlands politische Vormachtstellung in der EU.

 

1993 war für Deutschland der Versuch daher konsequent, die WEU zum militärbündnis- und militärpolitischen Arm der EU unter dem Slogan einer „europäischen Verteidigungsidentität“ auszubauen, um auf diesem Wege zur Mitverfügung über die „europäische“ A-Bombe zu gelangen. Deutschlands neues machtpolitisches Übergewicht kam zum Tragen. Wie „freiwillig“ sich die „Identitätsfindung“ der WEU-„Partner“ bis Mai 1994 gestaltete, belegt beispielweise WEU-Dokument 1420:

 

Daß diese Form der Erpressung auch in den offiziellen Papieren der Westeuropäischen Union ihren Niederschlag erfährt, beweist der Bericht des WEU-Verteidigungsausschusses über 'Rolle und Zukunft der Atomwaffen' in Europa von Mai 1994. Dieser Bericht konstatiert eine zunehmende Unglaubwürdigkeit der US-Atomwaffengarantie und die damit zusammenhängende Reaktualisierung des deutschen Problems: 'In diesem Rahmen muß Deutschland eine glaubwürdige nukleare Abschreckung verschafft werden… , damit es sich nicht gezwungen sieht, seine eigene atomare Abschreckung zu entwickeln', so das Papier. 'Die rein französisch-britische Atomwaffen-Kooperation könnte von Deutschland als eine Kraft wahrgenommen werden, gegen die ein Gegengewicht zu setzen sei.'”13

 

Ja, wenn die Amis uns nicht mehr schützen, sich aus Europa zurückziehen und der hochaufgerüstete Iwan im Osten steht, und Franzosen und Briten uns nicht mit an den roten Knopf lassen, dann bleibt uns Deutschen keine andere Wahl, als die A-Bombe selbst in die Hand zu nehmen! Deutschlands Verstellung bezüglich seines Kernwaffen-Verzichts implizierte von Anfang an die rhetorische Umkehrung, dass Deutschland in eine „Sonderrolle“ gedrängt werde, die es potentiell aus dem politischen Einigungsprozess Europas ausscheiden lasse. Frankreich und Großbritannien sollten bitteschön ihre „Sonderrolle“ aufgeben und Deutschland mit in die Verfügungsgewalt über die A-Waffen einbinden und am besten gleich im UN-Sicherheitsrat mit einer „europäischen“ Stimme sprechen. Der Demiurg könnte dann unbeschadet im Berliner Regierungswürfel hocken, während die „Partner“ ihre Nase im Ring hinhalten.

 

Auf dem diplomatischen Feld der Nuklearpolitik ging die BRD damals erpresserisch im historischen Maßstab vor:

 

Gleichzeitig agiert Deutschland London und Paris gegenüber mit einer Politik der Einschüchterung, welche auf das Stichwort “Versailles” schon nicht mehr angewiesen ist, da es den Akteuren ohnehin vor Augen steht – Liebe Franzosen, liebe Briten: ihr wißt, wozu wir fähig waren und sind. Also behandelt uns besser so, wie es der Europäischen Vormacht zukommt.“14

 

Und was die damalige oppositionelle SPD und deren einstigen Friedensritter und EU-Chauvinisten Lafontaine, einer der heutigen grauen Eminenzen der Partei DIE LINKE, betrifft, so stand er schon Anfang der 90er Jahre an der deutschen Atombomben-Verfügungs-Front:

 

Den von Lafontaine erwähnten Zusammenhang zwischen deutscher Finanz- und Atomwaffenpolitik hatte die 'International Herald Tribune' 1992 wie folgt analysiert: 'Das wiedervereinigte Deutschland versucht leise Einfluß über die französische Nuklearstrategie zu erhalten, um dafür im Gegenzug Frankreich bei der deutschen Finanzpolitik mitreden zu lassen. Das ist der unausgesprochene Kern der europäischen Integrationspolitik, ein bislang nicht zur Kenntnis genommenes Beispiel einer neuen Nuklearpolitik.' (IHT, 27.1.92)“15

 

Ob sich wohl die Partei DIE LINKE die „friedlichen“ Staaten von Europa etwa so vorstellt?

 

Das deutsche Pressure gegen Paris und London lief 1994 vor dem Hintergrund, dass 1996 eine Sonderkonferenz des Europarats über die “Sicherheitsunion” ins Haus stand, wo über eine Verlängerung des WEU-Vertrages verhandelt werden sollte, da dieser 1998 nach 50 Jahren auslief und sich gegebenenfalls damit auch der deutsche Verzicht auf Kernwaffen von 1954 erledigt hätte.

 

Zum Abschluss über die Frage des deutschen Griffs zur A-Bombe nochmals die damalige Grenzlinie der USA:

 

Die 1992 nur durch eine Indiskretion bekanntgewordene 'Richtlinie für die US-Verteidigungsplanung der Haushaltsjahre 1994-1999” hatte die Frage beantwortet, gegen wen die Aufrüstung der USA nach den Ende des Kalten Krieges vorrangig gerichtet sei: gegen ein nuklear bewaffnetes Deutschland und ein entsprechend gerüstetes Japan. 'Unser erster Ziel muß es sein', hieß es darin, 'das Wiedererstehen eines neuen Rivalen … zu verhindern. ... Wir müssen verhindern, daß irgendeine feindliche Macht eine Region dominiert, deren Ressourcen für die Schaffung einer globalen Machtposition ausreichend wären.' Aus der Kombination von Wirtschaftskraft und Atombombe erwachse aber jener 'new global enemy', dessen Aufkommen zu verhindern ein primäres Ziel der USA sei. So dürfe insbesondere nicht der Sieg verspielt werden, der darin bestehe, 'die Integration Deutschlands und Japans in ein amerikanisch geführtes System kollektiver Sicherheit' zustandegebracht zu haben. (Vgl. 'konkret' 9/92)“16

 

Im schon mehrmals zitierten Papier von Schäuble/Lamers der CDU/CSU-Fraktion liest sich die im September 1994 angeführte deutsche Aufgabenliste für die laut Maastricht-Vertrag Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP) als neu-deutsches Diktat an den Hauptpartner Frankreich so:

 

Von wesentlich größerer Vorrangigkeit, als im Maastrichter Vertrag vorgesehen, ist die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Verteidigung. Die "gegebene Zeit", von der dort die Rede ist, ist heute bereits gegeben. Die Schwierigkeiten der Europäer untereinander wie die zwischen ihnen und den USA anläßlich des Krieges im früheren Jugoslawien unterstreichen die Dringlichkeit dieser Forderung. Die Anstrengungen, die gemeinsame europäische Verteidigung zu schaffen, müssen deshalb intensiviert werden. Dabei müssen die Europäer einen wesentlich größeren Teil der Verantwortung für ihre eigene Sicherheit übernehmen. Das gilt zum einen für friedenserhaltende und -wiederherstellende Maßnahmen. Zum anderen gilt dies grundsätzlich und noch mehr für die Frage des sicherheitspolitischen Status der künftigen Mitglieder der Union. Der sicherheitspolitische Status in einer Gemeinschaft von Staaten, die sich als Union versteht, muß derselbe sein. Das ist eine Bedingung für die Mitgliedschaft. Wenn aber von den USA nicht nur die Bereitschaft erwartet wird, ihre Verpflichtung im bisherigen Gebiet der Allianz aufrechtzuerhalten, sondern sie (zumindest) auf solche Länder auszudehnen, die Mitglied der Union werden, dann muß Europa im nichtnuklearen Bereich den Hauptbeitrag zu seiner Verteidigung selber leisten.

 

In der Perspektive bedeutet das die Umwandlung der NATO in ein gleichgewichtiges Bündnis zwischen den USA und Kanada und Europa als handlungsfähige Einheit. In diesem Sinne muß die Revisionskonferenz 1996 gemäß Art. J.4 Abs. 6 die Beziehung zwischen WEU/EU umgestalten.

 

In der aktuellen Frage einer Neugestaltung der Beziehungen zwischen WEU und NATO für Nicht-Art. 5-Aufgaben (CJTF) muß eine Lösung gefunden werden, die aufgrund einer jeweiligen Entscheidung durch den NATO-Rat (und damit natürlich unter Beteiligung der USA) den Europäern ein eigenständiges Handeln unter Nutzung der NATO-Mittel und von Teilen der NATO-Stäbe ermöglicht. Wie die jüngste Rede von Präsident Clinton in Paris ein weiteres Mal deutlich gemacht hat, begrüßen die USA nicht nur eine europäische Verteidigungsidentität, sie fordern sie geradezu.

Eine aktive und wirksame gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik bedarf einer flexibleren und effektiveren Steuerung und Koordinierung. Dazu gehört auch, daß eine ausschließlich mit der vorausschauend planenden Arbeit beauftragte, hochrangig besetzte und mit direktem Zugang zu den nationalen Entscheidungsträgern versehene GASP-Planungszelle eingerichtet wird.“17

 

Zu diesem zeitlichen Knotenpunkt ging Deutschland parallel alle vier Eckpunkte seiner Weltmachtambitionen verschärft an. Wenn, dann nur damals konnte Deutschland den praktischen Durchbruch bei der Umwandlung des Papiertigers WEU in ein schlagkräftiges militärisches Instrument der GASVP versuchen. Der deutsche „Weg“: dezionistisch die Fakten des militärischen Einsatzes europäischer Streitkräfte als WEU im Bosnienkrieg schaffen, um dann 1996 die WEU entsprechend vertraglich zu revidieren. Damit war Deutschlands Vorstellung der Mit-Verfügung über die britischen und französischen Atomwaffen verbunden. Die Sache war jedoch für die „Partner“ gegessen. Denn: Deutschland schlägt vor, die anderen müssen, müssen, müssen. Was z.B. der folgende Satz wohl alles nach deutscher Vorstellung bedeuten mag:

 

Der sicherheitspolitische Status in einer Gemeinschaft von Staaten, die sich als Union versteht, muß derselbe sein.“

 

Dass der „Status“ von den Interessen des Hegemons bestimmt wird, weiß jedes Kind. Da ist sie wieder, die preußische Chuzpe, diesmal den „Partnern“ die USA als Kronzeugen für sein eigenes Anliegen vorzusetzen, wo doch ganz Europa und Deutschland selbst klar war, dass kein EU-Staat – trotz zahlreicher Kollaborateure in den Eliten – außer Deutschland eine europäische „Verteidigungsidentität“ nach deutschen Vorgaben wollte und heute erst recht nicht will, sondern alle auf ihre Weise dagegen arbeiten.

 

Jedes nationale Gesamtkapital bedarf zur Ausdehnung seiner Interessen auf dem Weltmarkt jeweils seine eigene spezifische nationalstaatliche Flankierung auf den höchst sensiblen machtstrategischen Feldern der Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs- und Militärpolitik, es sei denn, dass es sich selbst gezwungener Maßen aufgeben muss und sich dem ökonomischen Hegemon auch politisch als dessen Vasall unterordnen muss.

 

Deutschland konnte damals wie heute kein Vorschlag schnell genug umgesetzt werden, den es selbst in überhasteter Manier und mit barschem „Dalli Dalli“ in den EU-Integrationsprozess einbrachte. Insbesondere auf dem machtstrategischen Feld steigerte sich die Ungeduld der deutschen Führung angesichts der offensichtlichen Verzögerungstaktiken der EU-„Partner“ und der möglicherweise verpassten günstigen Gelegenheiten als ökonomisch starke Mittelmacht in weltweit entstandene Machtvakuums politisch vorzustoßen. Die Formulierung des Zeitdrucks im obigen Zitats Schäuble's ist eine Einschüchterungs-Attacke jenseits der diplomatischen Sprache.

 

Die „Partner“ ließen Deutschlands Illusionen bezüglich der WEU-Stellung in der EU am langen Arm verdorren. Die Declaration de Marseilles18 von 2000 ist das letzte WEU-Dokument. Die WEU wurde im Juni 2011 aufgelöst. Die EU-„Partner“ wissen es als deutsche Drohung einzuordnen, dass wichtige Elemente des WEU-Vertrages dezidiert im Vertrag von Lissabon von 2007 aufgingen – worauf in Teil II des Textes eingegangen wird.

 

Soviel zum deutschen Vorgehen bezüglich der Verfügungsgewalt über Nuklearwaffen im Zuge der WEU als erhofftem militärbündnis-politischem Arm der EU im Zeitraum 1990 bis 1995 und dem Drängen des neuen Deutschlands bezüglich der Umsetzung der GASVP der EU. In Teil II des Textes wird der Arbeitshypothese nachgegangen, dass vom theoretischen Standpunkt her die Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs- und Militärpolitik der EU (GASVP) nach deutscher Vorstellung nur dann zu Stande kommen kann, wenn das deutsche Gesamtkapital die anderen nationalen Gesamtkapitale soweit niederringt und reorganisiert, dass diese ins deutsche Gesamtkapital integriert werden und die Staaten im „kalten“ Anschluss an Deutschland als erzwungener EU-Bundesstaat zur Zwangsgemeinschaft-der-Vasallen-Deutschlands-in-Europa (ZVDE) degenerieren, statt des bürgerlichen Traums von politisch gleichberechtigten Bundesstaaten innerhalb von Vereinigten Staaten von Europa (VSE).

 

1 Dietrich Antelmann,Atomare Aufrüstung – hierzulande? Erschienen in Ossietzky 20/2010

 

2 Michael Eckert, Kernenergie und Westintegration. Die Zähmung des westdeutschen Nuklearnationalismus, in: Herbst, Ludolf, Bührer, Werner, Sowade, Hanno (1990): Vom Marschall Plan zur EWG. Die Eingliederung der Bundesrepublik in die westliche Welt, R. Oldenbourg Verlag München; Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Herausgegeben vom Institut für Zeitgeschichte, Band 30, S.313 ff.

 

3 Horst Schneider, Die Schöpfung retten – Gegen Atomwaffen auf deutschem Boden, für die Abschaffung aller Atomwaffen, Europäisches Friedensforum epf Deutsche Sektion; Zentraler Arbeitskreis Frieden der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V. Nr. 38, Redaktionsschluss: 01.08.2007

 

Wolfgang Zank, Adenauers Griff nach der Atombombe, DIE ZEIT, 31/1996; DIE ZEIT Online-Archiv

 

5 Robert Strobel, Die Logik des Schreckens. Wird die Bundeswehr mit Atomwaffen ausgerüstet? DIE ZEIT 20.03.1958 Nr.12. In dem Artikel werden die Positionen der damaligen Bundestagsfraktionen angeführt:

Die CDU/CSU und die DP sind im Grunde bereits zur atomaren Bewaffnung der Bundeswehr entschlossen. Zwar wollen sie noch das Gutachten der NATO-Experten abwarten. Aber es zweifelt kaum jemand daran, daß es die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen für notwendig erklären wird. An die Möglichkeit eines politischen Geschäfts, wie sie die FDP nicht ausschließen möchte, glaubt bei den Koalitionsparteien höchstens noch eine kleine Gruppe. Abgeordneter Kiesinger kündigte für die außenpolitische Debatte eine „klare Stellungnahme“ der CDU/CSU-Fraktion an. Das bedeutet das grundsätzliche Ja der CDU/CSU zur Atombewaffnung unter der Voraussetzung, daß bei der kommenden Gipfelkonferenz eine internationale Abrüstungsvereinbarung nicht zustande kommt. Auf eine solche Vereinbarung aber setzt die CDU noch gewisse Hoffnungen.“

 

6 Dietrich Antelmann,Atomare Aufrüstung – hierzulande? Erschienen in Ossietzky 20/2010

 

7 26. Forum Globale Fragen, 15. Juni 2010 „Global Zero“ - Herausforderungen auf dem Weg zu einer kernwaffenfreien Welt Auswärtiges Amt Berlin.

 

8 Matthias Küntzel, Die Stellung der BRD im System der nuklearen Nonproliferation Länderstudie BRD, 1994.

 

9 Ebenda

 

10Beispielsweise in obigem Text oder folgendem nachzulesen: Matthias Küntzel Bill, Bonn und die Bombe – US-Interventionen gegen die deutsche Nuklearpolitik, konkret, September 1994. Es ist das Verdienst von M. Küntzel, als kritischer Zeitzeuge die deutsche Großmachtpolitik des Anfangs der Berliner Republik fortlaufend dokumentiert und analysiert zu haben. Nicht von ungefähr hasste die volksdeutsche Linke seither den Kurs der Zeitschrift Bahamas, deren Redakteure sich schon vor der Gründung der Bahamas seit der Inangriffnahme der „Wiedervereinigung“ 1989 gerade in Absetzung von der Linken aussätzig als 'Antideutsche' bezichtigten. Im Golfkrieg II und dem darin aufgeflammten Antisemitismus kam es zum endgültigen Bruch mit der Restlinken. Küntzel ist im Unterschied zu seinen dem Wertexorzismus verfallenen Genossen ideologiekritischer politischer Publizist geblieben mit wertvollen Beiträgen zum imperialen Stellungsausbau der Berliner Republik (Kosovo-Konflikt) und zum sogenannten Nahen Osten – insbesondere der speziellen Beziehungen Berlin - Teheran. Folgend wird daher wie schon zuvor noch häufiger auf seine zeitnahen außenpolitischen Beiträge zurückgegriffen, da sie die vorliegende Argumentationslinie empirisch stützen.

 

11 Die Bestrebungen der BRD nach der A-Bombe der Zeit vor Kohl: Matthias Küntzel, Bonn und die Bombe - Deutsche Atomwaffenpolitik von Adenauer bis Brandt, Campus Verlag, Frankfurt/M. 1992.

 

12 Matthias Küntzel, Der Lohn des Protests - Zur deutsch-französischen Atomwaffenpolitik · konkret, Oktober 1995

 

13 Matthias Küntzel, Eurobombe statt Force de Frappe? Euratom und die nukleare Option Deutschlands ·Widersprüche, Winter 1995

 

16  Matthias Küntzel, Partners in Leadership - Clinton und Kohl: Verbündete auf Zeit? · iz3w, Dezember 1996

 

17 Überlegungen zur europäischen Politik das sogenannte Schäuble/Lamers-Papier der CDU/CSU-Bundestags-Fraktion vom 1. September 1994 S. 9

 

 

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Nicht seine Kritik der politischen Ökonomie lieferte Marx den Schluss auf jenes „revolutio-näre Subjekt“ namens „Prole-tariat“ – herleiten lässt sich aus ihr nichts dergleichen –, son-dern genau andersherum be-gründete die schiere Evidenz des Daseins und Wirkens die-ses Subjekts allererst eine Kritik der politischen Ökonomie, die das Kapital als „Durchgang“ hin zur menschlichen Gesellschaft diagnostiziert. Striche man da-gegen aus der Marxschen Di-agnose dieses einzige wahrhaft historisch-subjek­tive Moment darin aus, bliebe von ihr nur das Attest eines unaufhaltsa-men Verhängnisses.(*)

Wertkritischer Exorzismus
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