23.4. Deutschlands Drängen auf eine „neue“ NATO

Nach 1990 wurde die Stellung der NATO zum Hemmschuh neu aufkommender deutscher Expansionsbestrebungen und Weltmachtträume. Die Notwendigkeit des Fortbestands der NATO war für Deutschland mit dem Verschwinden der SU obsolet geworden.

Für die USA und ihre atlantischen Verbündeten wurde die NATO umso wichtiger. Das unerklärte Gründungsziel der NATO, die Anglo-Americans im Great Game des Weltmarkts drin zu halten, die SU draußen und die Deutschen unten zu halten, reduziert sich bis heute darauf, auf Grundlage der eigenen militärischen Dominanz Deutschlands Aufstieg zur Weltmacht durch dessen mittelfristige Einbindung in die NATO zumindest militärisch unter Kontrolle halten zu können.

Die von den USA schon 1989 von Bush Senior angebotene Partners in Leadership, die Clinton 1993 nochmals bekräftigte, wurde in der BRD eher als anmaßende Fortsetzung der alten US-Hegemonie denn als den neu-deutschen Großmachtinteressen gerecht werdend bewertet. Dreh- und Angelpunkt ist, dass jene Verantwortung in der Weltpolitik, welche die USA von Deutschland bis heute penetrant einfordert, die berechenbare Unterordnung der BRD unter deren politische Führung impliziert. Dass dies bei militärpolitischen Zuspitzungen, Reorganisation der Kriegsmaschinerie und der Bündnis- und Befehlsstrukturen die machtstrategischen deutschen Vorstellungen vom eigenständigen Kurs durchkreuzt, ist gewollt.

 

Worauf sich der vorhin zitierte Ausschnitt des Schäuble/Lamers-Papier im September 1994 bezüglich des Verhältnisses von WEU und NATO stützte1, lag ein halbes Jahr zurück:

 

Im Januar 1994 verbuchte die deutsche Außenpolitik mit den Ergebnissen des Nato-Gipfels ihren seither größten Erfolg. Gefeiert wurde diesmal intern: 'Seit Montag haben wir eine neue NATO’, so jubilierten die Bonner Vertreter in Brüssel. ,Die Deklaration der 16 Staats- und Regierungschefs ist säkular. Das war der wichtigste Nato-Gipfel seit dem Ende des Kalten Krieges.’ Tatsächlich hatten die 16 Verbündeten fast unbemerkt die sicherheits- und verteidigungspolitischen Weichen neu gestellt, schrieb die SZ. Die wesentlichen Ergebnisse des Gipfels:

  1. Nicht mehr die USA, sondern die WEU werden in Zukunft für Militärinterventionen in Europa verantwortlich sein. Infrastruktur und Ressourcen der NATO wird künftig die WEU – nach gemeinsamer Beratung – auch ohne US-Beteiligung nutzen können.

  2. Die so umgewandelte NATO offeriert allen osteuropäischen Staaten das Angebot vertiefter militärischer Zusammenarbeit mit der Perspektive einer möglichen späteren Aufnahme in das Bündnis.2

 

Im Januar 1994 schien Deutschland seinem Ziel einer eigenständigen europäischen Streitkraft so nahe zu sein, dass Schäuble/Lammers meinten, ab September Frankreich bezüglich GASVP und WEU vor sich hertreiben zu können. Die dann folgende, für Deutschland desaströse Entwicklung der WEU wurde im letzten Kapitel skizziert. Dass das Kapitel zur WEU in der Darstellung vorgezogen wurde, ergibt sich aus deren Abwicklung, so dass die NATO die ihr gebührende Stelle des letzten Kapitels von Unterabschnitt V2 einnimmt. Inhaltlich gehören beide Kapitel untrennbar zusammen. Das temporäre Austarieren beider militärpolitischer Komplexe gegensätzlicher nationaler Interessen wurde, chronologisch gesehen, parallel, auf einander abgestimmt seit der „Wiedervereinigung“ in diplomatischen Vorfeldern abgearbeitet. Die WEU wurde auf dem Verhandlungsweg zu den Maastricht-Verträgen von Deutschland als sicherheits- und verteidigungspolitisches Organ der GASP und GAVP als der dritten Säule der neuen EU fordernd ins Spiel gebracht. Deutschland baute einen gewaltigen Druck auf die „Partner“ auf, den diese elastisch aufzufangen suchten.

 

Die „neue“ NATO firmierte unter dem Logo „Partnership for Peace“ (P4P) und Deutschland fühlte sich das Jahr 1994 über als neue europäische Vormacht der NATO bestätigt. P4P erschien für Deutschland günstig, da auch mit einzelnen MOE-Staaten Absprachen getroffen werden konnten. Allerdings erwies sich das deutsche Vorpreschen bezüglich der Stellung der WEU im Nachhinein als deutscher Pyrrhussieg. Die mitteleuropäischen Staaten wurden noch vor der Jahrtausendwende formal Assoziationspartner des Papiertigers WEU. Die USA gingen 1997 ihrerseits in die Offensive und boten den MOE-Staaten die Mitgliedschaft in der NATO an. Polen, Tschechien und Ungarn konnten angesichts ihrer geographischen Einkreisung durch die unberechenbaren Möchtegern-Weltmächte Deutschland und Russland gar nicht anders, als das „Angebot“ 1999 anzunehmen.

 

Was die Erweiterung des NATO-Gebietes nach Osten betraf, so war der deutsche Verteidigungsminister ein Jahr lang rastlos in Europas Hauptstädten unterwegs und trommelte unentwegt für die Ausdehnung der NATO nach Osten. Der deutschen Konzeption hierzu lag die ideologische Kontinuität des großdeutschen Kerneuropa-Modells III samt überkommender Destabilisierungspolitik des deutschen Gesamtkapitals zugrunde:

 

Die Diskussion um die Aufnahme der mittelosteuropäischen Staaten in die NATO wurde im März 1993 mit einer Rede Volker Rühes vor dem Londoner 'Institut für Strategische Studien' formell losgetreten und später durch das P4P (Partnership for Peace) Konzept der USA mit einigem Aufwand in eine kontrollierbar erscheinende Bahn gezwängt. Ideologisch hatten schon im Herbst 1991 der FAZ-Historiker Arnulf Baring und der Verleger Jobst Siedler in ihrem Buch 'Deutschland – Was nun?' den Boden für die Rühe-Rede bereitet:

'Böhmen und Mähren sind ein Teil Europas, der deutschen Welt, hätte ich fast gesagt', erklärt darin Jobst Siedler und fährt fort: 'Wird es nicht eines Tages sozusagen Polnisch und Tschechisch und Ungarisch sprechende Deutsche geben müssen? Wird das nicht aus der Suprematie folgen, um die Deutschland meines Erachtens gar nicht herum kommen wird? ... Natürlich wollen wir die Polen nicht vertreiben, aber ich glaube in der Tat, eines Tages werden sich Pommern und Schlesien und Böhmen-Mähren wieder nach Deutschland orientieren.' (S. 92/105f)“3

 

Deutschlands Drängen zur Ausdehnung der NATO nach Osten bis an Russlands Grenzen waren den USA und ihren westlichen Alliierten als Atlantikanrainern nicht genehm, da sie Deutschlands Einbindung in den Westen durch ungewisse Stabilität im Osten gefährdet sahen und dessen Abwendung vom Westen und Hinwendung nach Osten befürchteten. Sie fürchteten die Neuordnung Süd-Mittel-Ost-Europa bis hin zu Annexionsgelüsten nach obigen überkommenen deutschen Hegemonieplänen. Zeitgleich belegte die deutsche Einflussnahme in Georgien nach 1990, dass Deutschland seine Dekompensationslinie gegenüber Russland wieder aufgenommen hatte.4

 

Alle zuvor zusammengetragenen außenpolitischen Anstrengungen der BRD nach 1989 belegen, dass Deutschland auf allen machtpolitischen Feldern jene wilhelminische Großmachtpolitik aufgriff, wie sie von Friedrich Naumann 1915 formuliert wurde:

 

Solange uns also die Sonne noch leuchtet, müssen wir den Gedanken haben, in die Reiche der Weltwirtschaftsmächte erster Klasse einzutreten. Dazu gehört die Angliederung der anderen mitteleuropäischen Staaten und Nationen. ... Ein lebensfähiges Mitteleuropa braucht angrenzende Agrargebiete ..., es braucht, wenn möglich, Erweiterung seiner nördlichen und südlichen Seeküste, es braucht seinen Anteil am überseeischen Kolonialbesitz."5 

 

Nach dem (vorübergehenden) Ausscheiden des mit Atomwaffen hoch gerüsteten neuen Russlands als weltpolitischer Antipode favorisierten die USA ein integriertes Europa einschließlich Russland als Deutschlands kontinental-europäisches Gegengewicht. Die bilaterale Annäherung der USA an Russland – so spiegelte sich beispielsweise in der Einladung russischer Militärstäbe zu US-Manövern auf einem bayrischen Truppenübungsplatz der US-Armee die Stoßrichtung der USA symbolisch wieder – war Berlin ein Dorn im Auge. Die USA und Russland teilten sich offensichtlich West- und Osteuropa als ihre Einflusssphären auf.

 

Berlin hingegen betrieb gegenüber Moskau keineswegs eine Politik der Integration in Europa. Schließlich hat Deutschland sich selbst als zuständig für die Neuordnung Europas ermächtigt und kann keine potentiell zu starke Konkurrenz dazu hinnehmen.

1994/95 wurde P4P dementsprechend gegensätzlich interpretiert:

 

So wird auf P4P-Ebene der Streit zwischen deutscher und westlicher Ideologie inzwischen wie folgt buchstabiert: 'Partnerschaft für den Frieden' bedeute, so Kinkel, 'ein Angebot, das rechtlich für sämtliche neuen Demokratien des Ostens, aber faktisch nicht für Rußland und die Ukraine gilt.' (FAZ, 22.12.) 'Angesichts der internationalen Bedeutung Rußlands', heißt es demgegenüber in der gemeinsamen Clinton/Jelzin-Erklärung vom 14.1., 'begrüßte Präsident Clinton die Aussicht auf eine aktive Beteiligung Rußlands an der Partnerschaft für den Frieden.' (Monitor-Dienst, 15.1.) 'Ziel sei ein integriertes Europa, das auch Rußland einschließe, betonte auch Perry.' (Monitor-Dienst, 8.2.)“6

 

Als Moskau Anfang 1994 Interesse an einer EU-Mitgliedschaft äußerte, wurde das in Berlin als Provokation aufgenommen. Alle unterdrückten antislawischen Affekte von wegen „asiatischer Despotie“ kamen in Deutschland zu dieser Zeit im Feuilleton hoch. Und wie schon in der Jugoslawienkrise argumentierte Deutschland bezüglich Osteuropa entsprechend 100 jähriger Manier geopolitisch. Klaus Kinkels Worten nach:

 

,Politik ist Geographie’ – dieser Satz trifft auf Deutschland wie auf kaum ein anderes Land zu. Wir sind aus der Randlage am Eisernen Vorhang wieder in die Mitte gerückt. ... Die Heranführung der mittel- und osteuropäischen Staaten an die Europäische Union, die NATO und die anderen euro-atlantischen Organisationen ist jetzt historische europäische Aufgabe. Deutschland ist ihr Anwalt. Die Völker in den Umbruchländern haben ihre Freiheit erkämpft. Wir haben sie aufgefordert, gedrängt, in unserer Freiheitsgemeinschaft zu kommen. Jetzt dürfen wir sie nicht im Stich lassen.' ('Europ. Sicherheit', Dezember 1993)“7

 

So legte die geographische „Mittellage“ dem armen neuen Deutschland „naturgemäß“ die schwere „natürliche“ Bürde auf, die slawischen Brüder in die „pangermanische Freiheitsgemeinschaft“ zu führen. Da kamen den „Partnern“ sicherlich die Krokodilstränen ob der Mühen des selbsternannten selbstlosen Anwalts der gerade aus der Vergewaltigung des rotlackierten russischen Bären entronnenen mittelosteuropäischen Staaten. Polemik beiseite. Deutschland hält Russland auf Distanz bei seinem dritten Neuordnungsversuch Europas und blockiert Russlands Annäherung an die EU grundsätzlich. Die Gefahr, dass Berlin als neues europäisches politisches Machtzentrum andernfalls durch ein atomwaffenstarrendes und ressourcenreiches Großmachtpolitik betreibendes neues Russland geschwächt wurde, wäre zu groß.

 

Dabei versucht die BRD zugleich, die Karte Russland als Druckmittel gegenüber dem Westen, vor allem den USA offen zu halten. Notfalls kann die BRD in Abwendung von der EU die eurasische Karte spielen im Bündnis mit Russland und gegebenenfalls China. Deutschland betreibt daher seinerseits nach 1990 bis heute doppelbödig und kontinuierlich eine Diplomatie des: Russen rein, Amis raus, Deutschland rauf. Dass Deutschland hierbei Russland das Zuckerbrot „Strategische Partnerschaft“ mit wirtschaftlichen Großprojekten zukommen lässt und gleichzeitig die Peitsche gegen Annäherung ehemaliger Republiken an das neue Großrussland schwingt, wie 2012 gegenüber der Ukraine, welche die BRD als ihre ureigenste Einflussregion ansieht und daher seit November 2013 mit einem EU-Assoziations-Abkommen lockt, gehört beim Osteuropa-Kurs Deutschlands „tradionell“ zusammen. Was die eurasische Karte Deutschlands überhaupt an Substanz aufzuweisen hat, wird später behandelt.

 

Dass die „neue“ NATO für Deutschland nur ein papierner Kompromiss war und Deutschland die EU militärbündnispolitisch von der NATO abkoppeln will, ist allen Beteiligten klar:

 

Immerhin hatte man auch in der bundeswehrnahen Zeitschrift 'Europäische Sicherheit' ausdrücklich offen gelassen, 'ob die WEU der europäische Pfeiler’ der Nato werden oder de facto zum Konkurrenten des atlantischen Bündnisses avancieren wird.' (ES 1/94) Daß die USA mit dieser Ambition schließlich 'ihren Frieden gemacht hatten', wie es bei Rühe später hieß, war die Überraschung der Saison. Clinton habe den WEU-Vorstoß zwar unterstützt, schrieb die IHT, allerdings nur, 'um die Europäer davon abzuhalten, eine separate multinationale Streitmacht außerhalb der Nato-Struktur zu errichten.'” (7.1.)8

 

Es handelte sich bei der vagen Formulierung der NATO P4P offensichtlich um ein taktisches Manöver der USA und Großbritanniens. Wie die USA die Einbindung Deutschlands in der NATO unter tatkräftiger Mithilfe interessegeleiteter europäischer Kollaborateure weiterhin bis heute bewerkstelligte und von der Seite her eigenständige EU-Streitkräfte ausgebremst wurden, wird noch zur Sprache kommen.

 

1 Dort heißt es: „In der Perspektive bedeutet das die Umwandlung der NATO in ein gleichgewichtiges Bündnis zwischen den USA und Kanada und Europa als handlungsfähige Einheit. In diesem Sinne muß die Revisionskonferenz 1996 gemäß Art. J.4 Abs. 6 die Beziehung zwischen WEU/EU umgestalten.

In der aktuellen Frage einer Neugestaltung der Beziehungen zwischen WEU und NATO für Nicht-Art. 5-Aufgaben (CJTF) muß eine Lösung gefunden werden, die aufgrund einer jeweiligen Entscheidung durch den NATO-Rat (und damit natürlich unter Beteiligung der USA) den Europäern ein eigenständiges Handeln unter Nutzung der NATO-Mittel und von Teilen der NATO-Stäbe ermöglicht.“

 

3 Ebenda

 

4 Die Hauptkriegsziele des Deutschen Reiches bezüglich des Zarenreiches und der Funktion des völkischen Separatismus dabei sind ausführlich dargestellt (allerdings nur in der Erstausgabe vollständig veröffentlicht) von: Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Droste 1966

 

5 F. Naumann, Mitteleuropa, Berlin 1915, S. 177 u.181 f.

 

6 Matthias Künzel, Der Zwang nach Osten – NATO-Erweiterung und Bundeswehrmission 2000, bahamas märz 1994

 

7 Ebenda

 

8 Ebenda

Nicht seine Kritik der politischen Ökonomie lieferte Marx den Schluss auf jenes „revolutio-näre Subjekt“ namens „Prole-tariat“ – herleiten lässt sich aus ihr nichts dergleichen –, son-dern genau andersherum be-gründete die schiere Evidenz des Daseins und Wirkens die-ses Subjekts allererst eine Kritik der politischen Ökonomie, die das Kapital als „Durchgang“ hin zur menschlichen Gesellschaft diagnostiziert. Striche man da-gegen aus der Marxschen Di-agnose dieses einzige wahrhaft historisch-subjek­tive Moment darin aus, bliebe von ihr nur das Attest eines unaufhaltsa-men Verhängnisses.(*)

Wertkritischer Exorzismus
Hässlicher Deutscher
Finanzmarktkrise