von D.D.
Dixi et salvavi animam meam[1]
Begonnen wurde der folgende nun leider fürchterlich lang geratene Text Mitte Juli. Meine ursprüngliche Absicht war nur, ein paar Bemerkungen zu dem jetzt im Abschnitt I (Blütenträume des Antikapitalismus) abgehandelten Text festzuhalten. Die wuchsen sich unterdessen aus, und meine Beschäftigung damit brachte es mit sich, dass ein zweiter Text aus der AKL mein Interesse auf sich zog, und anders als im Fall des ersten hat dieser zweite Text sich direkt in das gegenwärtige politische Geschehen verwickelt, ohne jedoch, wie ich denke, damit zurande zu kommen. Dem ist der Abschnitt II (Antikapitalismus und Grundrechte) gewidmet.
Mit den großen Corona-Protesten am ersten und am letzten Augustwochenende in Berlin war dann schließlich dieses Geschehen ein Stück in meinem Alltag eingebrochen. Ich habe beide Ereignisse im Internet mehr oder weniger live wie auch ihre Vor- und Nachbereitungen in der medialen sogenannten „Berichterstattung“ und diversen politischen Statements intensiv verfolgt (und zwischenzeitlich in Kiel auch selbst an einer Protestkundgebung teilgenommen) und bin entsetzt darüber, wie die Linke damit umgeht. Die Frucht meines Entsetzens kann nun vor allem im Abschnitt III (Die Corona-Opposition und das Proletariat) besichtigt werden.
Der ganze Text enthält sicherlich einige Redundanzen und erhebt auch nicht den Anspruch als eine in sich geschlossene, stringente Argumentation genommen zu werden. Man darf gerne wie in einem Panoptikum darin sich umtun, statt es brav von vorn bis hinten durchzulesen.
[1] Ich habe gesprochen und meine Seele gerettet. Frei nach einer Stelle aus dem Alten Testament, die auf gutbayerisch etwa lautet: Wannst aber däan Schuldig’n gwarnt hoast, daaß’r umkeeret, und’r tuet’s aber nit, naacherd stirbt’r an seiner Sündd, du aber bist oaußam Schneider.
I. Blütenträume des Antikapitalismusin einem Diskussionspapier der AKL Baden-WürttembergEinblenden |
„Da stehst du machtlos da, die Blüten fallen nieder.“
Der hier behandelte Text datiert vom 22. Mai 2020 und war auf den Internetseiten der Antikapitalistischen Linken eine ungewisse Zeit lang soweit ich weiß unter der Rubrik „Die Linke“ oder „Debatte“ gelistet und verlinkt. Inzwischen ist er unter keiner dieser Rubriken, sondern nur noch über die Suchfunktion zu finden. Es ist also fraglich, ob seine Autorenschaft den Text überhaupt noch zur Diskussion stellt. Sein Tenor findet sich allerdings in einer Reihe anderer Texte maßgeblicher Stimmen aus der AKL zur Coronakrise wieder. Aber das ist nicht der Grund, warum ich ausgerechnet ihn mir hier so ausführlich vorgenommen habe. Der liegt vielmehr darin, dass das Papier seinerzeit (ab Ende Mai) bei mehreren Skype Meetings der proletarischen Plattform als brauchbare Grundlage zur Formulierung einer Position in der Auseinandersetzung um den politischen Kurs der Linken in der Krise empfohlen wurde. Ich hatte diesbezüglich, nachdem ich mir den Text nur sehr flüchtig angesehen hatte, zwar deutlich meine Skepsis geäußert, hatte aber zunächst anderes in Sachen „Die Linke und die Coronakrise“ abzuarbeiten. Nachdem ich ihn mir dann schließlich näher angesehen habe, scheint es mir immerhin durchaus sinnvoll, in seiner Kritik die Selbstverständigung der proletarischen Plattform in Zeiten der „Corona“-induzierten Krise ein Stück voranzubringen. Die Überarbeitung des Textes durch die Hamburger AKL habe ich in meiner Kritik allerdings ebenso wenig berücksichtigt wie die intern herumgeschickten Änderungsvorschläge aus der proletarischen Plattform, denn ich denke nicht, dass der Text durch eine Überarbeitung welcher Art auch immer zu retten wäre.
„das Virus“
Fangen wir mit dem Anfang an, mit der Überschrift, an der sich scheint’s ein glückloser Poetry Slamer versucht hat. Sie lautet:
„Corona ist das Virus – Kapitalismus ist die Krankheit
Metaphorik hat, wie’s richtige Leben die seinen, ihre Tücken. Auf dem Weg vom Corona zur Krankheit kann schrecklich viel passieren.
In der Corona-Propaganda spielt die strikte Weigerung, sauber zu unterscheiden zwischen dem Virus, einer Infektion durch es und schließlich einer Erkrankung daran, eine wichtige Rolle. Und diese Weigerung wird umso wichtiger, je weniger man vom letzten der drei Glieder in der Reihe, also von der als Covid-19 bezeichneten Atemwegserkrankung zu vermelden hat. Inzwischen hält sich die Propaganda fast nur noch mit Infektionen auf, wobei auch von denen in Wahrheit – aber wer will die schon wissen – eigentlich allerhand Abstriche (Vorsicht: Teekesselchen!) zu machen wären. Richtiger müsste es statt „Infektionen“ heißen: positiv Getestete, unter denen halt auch solche sich befinden, bei denen zwar diejenigen charakteristischen Genabschnitte des Virus angetroffen wurden, auf die der Test anspricht, aber keine kompletten und also aktiven Viren, weshalb diese Getesteten weder Symptome haben, noch auch nur infektiös sein können. Und da hinzu kommen noch unvermeidlich immer auch etliche, bei denen das Positiv-Ergebnis des Tests überhaupt falsch ist – wovon die Propaganda natürlich erst recht nichts wissen möchte. Deren Zahl aber ist – wiederum unvermeidlich, weil unabhängig von der Qualität des Tests aus rein statistischen Gründen[1] – umso größer, je niedriger der Anteil der tatsächlich Positiven im jeweiligen Gesamtkontingent der Getesteten ist. Seit etwa einem Vierteljahr muss man nach den offiziellen Zahlen des RKI davon ausgehen, dass über die Hälfte der Positiv-Ergebnisse falsch sind. Zwischenzeitlich waren es mindestens sieben von zehn – immer vorausgesetzt, die Qualität sämtlicher Tests ist durchweg so gut, wie’s der Ringversuch von Anfang Mai[2] ausweist, was indes u. a. wegen der inzwischen nahezu verdreifachten Anzahl der Tests durchaus bezweifelt werden kann.
Man sieht: Mit Corona, dem Virus hat’s die mit ihm hantierende Propaganda ohnehin nicht leicht. Und nun kommt auch noch der Antikapitalismus daher, schnappt sich Corona, das Virus, scheucht seine obskure Krankheit ins Bett und einen Teil der Rettungsmannschaft davon. So weit, so lustig.
„Existenzängste ... nutzen“
Ob „Kapitalismus“ eine Krankheit sei oder vielmehr krank, das weiß der Antikapitalismus also nicht so genau, aber allemal ist ihm „Kapitalismus“ – nicht nur, aber Corona sei Dank, auch – ein klinischer Fall. Freilich einer, dem er die entsprechende Versorgung tunlichst versagt sehen möchte. Einerseits scheint „Kapitalismus“ ihm tödlich, andererseits sterbenskrank zu sein. Das eine wäre ihm das anzuklagende Übel, das andere seine große Hoffnung, in der antikapitalistischen Gesamtschau aber senkt sich eins ins andere: Hoffnung weil tödlich.
„Die Linke muss“, so schließlich der antikapitalistische Marschbefehl, „Existenzängste … nutzen“, was vielleicht nicht bloß von ungefähr erinnert an jene „gewünschte Schockwirkung“, auf die hinzuarbeiten, zu Beginn des Lockdowns Seehofers Ministerium den Mitregierenden zu dessen Durchsetzung empfohlen hatte.[3] Des in der ministeriellen Empfehlung ausdrücklich thematisierten Problems, die Angst, auf die man bauen will, erst noch bewirken zu müssen, sieht der Antikapitalismus sich und die Linke indes enthoben, wähnt er doch die anvisierte Klientel von den Angst erzeugenden existentiellen Nöten „Arbeitslosigkeit und Lohnverlust“ bereits betroffen. Während aber unsere politische Exekutive völlig zu Recht den Nutzen in der Bevölkerung grassierender existenzieller Ängste in einer vermehrten Bereitschaft „der Betroffenen“ sieht, sich ihrem autoritären Krisenmanagement zu unterwerfen, glaubt der Antikapitalismus offenbar an ein Wunder. Nutzen ziehen will er nämlich desweiteren aus einer den Existenzängsten auf mysteriöse Weise entströmenden „Ablehnung von repressiven Grundrechtseinschränkungen“.
Wann und wo er dergleichen angetroffen haben will, verrät er nicht. Erst recht übrigens wohlweislich nicht, wie er denn damit – vom „nutzen“ einmal abgesehen – des näheren umzugehen gedächte, käme er zum Zuge. Dass die Bekämpfung der von einem gefährlichen Virus ausgehenden Epidemie ohne Grundrechtseinschränkungen auskäme, kann nämlich auch er im Ernst nicht behaupten. „Isolierung von Infizierten“ hält er ausdrücklich für geboten und sogar für möglich, dass die Regierenden wegen mangelhaften Testens darin zu lax gewesen seien. Auch mit „Einschränkungen für die Bewegungsfreiheit“ ist er einverstanden, findet allerdings, wovon gleich noch zu sprechen sein wird, dass sie „nicht in diesem Umfang nötig gewesen wären“, hätte man nur hinreichend getestet. Eine Bewertung des Krisenmanagements mithin, die in der Bevölkerung zwar keine Mehrheit finden, aber sicherlich eine gewisse Verbreitung haben dürfte. Eine „Ablehnung von repressiven Grundrechtseinschränkungen“ seitens des Antikapitalismus ist das jedoch nicht.[4] Der Nutzen, den die Linke aus einer derartigen Änderung ihres jetzigen politischen Kurses des mal nörgelnden, mal applaudierenden Mitlaufens im herrschenden Krisenmanagement ziehen könnte, fiele entsprechend dürftig aus.
„Kurswechsel“
Von solcher Inkonsistenz seiner Argumentation lässt sich der Antikapitalismus aber nicht beirren. Im Tonfall einer linksradikalen Minisekte, die niemand fragt, erteilt er der Linken reihenweise weitere Ratschläge, was sie alles aus antikapitalistischer Sicht tun „muss“, ist aber außerstande, kritisch zu sichten, was diese Linke bislang getan hat – eine Litanei, von der nur an einer einzigen Stelle ein bisschen abgewichen wird, nämlich im ersten Satz des siebten von zwölf „Kernpunkten“, die für den antikapitalistisch gewünschten „Kurswechsel“ der Linken nötig seien. Etwas unvermittelt heißt es dort: „Im Bundestag hätte Die LINKE Fraktion geschlossen gegen das Hilfspaket vom 28. März stimmen und der Öffentlichkeit erklären müssen warum sie dagegen stimmt und was ihre Alternative dazu ist.“ Aber schon im nächsten Satz klappert die Gebetsmühle weiter: „In Reden im Bundestag muss die Bundestagsfraktion von DIE LINKE die Bundesregierung angreifen und ein antikapitalistisches Programm im Interesse der arbeitenden Bevölkerung dagegen stellen und die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen auffordern mit der Linken dafür zu kämpfen.“ Und so weiter und so fort … Und selbst der Satz, der erzählt, was bezüglich des Hilfspakets die Linke im Bundestag „hätte“ tun sollen, lässt kein Interesse an der Frage danach erkennen, was die Linksfraktion getan hat.
Besagtes „Hilfspaket“ (auf das wir unten noch einmal zurückkommen) wurde am 25. März von den anwesenden Abgeordneten der Linken durchgängig und geschlossen mitgetragen, nicht zugestimmt, indem sie sich enthielt, hatte nur die AfD. An diesem Abschnitt hatte also die Front gegen „Corona“ von links bis christlich-sozial nicht ein bisschen gewackelt. Völlig außer Betracht des in die „Systemfrage“ vernarrten Antikapitalismus scheint dagegen zu liegen, was ebenfalls am 25. März verhandelt und beschlossen wurde, jedoch das vom Antikapitalismus hier mit Beschlag belegte „Interesse der arbeitenden Bevölkerung“ in viel größerem Maße unmittelbar tangiert als das sogenannte „Hilfspaket“: nämlich die Änderung des Arbeitszeitgesetzes. Und anders als beim Hilfspaket war an diesem Frontabschnitt ein wenn auch sehr leises Wackeln der Linksfraktion wahrnehmbar.
Seinen markantesten Ausdruck fand das, wie an anderer Stelle bereits berichtet,[5] darin, dass die Fraktion in der zweiten Lesung des entsprechenden Gesetzespakets gegen diese Änderung gestimmt und erst in der abschließenden dritten Lesung dann dem Gesamtpaket, das u. a. die Änderung enthielt, zugestimmt hat. Ein schwacher Nachhall dieser verhaltenen Obstruktion gegen den corona-getriebenen Abriss von Arbeitszeitbegrenzungen klang einen Monat später an in einem „Positionspapier“ zweier Arbeitskreise der Fraktion[6] vom 27. April, das „Sofortige Schutzmaßnahmen und Lohnzuschlag“ für die 80.000 Saisonarbeitskräfte forderte, denen soeben die Bundesregierung für ihren Einsatz als Erntehelfer die Einreise ermöglicht hatte. Unter der etwas vorlauten Zwischenüberschrift „Die Fraktion DIE LINKE. im Bundestag fordert“ findet sich darin im neunten von zwölf Spiegelstrichen ganz pauschal formuliert: „Keine Ausnahmen aufgrund von § 14 Absatz 4 des Arbeitszeitgesetzes“ – ohne freilich die aufgrund eben desselben § 14, Absatz 4 drei Wochen zuvor bereits verordneten Ausnahmen zu erwähnen oder gar ausdrücklich deren Aufhebung zu verlangen. Und wohlgemerkt: Das Papier gab nicht die Position der Fraktion wieder, sondern die zweier der sechs Arbeitskreise der Fraktion.
Passend dazu wie die Faust aufs Auge brachte die Fraktion dann weitere zwei Wochen später den ebenfalls andernorts bereits in Augenschein genommenen Antrag ein, der u. a. forderte, die Pflegekräfte aus der Verordnung „herauszunehmen“. In der Plenardebatte zu diesem Antrag gab es ein ganz unscheinbares, kleines Verwirrspiel um die Frage, worauf die Antragsteller mit dieser Forderung denn hinauswollten. Als der CDU-Abgeordnete Lothar Riebsamen in seiner Rede seine rhetorische Frage, was die Linken in ihrem Antrag denn forderten, völlig korrekt selbst beantwortete: „Sie wollen die Verordnung durchaus weitergelten lassen für alle anderen Berufe: für das ärztliche Personal, für das medizinisch-technische Personal, Physiotherapie usw. …“ notiert das Protokoll den rechtschaffenen, wenn auch leider wahrheitswidrigen Zwischenruf Susanne Ferschls, die zuvor für die Linksfraktion den Antrag vorgestellt hatte: „Falsch! Das stimmt nicht! Wir wollen sie generell weg!“[7]
Wie gesagt: eine ganz unscheinbare Episode, und natürlich ohne irgendeine Beweiskraft. Aber mutmaßen oder auch nur ein winziges bisschen hoffen darf man schon, dass die Leiterin des Arbeitskreises „Arbeit, Soziales und Gesundheit“ der Linksfraktion hier vielleicht dem von der Fraktionsdisziplin ausgehenden Druck auf ihre „Position“, die in diesem Punkt immerhin die des Wahlprogramms wäre, auf dem ihr Mandat beruht, für einen kurzen Augenblick ein Ventil geöffnet hat.[8] Und man darf vor allem, ja man muss fragen, was für ein „Programm im Interesse der arbeitenden Bevölkerung“ jemand der Linken aufschwatzen will, der deren gegebenes Programm, dessen Verhältnis zum „Interesse der arbeitenden Bevölkerung“ und das, was die Partei im Parlament damit anfängt, komplett ignoriert. Oder auch, was für ein „radikaler Kurswechsel“ der Linken jemandem eigentlich vorschwebt, der sich für deren tatsächlichen Kurs und dessen bedenkliches Schlingern gar nicht interessiert.
„keine Naturkatastrophe“
Was aber wären denn die „Kernpunkte eines solchen Kurswechsels“?
Wenig anderes als nach den zahlreichen offiziellen Verlautbarungen der Partei oder ihrer Linksfraktion bereits auf deren politischer Agenda stand bzw. weiterhin steht – allerdings rhetorisch aufgesteilt durch eine Akzentverschiebung dahin, die „Verantwortung“ für alle Misshelligkeiten der Krise einerseits der Bundesregierung, andererseits aber vor allem „dem kapitalistischen System“ anzulasten.
Unter der Prämisse eines akuten Notstands, wie ihn, hierin im Einvernehmen mit seiner Partei und der Regierung, auch der Antikapitalismus für unzweifelhaft gegeben hält („Klar ist allerdings, dass der Virus weiter eine starke Gesundheitsgefährdung ist“), wird jedoch die Frage, wer oder was welche Verantwortung für das eingetretene Desaster trägt, ausgesprochen nachrangig. Wer sich damit jetzt politisch aufhält, macht es sich demonstrativ bequem darin, dass er anderen den Job überlässt, mit Tatkraft die Gefahr einzudämmen und zu beseitigen. Die linke Parteiführung tat, wenn auch sonst so gut wie nichts Gutes, sicher gut daran, solchen Attitüden in den eigenen Reihen frühzeitig entgegenzuwirken: „Die Pandemie, eine Ausnahmesituation, die einer Naturkatastrophe gleichkommt, eignet sich nicht, um Profit daraus zu schlagen, weder wirtschaftlich, noch politisch. Nur gemeinsam und solidarisch können wir diese Herausforderung meistern“[9], hieß es schon am 13. März in einem Diskussionspapier von Katja Kipping u. a. Denn sich stattdessen hinzustellen und der Welt oder wem auch immer „[zu] erklären, dass das Corona-Virus keine Naturkatastrophe ist, sondern dass die Übertragung des Corona-Virus auf den Mensch durch den rücksichtslosen Umgang des kapitalistischen Systems mit der Natur verursacht wurde“, wie’s gleich der erste der zwölf „Kernpunkte“ der Linken empfiehlt, wäre für eine politische Partei in dieser Situation der Offenbarungseid. Gedanklich ebenso flach wie politisch bestenfalls belanglos, verrät schon der Spitzenplatz dieser allumfassenden Anklage eines sogenannten „kapitalistischen Systems“ auf der Liste seiner Empfehlungen an die Linke, wie unendlich fern dem Antikapitalismus ein politischer Umgang mit der gegebenen Krise liegt.
Aber auch die im Anschluss folgenden, weniger aufs System als auf das jetzige Krisenmanagement gemünzten Anklagepunkte lassen jedes Interesse an der Untersuchung oder gar Behebung konkreter Mängel oder Fehlentwicklungen in der Bewältigung einer angeblich akut sich entwickelnden Katastrophe vermissen. Nicht als hier und jetzt zu wendende Not will der Antikapitalismus diese von der Linken behandelt sehen, sondern als eine beim Schopfe zu packende Gelegenheit, sich in Szene zu setzen als ein ganz anderes Krisenmanagement, mit dem alles Gut werden könnte, schöbe man das realexistierende beiseite und ließe jenes andere Management nur endlich machen. Eine Haltung, die entweder völlig verantwortungslos wäre oder halt verrät, dass man an die Katastrophe in Wahrheit gar nicht glaubt.
„Steilvorlage“
In den Einzelheiten handelte es sich, wie gesagt, meist nur um eine Akzentverschiebung, keinen wirklichen „Kurswechsel“; nur um eine um etliche Grade plumpere Variante dessen, was die Linke sowieso schon die ganze Zeit treibt. Hier und da geht’s dann allerdings noch schlimmer. Zwar ist man sich mit der übrigen Linken beispielsweise ganz und gar darin einig, dass auf Teufel komm raus getestet werden muss, sowie auch darin, nicht nach Sinn und Zweck der Testerei zu fragen. Wo aber die Linke im Bundestag „[e]ine schnelle, massenhafte Ausweitung der Testkapazitäten“ befürwortet und den Gesundheitsminister dafür gelobt hat, dass er „die Anregung der LINKEN aufgreift … die Mithilfe tierärztlicher Labore“[10] in Anspruch zu nehmen, bleibt der Antikapitalismus beim „hätte, hätte …“, schwadroniert von „vorhandenen Testkapazitäten“, die „nicht“ (man weiß nicht, zu welchem unerfindlichen Zweck man das hätte tun sollen, nachdem sie doch „vorhanden“ sind) „beschlagnahmt wurden“, und behauptet so kenntnislos wie dreist, dass bei hinreichend gesteigerter Massenhaftigkeit der Tests „der shut down nicht in diesem Umfang nötig gewesen“ wäre. Dies, nachdem er einige Absätze davor moniert hatte, dass „für den Profit“ ein shutdown von weit größerem Umfang, nämlich die Stilllegung der Produktion „in den meisten Industriebetrieben“, ausgeblieben sei.
Vollends ins Delir ist der Antikapitalismus dann allem Anschein nach unter Punkt acht abgestürzt, wenn er schreibt: „Die Linke muss die Abkehr der herrschenden Klasse von der Schuldenbremse und die staatliche Intervention als Steilvorlage betrachten, um zu erklären, dass die Wirtschaft nicht länger dem Markt ausgeliefert werden sein darf“, und dafür plädiert, die Gelegenheit zu ergreifen, einen Sozialimus à la SAV oder ähnlicher Kleinstvereine zu predigen.
Wie es sich wirklich mit der ominösen „Schuldenbremse“ derzeit verhält, entnimmt man besser zum Beispiel einer Pressemitteilung der Linken im Bundestag vom 14. Mai, worin deren haushaltspolitische Sprecherin, Gesine Lötzsch, u. a. „eine Streichung der Schuldenbremse aus dem Grundgesetz“ fordert; jener „Schuldenbremse“ also, von der wer auch immer angeblich „abgekehrt“ sei, sie gar, wie es weiter oben im „Diskussionspapier“ geheißen hatte, „über den Haufen geworfen“ habe. Hilfreich bei der Selbstaufklärung in dieser Sache könnte zudem eine nähere Beschäftigung mit dem parlamentarischen Prozedere rund um das sogenannte „Hilfspaket“ sein, welchem, wie wir oben sahen, in einem schwachen Moment auch der Antikapitalismus seine flüchtige Aufmerksamkeit geschenkt hat.
Ersichtlich würde dann, dass das als „Schuldenbremse“ bezeichnete, 2009 ins Grundgesetz hinein geschriebene und von vornherein mit einer gewissen Flexibilität versehene Verbot staatlicher Neuverschuldung immer schon zusätzlich seine ausnahmsweise und vorübergehende Aussetzung für den Fall vorsah, dass eine Mehrheit der Mitglieder des Bundestages das Bestehen der dazu nötigen „außergewöhnlichen“ Voraussetzungen feststellt. Diese Feststellung hat der Bundestag am 25. März (bei drei Gegenstimmen aus der AfD-Fraktion, die sich im übrigen enthalten hat) getroffen und damit einhergehend einen Nachtrag für das Haushaltsjahr 2020 mitsamt einer dazu erforderlichen Kreditaufnahme genehmigt, die um knapp 100 Milliarden Euro (das sind etwa ein Drittel des jährlichen Gesamthaushalts) eine für gewöhnlich geltende sogenannte „Regelgrenze“ für Kreditaufnahmen überschreitet. Bestandteil dieser Entscheidung ist außerdem ein vom Gesetz geforderter Tilgungsplan, nach dem ab 2023 in einem Zeitraum von 20 Jahren in Höhe der Überschreitung diese Kreditaufnahme schrittweise, wie es da heißt, „zurückgeführt“ wird.[11]
In der dieser Entscheidung vorausgehenden Debatte merkte die Sprecherin der Linken, Gesine Lötzsch, daher an, man sollte „aus der Finanzkrise gelernt“ haben, dass „während der Krise, also jetzt, geklärt werden“ müsse, „wer die Zeche zahlt.“ Denn: „Aufgrund der Finanzkrise wurden Krankenhäuser, Pflegeheime, Schulen, Universitäten und die öffentliche Verwaltung heruntergespart.“[12]
„Klassencharakter“
Kann hinsichtlich der „Schuldenbremse“ also von einer „Abkehr“ nicht die Rede sein, so schon gar nicht von der einer kompletten „herrschenden Klasse“, als hätte so etwas bis vor kurzem mit seinem gemeinsamen Fuß auf jener „Bremse“ gestanden und ihn wegen „Corona“ jetzt von ihr genommen. Das allzu schlichte Bild davon, wer hierzulande was entscheidet und gar „herrscht“, dementiert sich denn auch umgehend selbst in der Rede von der „Wirtschaft“, die „dem Markt ausgeliefert“ sei; eine Redensart, die ihrerseits die wirklichen Verhältnisse der vom Kapital geformten Welt eher vernebelt, als sie aufzuklären. Denn „die Wirtschaft“, d. h. die Wirtschaft des Kapitals im Ganzen genommen, ist keinerlei Markt „ausgeliefert“, sondern gestaltet ihre Welt vermittels verschiedener Märkte. Einem Markt buchstäblich „ausgeliefert“, mit allen schlimmen Implikationen, an die der Ausdruck denken lässt, werden in eben dieser Welt, solange niemand in ihr sie antastet, allerdings regelmäßig alle diejenigen, denen ihre auf entlohnter Beschäftigung beruhende Daseinsgrundlage abhanden gekommen ist, weil es der Konjunkturverlauf verlangt oder auch nur persönliche Umstände sie ihnen geraubt hat.
„Die Linke muss den Klassencharakter der staatlichen Finanzhilfen und Grundrechtseinschränkungen schonungslos aufdecken“, hatte der Antikapitalismus eben noch unter Punkt sechs getönt, um nun sein hohles Gedröhne verrauschen zu lassen in einem kleinlauten Gemurmel von „dem Markt“, dem ein über jeden Klassencharakter erhabenes Etwas, das sich „die Wirtschaft“ nennt, „ausgeliefert“ werde. Dabei wäre es durchaus sehr angebracht, jenen „Klassencharakter der staatlichen Finanzhilfen und Grundrechtseinschränkungen“, statt ihn so schonungs- wie gedankenlos bloß „aufzudecken“, also von ihm zu schwafeln, vielmehr genauer ins Auge zu fassen.
Was die Grundrechtseinschränkungen angeht, so steht zu vermuten, dass derjenige klassenmäßige Gesichtspunkt, der in ihrem Fall besonders zu Buche schlägt, dem Antikapitalismus gar nicht in den Sinn gekommen ist. Eines der ersten durch Corona untergepflügten Grundrechte war nämlich die Gewerbefreiheit, und daher fiel eine beträchtliche Zahl kleiner bis kleinster Gewerbetreibender, namentlich im Einzelhandel und der Gastronomie, meist klassisches Kleinbürgertum also, deren Einschränkung zum Opfer. Der mediale Durchhaltekitsch zum Coronakrieg hat immer wieder gerne kleine Melodramen oder Heldenliedchen davon erzählt. Was dagegen die staatlichen Finanzhilfen und ihren Klassencharakter angeht, so wäre näher zu untersuchen, wie sie sich verteilen auf einerseits die beim Antikapitalismus besonders übel beleumundeten „Banken und Konzerne“ sowie sonstige ordinär kapitalistische Unternehmen und andererseits besagtes vom Lockdown zum Teil wahrscheinlich in viel größerem Maße gebeuteltes Kleingewerbe und Freiberuflertum.
„Konkurrenzkampf“
Für den Klassengesichtspunkt aber noch viel wichtiger und bezeichnender Weise ganz außerhalb irgendeiner Berichterstattung oder gar politischen Diskussion ist die Frage danach, wie es sich mit der sicher nicht geringen Zahl derjenigen verhält, die im Zuge vieler kleingewerblicher Pleiten ihren oft sehr mickrig entlohnten Job im Dienste dieses Kleingewerbes verloren haben. Während Konzerne und andere Unternehmen von einiger Größe aus dem Topf der Arbeitsagentur großzügig bedient werden, um via Kurzarbeit ihre Belegschaften trotz Einbruch von Absatz und Produktion zu großen Teilen in Bereitschaft zu halten, erfährt man fast nichts darüber, was diejenigen erleben, die jetzt wegen des Lockdowns über Nacht arbeitslos geworden sind, nachdem im selben Moment die lokalen Dependancen der Arbeitsagentur und die Jobcenter für den Publikumsverkehr geschlossen worden sind. Die ohnehin notorische Geneigtheit dieser Institutionen zur Schikane ihrer „Kundschaft“ dürfte in dieser Situation – vorsichtig gesagt – kaum abgeklungen sein. Die Vermutung scheint mir vielmehr nicht abwegig, dass namentlich die eng am Zügel des Bundesarbeitsministeriums geführte Arbeitsagentur angehalten ist, ihr Geld, so gut es geht, für den Einsatz zur Standortpflege zusammenzuhalten, und also erfindungsreich darin zu sein, es nicht in der Unterstützung von Leuten zu verpulvern, die mutmaßlich über kurz oder lang sowieso im Bezug von ALG II landen werden.[13]
Wer ein „Programm im Interesse der arbeitenden Bevölkerung“ im Sinn hat, könnte zumindest in einem stillen Hinterstübchen seines marxistisch präformierten Intellekts noch darum wissen, dass eine solche Bevölkerung notwendigerweise und wesentlich gekennzeichnet ist durch ihre Teilung in die einen, deren Arbeit vom Kapital aktuell verwertet wird, und die anderen, die ihre Fähigkeit zur Arbeit auf dem entsprechenden Markt zum Verkauf anbieten müssen, weil das Kapital die sachlichen Bedingungen monopolisiert, die es braucht, ihre Fähigkeit wirklich „arbeitend“ zu aktualisieren. Ein Programm im „Interesse“ der so verstandenen „arbeitenden Bevölkerung“ dürfte sich nicht erlauben, einen „Konkurrenzkampf“, worauf die „kapitalistische Wirtschaft“ angeblich beruhe, ganz im Allgemeinen zu beklagen, wie’s das „Diskussionspapier“ gleich zu Beginn tut. Es hätte vielmehr die sehr spezifische Konkurrenz ins Auge zu fassen, worauf, nach einer prägnanten Formel im kommunistischen Manifest, der dem Kapital unterworfene Status dieser exklusiven Bevölkerung „ausschließlich“ beruht: nämlich die „Konkurrenz der Arbeiter unter sich.“[14]
„Mitmachpartei“
Zudem sollte, wer in der jetzt angebahnten Krise ausdrücklich der Partei Die Linke ein aktualisiertes „Programm im Interesse der arbeitenden Bevölkerung“ anempfiehlt, vielleicht auch einmal sich bequemen, des poltischen Charakters dieser Partei, ihrer Entstehungs- wie auch ihrer inzwischen nicht mehr gar so kurzen Entwicklungsgeschichte sich zu erinnern; daran, dass die Partei ihre Entstehung in der jetzigen Form und damit ihre ganze Existenz jedenfalls im größeren Westen der Republik einer, wenn auch arg verspäteten, breiten Protestbewegung gegen die sogenannte „Hartz-Reform“ verdankt und namentlich dort anfangs weit entfernt war von so etwas wie einer „sozialistischen Mitmachpartei“, die ihrem Publikum „die Vision … einer Welt“ aufzeigt, „in der der Kapitalismus weltweit abgeschafft ist und … die enormen Ressourcen, die Produktionskapazitäten, die Fabriken, die Technik, die Arbeitsfähigkeit, das Wissen, die Fähigkeiten, die Kreativität der Menschen genutzt werden im Interesse von Mensch und Natur statt im Interesse des Profits.“
Die Beschäftigung mit Visionen, die derart gnadenlos abstrahieren von allen realexistierenden Menschen und ihren wiederstreitenden wirklichen Interessen und Profiten (von der ominösen „Natur“ gar nicht zu reden), dürfte, was die Partei betrifft, auch künftig in der Spezialität der einen oder anderen ihrer Arbeitsgemeinschaften oder in diskursiven Veranstaltungen zur politischen Bildung gut aufgehoben sein. Und was den „Sozialismus“ angeht: Derjenige der Partei Die Linke war eigentlich nie der Ausweis einer strengen Ausrichtung am „Interesse der arbeitenden Bevölkerung“ gewesen. Eher im Gegenteil. Zunächst kaum mehr als das arg zerbeulte emblematische Erbe des aus der Alleinregierungspartei SED hervorgegangenen, an Mitglieder- und Wählerzahl ungleich schwerer wiegenden östlichen Fusionspartners, vertrat das Etikett des „Sozialismus“ von Beginn an vielmehr im neuen Parteiprojekt die seitens der PDS schon länger betriebene Annäherung an jene ordinär sozialdemokratische Politik, von der sein westlicher Part sich gerade getrennt hatte. Zur Anbahnung der Hochzeit hatte die für „Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ angetretene Braut aus dem Westen als Beweis ihrer Ehetauglichkeit dem Demokratischen Sozialismus, der im Land Berlin gerade mit der SPD zusammen regierte, ihren dieser Regierung opponierenden Berliner Landesverband als Schlachtopfer darbringen müssen.[15]
„früher oder später“
„In Deutschland ist die Arbeitslosigkeit im April um 308.000 auf 2,6 Millionen (5,8%) gestiegen“, hat uns der Antikapitalismus u. a. wissen lassen, bevor er schließlich sein pausbäckiges Programm ausbreitet, wie die Linke über die antikapitalistische Niederringung eines Virus, „Existenzängste“ nutzend, zum demokratischen Sozialimus vorstoßen könnte. Schaut man nach in den Monatsberichten der Arbeitsagentur zur Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Deutschland, dann ergibt sich in der Tat ein hochdramatisches Bild. Dramatisch vor allem dann, wenn man die Entwicklung des Unterschieds der Zahlen zu denen desselben Zeitraums im Vorjahr beachtet. Noch im März war da ein nur wenig aufregender Unterschied von 1,5 Prozent zu verzeichnen gewesen, der dann im April auf 18,6 Prozent und im Mai auf 25,8 Prozent hochgeschnellt ist. Im Juni hat sich dieser rapide Anstieg etwas verlangsamt auf 28,7 Prozent, blieb aber ein nochmaliger beträchtlicher Anstieg, um im Juli und August erst einmal leicht zurückzugehen auf 27,9 bzw. 27,4 Prozent, wobei dieser leichte Rückgang im Vergleich zum Vorjahr aber einhergeht mit einem fortgesetzten Anstieg der Arbeitslosigkeit gegenüber dem jeweiligen Vormonat in diesem Jahr.[16]
Keine Frage also, dass bereits jetzt die Zahl derjenigen unter der „arbeitenden Bevölkerung“, die von existentiellen Nöten akut erfasst sind, einen kräftigen Schub erhalten hat und dass – nicht zuletzt mit Blick auf die astromische Zahl derer, die sich in Kurzarbeit befinden – noch weit mehr darunter allen Grund haben, sich um ihre Existenz in naher Zukunft große Sorgen zu machen. Nichtsdestotrotz liegt die offizielle Arbeitslosenquote aber selbst jetzt mit 6,2 Prozent im Juni, 6,3 Prozent im Juli und 6,4 Prozent im August noch deutlich unter den Quoten der Krisenjahre 2008 bis 2011 mit deren Höhepunkt von 9,1 Prozent 2009. Und die waren obendrein ihrerseits, gemessen am Ausmaß des damaligen konjunkturellen Einbruchs und verglichen mit den Jahren davor, ziemlich glimpflich ausgefallen. Letzteres sicherlich vor allem aufgrund des seinerzeit erstmals ausgiebig eingesetzten Instruments der Kurzarbeit. Bei der rasanten Talfahrt, in der die Weltwirtschaft jetzt begriffen ist, wird das wahrscheinlich so nicht bleiben. Und kaum weniger wahrscheinlich, so ist zu befürchten, dürfte der im „Diskussionspapier“ zitierte Stuttgarter Ministerpräsident mit seiner düsteren Prognose Recht behalten, dass „die meisten Menschen … nach der Corona-Krise“ (sehen wir einmal davon ab, dass es zwar irgendwann sicher ein „nach der Krise“, aber vielleicht kein „nach Corona“ geben wird) „erstmal ärmer sein“ werden.
„Es ist davon auszugehen“, kommentiert der Antikapitalismus solche Aussichten – und liest sich dabei wie eine billige Imitation des Orakels von Delphi –, „dass sich früher oder später erbitterte betriebliche und verallgemeinerte gewerkschaftliche und soziale Kämpfe entwickeln“. Als wäre das Früher oder Später nicht regelmäßig ein entscheidendes Datum in sozialen Auseinandersetzungen, als entschiede nicht gerade dies, der Zeitpunkt des Handelns bzw. Nichthandelns, in allen politischen Dingen über ihren Erfolg oder Misserfolg! Und als wäre es überdies nichts als selbstverständlich, dass eine politische Partei wie die Linke einem solchen Früher oder Später des Kampfes gegen das „ärmer sein“ wie einem vom eigenen Tun und Lassen völlig unabhängigen Schicksal bloß gegenüberstünde! Als wäre sie nicht dereinst aus einem „verallgemeinerten sozialen Kampf“ gegen die Hartz-Gesetze unmittelbar hervorgegangen und hätte sie nicht darin eine bestimmte Rolle gespielt! Und als wären nicht schließlich die vorläufige Bilanz dieser Auseinandersetzungen und ihr jetziger Stand ein entscheidender Parameter, der sowohl das Früher oder Später anstehender „sozialer Kämpfe“ prädestiniert wie deren bestimmten Zwecke, Mittel und Ziele!
„grundsätzliche Veränderungen“
In Wahrheit geht der Antikapitalismus allerdings wohl eher nicht von einem Früher der Gegenwehr gegen die ins Haus stehenden neuerlichen Verarmungsprozesse aus, sondern von einem deutlichen Später, wenn nicht gar einem Zuspät. Ob jene Kämpfe, wovon er befunden hat, dass „davon auszugehen“ sei, nicht doch in der Lage sein werden, das von Kretschmann angekündigte „ärmer sein“ der „meisten Menschen“ aufzuhalten, interessiert ihn nicht sonderlich. Er hat Größeres im Sinn, lässt einmal mehr im eigentlich sektentypischen Sprech, der Politik immer bloß simuliert, „[v]iele Menschen“ aufmarschieren, die den Eindruck machen, „bereits“ zu „argumentieren“, wie er selbst: dass nämlich „die Krise für grundsätzliche Veränderungen genutzt werden muss“. Eine „enorme Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen und eine enorme Entfremdung mit den etablierten Parteien“ habe „sich bereits im letzten Aufschwung“ entwickelt und legt ihm anscheinend nahe, dass im jetzigen Abschwung das nur so weitergehen kann. Dass im Zuge jenes letzten Aufschwungs auch Die Linke schließlich ihr Plätzchen im Kreise der etablierten Parteien eingenommen hat und daher ganz andere politische Kräfte die Ernte der Unzufriedenheit eingefahren haben, ignoriert er dabei ebenso geflissentlich wie die deutlichen Anzeichen dafür, dass „Corona“ und Krise jetzt die Erosion der Einheit zwischen Volk und etablierter Politik bis auf weiteres kräftig ausgebremst haben.
Ganz rührend wird’s schließlich bei der Aufzählung dessen, was zu jenen „grundsätzliche[n] Veränderungen“, für welche „die Krise … genutzt werden muss“, alles „dazu gehört“. Wünscht er sich zunächst ganz allgemeinplätzig, aber noch halbwegs bodenständig „ein nicht profitorientiertes Gesundheitswesen“, erwartet er bald, „weniger Flugzeuge am Himmel“ zu sehen und dass „weniger Autos gebaut werden.“ Den politischen Kurs der Linken zu kritisieren, traut der Antikapitalismus sich nicht, will ihn nur gewechselt wissen in eine Richtung, an deren traurigem Ende eine „sozialistische Mitmachpartei“ herauskommen soll. Oder sollte man nicht besser sagen: eine Drückerkolonne in Sachen seines visionären „Sozialismus“?
Unwahrscheinlich, dass für so etwas in einer Partei, die immerhin eine gewisse Mindestzahl an Wählerstimmen braucht, um zu sein, was sie ist, Begeisterung entbrennt. Und ziemlich unwahrscheinlich auch, dass der Antikapitalismus im Ernst darauf rechnet. Er gleicht vielmehr jenem kleinen Jungen, der sich im dunklen Wald verlaufen hat und, um sich selber Mut zu machen, ein lustiges Liedchen pfeift, während er klammheimlich bangt und hofft, dass jemand kommt und ihm den Weg nach Hause weist. Denn welches Schicksal die Interessen der vielfach – wenn auch ziemlich begrifflos – beschworenen „arbeitenden Bevölkerung“ in der schweren Krise erleiden, die jetzt dies Land und die Welt ergriffen hat, dürfte selbst für Menschen, die sich dem Antikapitalismus verschrieben haben, im Detail kein bloß theoretisches Problem oder Thema für den Agitprop darstellen, sondern auch für sie „früher oder später“ existentiell praktisch werden.
„Milliarden Steuergelder“
Desgleichen ebenfalls nicht nur theoretisch, sondern praktisch höchst wichtig wird die Frage werden, als was sich diejenigen Teile jener „arbeitenden Bevölkerung“ einsortieren, die in der Verteidigung der ihr gemeinsamen Interessen derzeit eine auch nur etwas gewichtigere Rolle spielen oder wenigstens zu spielen in der Lage wären. Die fatale Unschärfe der Orientierung die dabei ganz akut zu Buche schlägt, obgleich sie bereits seit langem, wenn nicht von Beginn an, die Partei Die Linke gekennzeichnet hat und mit ihr den Antikapitalismus, lässt sich recht gut durchbuchstabieren am Beispiel ihres Umgangs mit den horrenden Geldsummen, die zur Krisenbewältigung von Regierungen und Parlamenten jetzt in Bewegung gesetzt werden.
Steuerfragen, die Fragen, woher „der Staat“, d. h. der hier und jetzt gegebene Staat, wieviel Geld als Steuern eintreibt und wofür er es ausgibt, sind seit jeher ein Lieblingsthema der Linken, die antikapitalistische eingeschlossen. Entsprechend viel Aufmerksamkeit widmet man links jetzt dem Für und Wider wie auch den Modalitäten eines finanziellen Engagements des Staates zum Beispiel bei der Lufthansa. Ziemlich lau ist dagegen das Interesse, das man für den Griff des Staates in die Kasse der Arbeitslosenversicherung zwecks Finanzierung der Kurzarbeit aufbringt – sehen wir einmal davon ab, dass die Linksfraktion ihn nicht nur überhaupt begrüßt, sondern auch die „Ausweitung“ des Kurzarbeitergeldes für „richtig“ befunden hat, die u. a. darin besteht, dass den kurzarbeitenden Unternehmen zusätzlich die weiterhin zu zahlenden Sozialversicherungsbeiträge von der Arbeitsagentur erstattet werden.[17] Auch der Antikapitalismus, der, wie bereits erwähnt, die Linke dazu verdonnert, „den Klassencharakter der staatlichen Finanzhilfen“ aufzudecken, und zwar „schonungslos“, wirft „Steuergelder“ und „Gelder … aus den Sozialkassen“, als wär’s doch irgendwie dasselbe, ohne weiteres in einen Topf. Etwas scheel schaut er, darin unterscheidet sich sein Tenor von dem der Partei, darauf, wohin das Geld fließt. Woher man es nimmt, ist aber auch ihm kein Thema.
Der Klassencharakter von Steuergeldern ist jedoch durchaus ein anderer als der des Geldes der Sozialkassen, und der sehr zu Unrecht auch von links so gern bemühte „Steuerzahler“ ein völlig anderes soziales Subjekt als das über die Sozialkassen versicherte lohnabhängige Volk. Dass „Lufthansa und andere Unternehmen … Milliarden Steuergelder“ bekommen, wäre unter diesem Gesichtspunkt strickt zu unterscheiden davon, dass „Gelder zur Finanzierung der Kurzarbeit aus den Sozialkassen“ genommen werden. Wem es um ein solides „Programm im Interesse der arbeitenden Bevölkerung“ ginge, dürfte jedenfalls über diesen Unterschied nicht achtlos hinweggehen. Er müsste die Frage zumindest einmal aufwerfen, ob dieses Sponsoring von als „Arbeitsplätze“ tituliertem unternehmerischem Potential zur Verwertung von Arbeitskraft nicht viel besser beim berüchtigten „Steuerzahler“ aufgehoben wäre als etwa das Arbeitslosengeld II.
Die Frage andererseits, wie die Regierung jetzt mit der notleidenden Lufthansa umgehen wird, ob sie den Staat bzw. die „öffentliche Hand“ nur still oder besser mit Stimmrechten beteiligt; ob zum Zweck der Überführung des Luftfahrtkonzerns in „öffentliches Eigentum“, was immer damit gemeint sein mag,[18] gar eine „Enteignung der Aktionäre“ vorzunehmen sei, wie einmal mehr mit dicken Backen der Antikapitalismus trompetet, das dürfte berechtigterweise aktuell nicht nur deutlich außerhalb des Fokus’ des Interesses einer von akuten Existenzängsten geplagten „arbeitenden Bevölkerung“ liegen. Vielmehr ist die Frage nach den Einzelheiten der Form eines „Staats-“, bzw. „öffentlichen“ Eigentums, woran auch immer, vor allem logisch, wie man leicht einsehen kann, der Frage nach dem sozialen Charakter des Eigentümers nachgeordnet, nämlich dem Klassencharakter des Staates – nenne man ihn auch „die öffentliche Hand“ – der als dieser Eigentümer fungiert.
Dieser Logik zollen denn auch, nur leider völlig gedankenlos, gleichermaßen der Antikapitalismus wie die einschlägigen Verlautbarungen von parteioffizieller Seite ihren Tribut. So sieht etwa Katja Kipping, wenn sie darauf pocht, dass bei der finanziellen Beteiligung des Staates am Luftfahrtkonzern es um seine „Steuerung“ zu gehen habe, sich zu der Ergänzung genötigt: „und zwar im Sinne der Beschäftigten, der Mitbestimmung“. Und der Antikapitalismus legt noch eine Schippe drauf: „Alle Beschäftigten der Lufthansa, Germanwings und aller anderen Tochterunternehmen müssen ihren Arbeitsplatz und ihre Gehälter garantiert bekommen. … Wenn weniger geflogen wird, muss die Arbeitszeit der Beschäftigten bei vollem Lohnausgleich entsprechend reduziert werden.“
Dass das Eigentum von Unternehmen zu Teilen oder ganz an den Staat bzw. die „öffentliche Hand“ übergeht, sei es an den Bund, ein Bundesland oder eine Kommune, ändert halt an dem sozialen Status der Beschäftigten dieser Unternehmen nicht das Geringste und sowieso natürlich nichts an dem der dort nicht Beschäftigten: nichts daran, dass auch dort der Arbeitstag geteilt ist in einen Teil, der bezahlt wird, und einen zweiten, der nicht bezahlt wird, und es nur so scheint, als würde der ganze Tag bezahlt; nichts an der prinzipiellen Unsicherheit der aus dem bezahlten Teil der Arbeit gefristeten Existenz, sollte dieser dem Unternehmen, das ihn zahlt, keine oder nicht genügend unbezahlte Arbeit mehr erbringen. Wenn daher die Linke wie auch der Antikapitalismus ihrer Forderung, die Lufthansa (die hier für jedes andere Unternehmen steht) in sogenanntes „öffentliches Eigentum“ zu überführen, die weitere Forderung nach Garantien für die Beschäftigten hinzufügt, dann bauen sie einen Türken. Was sie aussehen lassen wie eine Hinzufügung, wie die Vervollständigung einer schon ohnedies, wenn auch unzureichend, das „Interesse der arbeitenden Bevölkerung“ betreibenden Maßnahme, ist näher betrachtet dasjenige, worauf es allein ankäme. Jene „Überführung“ wäre dagegen nur ein unter Umständen sicherlich sehr effektiver Hebel, solche Garantien politisch zu erwirken.
„staatskapitalistische Verstaatlichung“
Der halbstaatliche VW-Konzerns, an dem das Land Niedersachsen mit einer Sperrminorität beteiligt ist, kann hier als Muster dienen. Er steht, wie man weiß, nicht in dem Ruf, auch nur mit einem Viertel seines beträchtlichen ökonomischen Gewichts der „arbeitenden Bevölkerung“ hierzulande zu einem winzigen Schritt in Richtung Sozialismus oder auch nur „sozialer Gerechtigkeit“ verholfen zu haben. Stattdessen hatte diejenige Reform, die dem „Interesse der arbeitenden Bevölkerung“ in den letzten 30 Jahren den schwersten, bis heute nachhaltigen Schaden zugefügt hat, in der Vorstandsetage eben dieses Konzerns ihre maßgebliche Quelle, von der sie denn auch ihren Namen als „Hartz-Reform“ bezogen hat. Gleichwohl fährt, wer in diesem Konzern beschäftigt ist, in der Regel nicht schlecht mit der dort verfolgten Personalpolitik, denn manches von dem, was „im Sinne der Beschäftigten“ die Linke und insbesondere der Antikapitalismus jetzt für die Lufthansa fordern, ist bei VW seit langem durchgesetzt. Und selbstverständlich ginge es in Ordnung, seitens der Linken darauf zu bestehen, dass das staatliche Engagement bei der Lufthansa mit Garantien für die dort Beschäftigten verknüpft sein muss.
Etwas windig wird’s indes schon, wenn der Antikapitalismus den Konzern außerdem „unter Kontrolle der Beschäftigten“ zu sehen wünscht und sich anscheinend ausgerechnet davon verspricht, dass „Inlandsflüge und Kurzstreckenflüge … nicht wieder aufgenommen werden“ und deshalb „weniger geflogen wird“. Von den Beschäftigten in der Kernkraftindustrie jedenfalls ist nicht bekannt, dass sie zu nennenswerten Teilen für’s Abwracken ihrer Industrie, und sei es „bei vollem Lohnausgleich“, jemals sich erwärmt hätten. Vollends unergründlich aber wird wohl bleiben, was man sich unter einem „ökologisch und sozialen Luftfahrtunternehmen“ vorzustellen hat, nachdem es mittlerweile niemand mehr wagt, seine jeweilige Herzensangelegenheit zu verfolgen, ohne sie als im höchsten Maße „ökologisch“ zu drapieren, während zugleich der Diskurs ums „Ökologische“ längst ein Tummelplatz von Scharlatanerien jeder erdenklichen Art geworden ist. Und nach dem antikapitalistischen Luftschloss eines „sozialen Luftfahrtunternehmens“ fragen wir lieber gar nicht erst.
Eingeleitet hatte der Antikapitalismus seinen dem Lufthansaproblem gewidmeten neunten Kernpunkt mit der folgenden sich schwer grundsätzlich gebenden Ansage: „Eine staatskapitalistische Verstaatlichung wie bei der Commerzbank 2008 und wie bei der Lufthansa geplant muss Die LINKE ablehnen. Die Lufthansa muss durch Enteignung der Aktionäre in öffentliches Eigentum überführt werden“, was die Frage aufwirft, wie ein auf dem Wege der Enteignung, d. h. in einem hoheitlichen, zweifellos staatliche Macht einsetzenden Akt, hergestelltes „öffentliches Eigentum“ es fertigbringt, am Ende etwas substantiell anderes zu sein als eine „staatskapitalistische Verstaatlichung“; oder andersherum die Frage, auf welcher anderen sozialen Grundlage als der des Kapitalismus, in welchen anderen als solchen gesellschaftlichen Verhältnissen, die vom Gegensatz zwischen Kapital und Lohnarbeit geprägt sind, hier und heute eine staatliche Macht welcher Art auch immer denn operieren könnte. Das Jenseits solcher Verhältnisse nämlich wäre unweigerlich auch ein Jenseits jedweder staatsförmigen, d. h. aus einem sozialen Antagonismus hervorgehenden und zum Zwecke seiner Zähmung der Gesellschaft gegenüber sich besonders organisierenden Gewalt. Kurz gesagt: Wo noch Staatsgewalt, da ist noch Kapitalismus, denn Staatsgewalt und sozialistische Gesellschaft schließen einander wechselseitig aus.
Wenn nun aber keinerlei Überführung von mehr oder weniger privatem Eigentum an Unternehmen in mehr oder weniger staatliches den Boden des Kapitalismus verlassen, d. h. dem Gegensatz von Kapital und Lohnarbeit entkommen kann; wenn auch der mehr oder weniger staatliche Eigentümer, wie auch immer im Einzelnen verfasst, weiterhin im Rahmen dieses Gegensatzes sich zu bewegen gezwungen ist, dann rückt fürs „Interesse der arbeitenden Bevölkerung“ vor allen anderen die Frage in den Fokus, auf welcher Seite dieses Gegensatzes jener geänderte Eigentümer denn steht und agiert. Und wohlgemerkt: Das wohlverstandene „Interesse der arbeitenden Bevölkerung“ umfasst weit mehr und unter Umständen sogar ganz anderes als das der Belegschaft eines Unternehmens. Garantien für deren Beschäftigung zum Beispiel, auch um den Preis einer mit Gehaltseinbußen verbundenen Verkürzung der Arbeitszeit, kollidierten zwar kaum mit diesem Gesamtinteresse der Klasse. Anders sähe es aber bereits aus, wenn solche Garantien mit partiellen Verlängerungen der Arbeitszeit einhergingen, versteckt, wie es ziemlich üblich geworden ist, in einer betrieblich vereinbarten Flexibilisierung der vom Arbeitszeitgesetz abgesteckten regulären Grenzen.
Fragen wir also nach dem Klassencharakter der hiesigen Staatsgewalten, nach ihrer Parteilichkeit im Widerstreit der Interessen von Kapital und Lohnarbeit. Und legen wir dazu das richtige Maß an; dasjenige, das die Gesamtinteressen der „arbeitenden Bevölkerung“ ins Auge fasst statt partieller Interessen einzelner Belegschaften, branchen- oder berufsspezifischer Arbeitnehmerkategorien oder ähnliches. Es sollte dann nicht schwerfallen zwei Felder der politischen Auseinandersetzung auszumachen, denen namentlich die Gegenseite, die Seite des Kapitals, in den vergangenen zwei Jahrzehnten ihre größte Aufmerksamkeit geschenkt und auf deren einem auch den größten benefit eingefahren hat. Zwei Felder, auf denen jetzt im Zeichen der Krise die vom Antikapitalismus zwar beschworenen aber nicht begriffenen „Interessen der arbeitenden Bevölkerung“ drohen, erneut schwersten Schaden zu nehmen.
Das gleich zu Beginn die Krise über die Maßen ausbeutende Treiben von Regierung und Parlament auf dem einen der beiden Felder, sowie vor allem der gefährlich dilettantische Umgang der Linken im Bundestag damit, wurde, wie bereits [5] erwähnt, an anderer Stelle aus der Nähe betrachtet. Auch vom eklatanten Desinteresse daran seitens des Antikapitalismus’ war in dem Zusammenhang schon die Rede. Es nimmt deshalb kaum Wunder, wenn dieser es fertigbringt, in seinem „Diskussionspapier“ zwar an einer Stelle zu beklagen, dass für Krankenhauspersonal die „mögliche Arbeitszeit … auf 12 Stunden am Tag und 60 Stunden in der Woche erhöht“ werde, aber selbst dort mit keinem Wort Notiz zu nehmen von der am 25. März in der Schlussabstimmung auch mit den Stimmen der Linken beschlossenen Durchlöcherung des Arbeitszeitgesetzes, die dafür die gesetzliche Grundlage schuf.
Exkurs zur „politischen Ökonomie der Arbeit“ (Marx)[19]
Der politische Streit um die gesellschaftlichen Normierung der Arbeitszeit, idealer Weise durch ein Gesetz, dreht sich um den substantiellen Inhalt des Gegensatzes von Kapital und Lohnarbeit; darum, ob überhaupt dem unstillbaren Hunger des Kapitals nach Mehrwert, zwar keine relative, jedoch eine absolute Grenze gesetzt wird, und wenn ja, welche. Eine Grenze, die immerhin ein Stück Lebenszeit der Proleten sicherte gegen den Zugriff des Kapitals. Denn das Kapital, das zeigen die anhaltenden Bemühungen der Arbeitgeberseite, das Arbeitszeitgesetz, wenn nicht zu beseitigen, so doch ihm sämtliche Zähne zu ziehen, tendiert, wo man es lässt, auch heute all seiner Natur nach dahin, die Lebenszeit der Proleten ganz mit Beschlag zu belegen.
Wo das Kapital aber an eine solche Grenze stößt, bleibt ihm nur der Weg, in ihrem Rahmen den Wert der Arbeitskraft zu reduzieren und so den diesen Wert überschreitenden Teil der Wertschöpfung, d. h. den Mehrwert, relativ zu steigern. Drei Mittel kommen dazu infrage: die Senkung des Preises der Arbeitskraft unter ihren Wert, also mehr oder weniger verblümte Lohndrückerei; die Steigerung der Arbeitsintensität, also Erhöhung des Zeitdrucks und Verdichtung des Arbeitsvolumens etwa durch Reduzierung des Personals bei unveränderter Arbeitsanforderung; und schließlich die Steigerung der Arbeitsproduktivität durch technische und organisatorische Innovationen. Gemessen nicht zuletzt am Konkurrenzvorteil, den Deutschland – sicher nicht nur in seiner Selbsteinschätzung – gegenüber den meisten anderen Akteuren im sogenannten „internationalen Wettbewerb“ erlangt hat, operieren die nach Branchen und Größe sich unterscheidenden Kapitale, aus denen das gesellschaftliche Gesamtkapital in Deutschland sich zusammensetzt, schon länger ziemlich erfolgreich mit allen drei Mitteln, sie in je unterschiedlichen Graden einsetzend. Aber den wichtigeren Anteil an diesem Erfolg dürften die teilweise starke Absenkung des Lohnniveaus und Ausweitung des sogenannten Niedriglohnsektors haben, sowie eine damit einhergehende Intensivierung der Arbeit und auch Verlängerung der Arbeitszeiten in diesem Bereich. Denn die vor allem im Hochtechnologiebereich zugleich vorangetriebene Erhöhung der Arbeitsproduktivität erkauft das dortige Kapital mit einer Erhöhung seiner organischen Zusammensetzung[20], die auf die Durchschnittsprofitrate drückt, soweit sie fürs gesellschaftliche Gesamtkapital nicht ausgeglichen wird durch eine entsprechende Erniedrigung dieser Zusammensetzung in anderen Bereichen, d. h. durch Einsatz von viel billiger Arbeitskraft im Verhältnis zu wenig eingesetztem Sachkapital.
Die politische Voraussetzung für diese enorme Vermehrung von Arbeitsplätzen mit miserabler Bezahlung bei intensiv wie extensiv ausufernder Arbeitsmenge schuf natürlich vor allem die 2003 durch Rot-Grün auf den Weg gebrachte „Agenda 2010“, womit wir unversehens das zweite Feld der politischen Auseinandersetzung um „die Interessen der arbeitenden Bevölkerung“ betreten hätten, auf dem diese den nachhaltigsten Schaden der letzten zwei Jahrzehnte genommen haben. Ihre Wirkung entfaltete die „Agenda“ hauptsächlich dadurch, dass sie große Breschen in die Wallanlagen schlug, welche die Konkurrenz eben dieser „arbeitenden Bevölkerung“ unter sich nachhaltig eingedämmt hatten, auf der wie gesagt die Lohnarbeit „ausschließlich“ beruht. Ausgetragen wird diese Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, und ihre Protagonisten gehören in erster Linie dem akut unbeschäftigten Teil jener Bevölkerung an, die wir, eine Formulierung des Antikapitalismus aufgreifend, hier die „arbeitende“ zu nennen uns befleißigt haben – in der Hoffnung, immerhin darin mit ihm übereinzustimmen, dass auch das jeweils gerade nicht entlohnt beschäftigte Arbeitsvolk, wie ebenfalls oben schon einmal angeführt, unabdingbar zu ihr hinzuzurechnen ist, damit überhaupt von einer Klasse der Lohnabhängigen die Rede sein kann. Es braucht nicht viel Überlegung zu erkennen, dass das Vorhandensein von Kassen, aus denen Angehörige der „arbeitenden Bevölkerung“ im Falle des Wegfalls ihrer Entlohnung diese, in welchen Grenzen auch immer, ersetzt bekommen, für sie den Zwang verringert, das Spiel des Arbeitsmarkts, das Spiel von Angebot und Nachfrage um den Verkauf ihrer Arbeitskraft ohne Rücksicht auf Verluste mitzuspielen. Die Hartz-Gesetze als der Kern der „Agenda“ haben den Ersatz der Entlohnung zwar nicht gestrichen, jedoch zum einen seine Grenzen dermaßen verengt, dass schon deshalb viele nicht mehr, wie vorher noch, es sich leisten konnten, sich vom Arbeitsmarkt längere Zeit fernzuhalten, sei es auch nur, um auf bessere Konjunktur zu warten. Zum andern aber wurde der Zwang, auf dem Arbeitsmarkt um jeden Preis zu konkurrieren, direkt als Bedingung der Bewilligung des Entgeltersatzes in die Gesetze hineingeschrieben und den Arbeitsverwaltungen auferlegt, ihn rigoros durchzusetzen.
Diese allzu freundlich als „Arbeitsmarktreform“ titulierte gründliche Radikalisierung der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt wird sicher zu Recht bis heute gefeiert als der wichtigste politische Beitrag zum ökonomischen Erfolg des Standorts Deutschland insbesondere im Verlauf und in der Folge dessen großer Krise der Jahre 2007 ff. Und selbst noch in der jetzigen Krise scheint der durch diese Reform bewirkte Erfolg keineswegs schon aufgebraucht. Die Krise scheint vielmehr derzeit in Deutschland noch allerhand „Luft nach oben“ zu haben. Größere soziale Unruhen, gar welche der „arbeitenden Bevölkerung“, sind derzeit jedenfalls hierzulande nicht in Sicht, zumal selbst diejenigen, die bereits eine Menge gute Gründe hätten, unruhig zu werden, zumeist wohl bis auf weiteres davon ausgehen, dass ein Virus die Hauptschuld daran trägt.
Womit wie von Zauberhand sich der Kreis geschlossen hat, den eine missglückte Pointe in der Überschrift unseres „Diskussionspapiers“ eröffnet hatte.
Gesundheitsdemokratie contra Freiheit
In einer Zeit, die durch die ebenso massenhafte wie diffuse Angst vor einer Krankheit geprägt ist, über welche die allermeisten von der Angst Befallenen kaum mehr als durch Gerüchte im Bilde sind, deren Ursache sie gleichwohl mit quasi religiöser Gewissheit in der Einzelheit eines Virus für ausgemacht halten, ist es einfach keine gute Idee, ein großes Palaver über Kapitalismus, Sozialismus pipapo anzetteln zu wollen. So wenig Spezifisches man über die Krankheit weiß – einen Namen hat sie bereits,[21] und was gegen sie zu tun ist, steht auch schon fest. Frei nach dem altrömischen Dichter Plautus wurde verfügt: Der Mensch sei dem Menschen ein Virus, sofern er nicht frisch negativ getestet ist.[22] Also Abstand halten oder Masken vors Maul oder am besten beides! Und testen, testen, testen! Das sieht der Antikapitalismus, wie wir sahen, nicht anders. Was alles er ansonsten ganz anders sieht als die meisten Pandemiker, das sehen wir dann irgendwann später, zum Beispiel wenn alle geimpft sind.
In betreff der mehr oder weniger kollateralen Schäden durch die gegen „Corona“ ergriffenen Maßnahmen scheint indes seitens der Linken und gar der antikapitalistischen Heilung am wenigsten zu erhoffen. Allzu sehr sind sie in das Milieu, in die sozialpsychologische und politideologische Konstitution verstrickt, welcher der auf „das Virus“ sich kaprizierende Hygienewahn entsprungen ist. Namentlich mit dem demokratischen Idiotismus, der von keinerlei kritischem Begriff der Sache, die er meint, getrübte ist, kommt im „Corona“-Aktivismus ein linkes Markenzeichen zu seiner unheilvollen Geltung. Denn die von „Corona“ inspirierte Diktatur der Hygieneregeln über alles andere unseres alltäglichen Miteinanders ist durch und durch demokratischer Natur; der Demos, das Volk in seiner erdrückenden Mehrheit, verlangt sie von ganzem Herzen und ist in ihrer Exekution ganz bei der Sache. Und doch ist sie eine veritable Diktatur, die auch die intellektuelle Hygiene nicht nur nicht auslässt, sondern von ihr – in den Jahren davor auf anderen Feldern bereits eingeübt – ihren Ausgang genommen hat, indem sie von vornherein alle vom „Corona“-Narrativ abweichenden Argumentationen unter diskursive Quarantäne gestellt hat.
Schärfer denn je sind im Beginn dieser Krise das Freiheitliche und das Demokratische unserer bundesdeutschen Grundordnung in Gegensatz zueinander getreten, und insbesondere durch die Linke wurde der Freiheit – allen gegenteiligen Versicherungen zum Hohn – eine demokratische Absage erteilt. Wo die Freiheit jetzt ihre Stimme wieder erhebt, steht die Linke am Rand und wünscht sie zum Teufel. Angesichts dessen ist es vielleicht nicht verkehrt, sich zu erinnern, wie zunächst nicht sehr leicht und später ausgesprochen schwer der Partei Die Linke vor noch nicht allzu langer Zeit es bereits gefallen war, gegen diejenige Einschränkung einer grundgesetzlich garantierten Freiheit anzutreten, die ganz dezidiert das „Interesse der arbeitenden Bevölkerung“ betrifft.
Die Linke und die Koalitionsfreiheit. Ein Lehrstück
Die Rede ist vom im Namen einer sogenannten „Tarifeinheit“ vorgenommenen erstmaligen gesetzlichen Eingriff in die in Artikel 9 des Grundgesetzes garantierte Koalitionsfreit. Dessen Geschichte soll jetzt nicht in allen Einzelheiten erzählt werden, vieles davon kann anderswo nachgelesen werden.[23] Hier soll es genügen festzuhalten, dass das Scheitern des ersten Anlaufs zu diesem Eingriff im Sommer 2011 in zweierlei Hinsicht in besonderem Maße der Partei die Linke zu verdanken war. Zum einen waren es mit der Linken verbundene Gewerkschafter vor allem in Ver.di, die maßgeblich eine breite Debatte in den Gremien dieser Gewerkschaft in Gang gesetzt hatten, die schließlich deren Ausstieg aus der Gesetzesinitiative erzwang. Und auch die Partei selbst sowie ihre Fraktion im Bundestag hatten sich nach anfänglichem Schwanken klar gegen den Eingriff ausgesprochen. Um einiges gewichtiger noch war aber die von der bloßen Existenz der Partei geprägte politische Gesamtkonstellation der Republik. Bei den Wahlen zum Bundestag im September 2009, mitten in der Weltmarktkrise, zum zweiten Mal angetreten, hatte die Linke noch einmal deutlich an Stimmen zugelegt. Stark Zugelegt hatte aber auch die FDP, während die SPD um elf Prozentpunkte abgestürzt war und die Rolle des Koalitionspartners der CDU in der Regierung nach der Wahl an die FDP abtreten musste. Es ergab sich so die eigenartige Situation, dass die im Bundestag oppositionelle, mit den Gewerkschaftsspitzen eng verwobene SPD für die Beschneidung der Koalitionsfreiheit die Trommel rührte und damit die Kanzlerin, die eine entsprechende Gesetzesvorlage zugesagt hatte, unterstützte, während deren traditionell den im DGB zusammengeschlossenen Gewerkschaften nicht sehr freundlich gesonnener Koalitionspartner FDP allerhand Bedenken dagegen trug, an dieser Freiheit zu fummeln. Hinzu kam, dass es der in die Opposition versetzten SPD naturgemäß schwer fallen musste, die gewerkschaftlichen Funktionärskörper in einer solchen Frage geschlossen auf regierungsfrommer Linie zu halten, zumal es eine aus den letzen Wahlen gestärkt hervorgegangene, ähnlich gewerkschaftsnahe Alternative im Parlament gab, die eine andere Linie verfocht. Was sich übrigens durchaus dahingehend verallgemeinern lässt, dass für die Interessen der arbeitenden Bevölkerung eine SPD in der Opposition in aller Regel das fraglos kleinere Übel ist gegenüber einer solchen in der Regierung. Kanzlerin Merkel verließ jedenfalls in dieser Konstellation bald der Mut, ihrer Zusicherung Gesetzestaten folgen lassen, so dass das Projekt „Tarifeinheit“ im Herbst 2011 von der Agenda der Regierung dieser Legislatur gestrichen wurde.
Diesen in nicht geringem Maße auf ihr Konto zu buchenden, recht durchschlagenden Erfolg in der Verteidigung des Streikrechts vermochte die Linke freilich, wie der Fortgang der Geschichte beweist, als solchen nicht zu begreifen, was wohl mit der jeglicher Spielart des Sozialdemokratismus, also auch der linken eignenden Neigung zum Autoritären zusammenhängt, das alles, was nicht ausdrücklich erlaubt ist, für verboten hält. Zur Bundestagswahl 2013 trat die Partei in ihrem Programm mit dem Befund an, es gelte „das Streikrecht der Gewerkschaften zu verbessern und“ – dieser Zusatz wurde seinerzeit allerdings erst nach einer proletarischen Intervention in den Programmentwurf hineingeschrieben – „vor jeglicher gesetzlicher Einschränkung zu bewahren“. Im Europateil war gar von angeblichen „besonderen deutschen Restriktionen des Streikrechts“ die Rede, und im vierten Abschnitt wollte man das Recht zum Streik für einige besondere Zwecke obendrein noch „ausweiten“.
Als dann am 27. November 2013 der von CDU und SPD ausgehandelte Koalitionsvertrag der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, stellte die Linke im Bundestag dessen Bewertung unter die bös in die Irre gehende Überschrift „Nicht geliefert“.[24] Denn in dem die Interessen der arbeitenden Bevölkerung an einer ihrer sensibelsten Stellen berührenden Punkt hatte die SPD, auf welche die Schelte der Linken ja gemünzt war, leider sehr wohl „geliefert“. Sie hatte es lange vor der Wahl, nämlich just im Herbst 2011, als die schwarz-gelbe Regierung die Tarifeinheit von ihrer Agenda genommen hatte, versprochen: Sollte die SPD wieder bundesregieren, werde sie sich darum kümmern. Nun stand die erklärte Absicht, das Grundrecht der Koalitionsfreiheit gesetzlich einzuschränken unter der Überschrift „Tarifeinheit gesetzlich regeln“ im Koalitionsvertrag.[25] Von der Linken wurde das fatalerweise weitgehend beschwiegen. Der Parteiübervater und damalige Fraktionschef Gregor Gysi erwähnt in seiner Stellungnahme am Tag der Veröffentlichung des Vertrags die Sache mit keinem Wort, und man muss lange suchen, ehe man in einer 14 Tage später datierten, mehr analytischen und daher kaum für eine breitere Öffentlichkeit gedachten Würdigung des Dokuments seitens des Fraktionsvorstands unter dem Stichwort „Arbeitsmarkt“ den ebenso lapidaren wie ungereimten Satz findet: „Mit der Wiederherstellung der Tarifeinheit wird das Grundrecht zur Koalitionsfreiheit eingeschränkt.“[26]
Ungereimt war der Satz, weil das Vorhaben, die sogenannte Tarifeinheit gesetzlich zu regeln, nichts, was es vorher schon einmal gegeben hätte, wiederherstellte, sondern auf eine veritable Neuerung in der Sozialgeschichte der Republik hinauslief. Schlimmer noch mutet aber die Schicksalsergebenheit der Formulierung an, die ein Vorhaben der neuen, förmlich noch gar nicht angetretenen Regierung präsentiert, als wäre es bereits vollbracht. Nicht einmal der Hinweis im Koalitionspapier auf „verfassungsrechtlich gebotene Belange“, denen das Vorhaben Rechnung tragen werde, verleitet dessen linke Analyse, einen Gedanken daran zu verschwenden, wie man dem Regierungsvorhaben in die Parade fahren könnte.
Dieser Umgang der Linken im Bundestag mit dem Koalitionsvertrag von 2013 markiert sicherlich ein entscheidendes Datum des Abschieds der Partei die Linke von der Opposition gegen die etablierte bundesdeutsche Politik. Ganz zu schweigen von irgendeiner Vertretung der Interessen der arbeitenden Bevölkerung, die diese Partei noch reklamieren könnte. Wer freilich wie die Linke das Streikrecht hierzulande als immer schon „besonderen deutschen Restriktionen“ unterworfen wähnte und vor allem auf gesetzliche „Verbesserungen“ erpicht war und ist, den konnte wohl die ins Haus stehende tatsächliche Restriktion einfach nicht ernstlich erschüttern. Zu seinem maßgeblichen Beitrag im Rahmen ihrer vorläufigen Verhinderung während der vorangegangenen Legislatur war er gewissermaßen gekommen wie die Jungfrau zum Kind.
Was aber hat es mit den „besonderen deutschen Restriktionen des Streikrechts“ auf sich? Ein näherer Blick ins Grundgesetz kann da aufklären und zugleich etwas Licht ins Dunkel jener „verfassungsrechtlich gebotenen Belange“ bringen, auf die an einschlägiger Stelle der Koalitionsvertrag seinerzeit hingewiesen hatte. Das Augenmerk richtet sich dabei jedoch nicht auf die juristischen Feinheiten, mit denen das im Juli 2015 in Kraft getretene Tarifeinheitsgesetz besagten „Belangen“ Rechnung zu tragen beansprucht, und auch nicht auf deren spätere Verhandlung vorm Verfassungsgericht. Von Interesse ist hier vielmehr die Unabdingbarkeit, mit der die Koalitionsfreiheit, nämlich das „Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden“ im Grundgesetz-Artikel 9, Absatz 3 auftritt. Während zum Beispiel „das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“ des Artikels 8 für „Versammlungen unter freiem Himmel“ ausdrücklich vorsieht, dass „dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden“ kann, fehlt ein solcher sogenannter Gesetzesvorbehalt im Fall der Koalitionsfreiheit des Artikels 9. Damit ist die Koalitionsfreiheit von Restriktionen freier als die meisten anderen Freiheiten, die das Grundgesetz garantiert, weshalb es denn auch, wenngleich aus Gründen des auch von links nicht eben günstig beeinflussten politischen Klimas am vorläufigen Ende weitgehend vergeblich, so doch keineswegs völlig abwegig gewesen war zu hoffen, dass das Tarifeinheitsgesetz der Prüfung durch das Verfassungsgericht nicht standhalten werde.
Den Schatz einer solchen Freiheit zu hüten, die, ohne die paternalistische Einschaltung übergeordneter Instanzen eines angeblichen Allgemeinwohls, „der arbeitenden Bevölkerung“ die Wahrnehmung ihrer Interessen ganz allein überlässt, dieser Impuls scheint jedoch dem innersten Naturell der Linken kaum weniger fremd zu sein als der ordinären Sozialdemokratie, von der sie abstammt. Ausnahmen, wie sie im Vorfeld der Verabschiedung des Tarifeinheitsgesetzes sogar Stellungnahmen aus der Linksfraktion erkennen ließen,[27] bestätigen wohl leider nur die traurige Regel, für die eher jemand wie Klaus Ernst steht, der als stellvertretender Fraktionsvorsitzender, seinen Unfug vom Juni 2010, als er die BDA-DGB-Initiative umgehend gutgeheißen hatte, gewissermaßen aktualisierend, den listig-zweischneidigen Beschluss des DGB-Kongress im Mai 2014 völlig arglos damals „begrüßte“.[28] Jenen Beschluss, mit dem die sozialdemokratischen Spitzen des Gewerkschaftsdachverbands ihrer Genossin Nahles in der Regierung den Weg zum Gesetz ausgeleuchtet haben.[29]
Stand die Linke aber damals jedenfalls im Prinzip noch entschieden auf der Seite der Freiheit, ohne freilich dafür sich allzu krumm zu legen, so legt sie sich heute im Zeichen von „Corona“ mit Vehemenz ins Zeug für deren ziemlich umfangreichen Einschränkungen, nur mehr hin und wider mahnend, es nicht allzu toll damit zu treiben, oder auch – antikapitalistisch – dem Publikum eine chemische Reinigung des Pelzes versprechend, bei der dieser nicht nass werde. Und strömungsübergreifend ist man links – mit bislang sehr spärlichen Ausnahmen – sich einig, beim Hygienediktat keinesfalls locker zu lassen und selbst die dämlichste Propaganda über „das Virus“ noch gegen die vernünftigste Kritik für wahr zu befinden.
[1] Wer’s genauer wissen möchte, kann sich zum Beispiel kundig machen bei Wilfried Bautsch: Anforderungen und Bewertung der Ergebnisse von Laboruntersuchungen. In: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 106, Heft 24 vom 12. Juni 2009 [2] Dieser Ringversuch stellt im Fall einer Placebo-Probe (d. h. ohne Viruslast) eine sehr gute Spezifität fest mit einer durchschnittlichen Falsch-Positiv-Rate von nur 1,4 Prozent. Vgl. Instand: Kommentar zum Extra Ringversuch Gruppe 340 Virusgenom-Nachweis – SARS-CoV-2 [3] Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen. Verschlusssache vom 18. März 2020 – „Nur für den Dienstgebrauch“ – aus dem Bundesinnenministerium [4] Siehe hierzu auch unten den Abschnitt Antikapitalismus und Grundrechte. [5] D. D.: Corona und das Arbeitszeitgesetz. Grober Unfug der LINKEN im Bundestag [6] Es handelt sich um die Arbeitskreise I („Arbeit, Soziales und Gesundheit“) und II ( „Sozial-ökologischer Umbau und Haushalt“). [7] Protokoll der Plenardebatte vom 25.3.2020, S. 20046. [8] Im Heft 7/8-2020 der Zeitschrift Sozialismus ist unter dem Titel „Euch die Uhren, uns die Zeit“ ein Artikel von Susanne Ferschl erschienen, der „Einblicke in die parlamentarische Arbeitszeitdebatte“ verspricht. Diese „Einblicke“ sind jedoch leider etwas getrübt. So erwähnt der Text zwar gleich zu Anfang die „Covid-19-Arbeitszeitverordnung“ der Regierung, unterschlägt aber die für die parlamentarische Debatte ja sehr entscheidende Änderung des Arbeitszeitgesetzes per Parlamentsbeschluss, die dieser Verordnung vorausging. „Die bestehenden gesetzlichen Regelungen sind unbedingt zu verteidigen“, schreibt die Genossin weiter unten im Text. Dies nachdem sie selbst mit ihrer Fraktion durch eine Änderung ebendieser „Regelungen“ die gesetzliche Grundlage für die von ihr hier anfangs kritisierte Verordnung im Parlament am 25. März nach kurzem Aufmucken am Ende – vermutlich Corona-bedingt – mitbeschlossen hat. Am Schluss des Textes behauptet sie – ohne Beleg und, jedenfalls was sie und ihre Fraktion angeht, leider wahrheitswidrig –, dass die Linke „die sofortige Rücknahme der 12-Stunden-Arbeitstage“ fordere und verweist dann auch noch auf den unsäglichen Antrag ihrer Fraktion zur „Arbeitszeitverkürzung in der Pflege“, wozu an anderer Stelle schon alles nötige gesagt wurde. Dessen ungeachtet findet sich hier und da auch ein interessanter Gedanke in dem Artikel, z. B. ein mehr oder weniger ausdrückliches Plädoyer für eine Finanzierung der Sozialversicherungen zumindest tendenziell allein durch die Arbeitgeber. Es könnte sich daher durchaus lohnen, den Text ausführlicher zu diskutieren. [9] Ein Diskussionpapier vom 13. März 2020 von Katja Kipping u. a.: Die Corona-Krise solidarisch bewältigen. [10] Pressemitteilung von Achim Kessler, 21. April 2020. [11] Deutscher Bundestag Drucksache 19/1810. [12] Protokoll der Plenardebatte vom 25.3.2020, S. 19144 [13] Wie groß der Druck in dieser Hinsicht bereits angewachsen ist, lässt sich z. B. diesem Bericht vom 28. Mai auf tagesschau.de entnehmen: Das Geld wird knapp. [14] Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. In MEW Bd. 4, S. 473. Siehe dazu auch in diesem Text hier. [15] Die älteren unter uns Prols dürften sich auch noch der wenig rühmlichen Rolle erinnern, die der damals noch etwas anders formatierte Antikapitalismus, der stolz sich als das erste beide Fusionsstränge übergreifende Strömungsprojekt der künftigen gemeinsamen Partei verstand, in der Auseinandersetzung um die Berliner WASG gespielt hat. Sein Schlagerstar, in dessen Glanz auch der jetzige Vorsprecher der AKL, Thies Gleiss, sich ein wenig sonnte, war damals Sarah Wagenknecht, zugleich noch Chefin der Kommunistischen Plattform in der PDS und, wenn ich recht erinnere, zu der Zeit dem Berliner Landesverband der PDS angehörig. Jedenfalls reklamierte sie seinerzeit das Monopol auf jegliche Kritik der Regierungspolitik der Berliner PDS für sich und begrüßte die Entscheidung des Bundesvorstands der WASG, seinen Berliner Landesverband in Acht und Bann zu schlagen, daher auf herzlichste. Der übrige Antikapitalismus widersprach ihr darin nicht. [16] Bundesagentur für Arbeit: Monatsbericht zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt für Mai 2020, Juni 2020, Juli 2020 und August 2020 (s. dort jeweils im Tabellenanhang, 1.1 Eckwerte des Arbeitsmarktes). [17] Vgl. die Rede der Chefin der Linksfraktion Amira Mohamed Ali in der Plenardebatte am 25 März, Protokoll, S. 19126. [18] Der Magie dieses Ausdrucks, der wohl, wenn auch vermutlich ganz vergeblich, das Wort vom seit langem in Verruf stehenden „Staatseigentum“ vermeiden helfen soll, ist auch die Linksfraktion erlegen: „Bei der Lufthansa-Rettung muss aus der Staatshilfe öffentliches Eigentum mit Stimmrechten entstehen, die dem Wert der Staatshilfe entsprechen“, fordert z. B. ihr Sprecher, Victor Perli, in einer Pressemitteilung 4. Mai. [19] Karl Marx: Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation. In MEW Bd. 16, S. 11 [20] Als „organische Zusammensetzung“ des Kapitals bezeichnet Marx das von den technischen Eigenarten des jeweiligen Produktionsprozesses vorgegebene Verhältnis der Wertgröße des in Sachmittel investierten Teils des Kapitals zur Größe des Teils, der für Löhne und Gehälter ausgegeben werden muss, ein Verhältnis, das also je nach Branche sehr unterschiedlich ausfällt. [21] Vgl. hierzu Thomas Maul: Covid-19: Die tödlichen Folgen der Erfindung einer „neuen“ Krankheit. [22] Der Satz aus der Komödie Asinaria (Eseleien) des römischen Komödiendichters Titus Maccius Plautus lautet: „lupus est homo homini, non homo, quom qualis sit non novit,“ was übersetzt in etwa heißt: „Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, kein Mensch, solange er nicht weiß, welcher Art der andere ist.“ (s. Wikipedia) [23] Siehe zum Beispiel Ralf Iden und Daniel Dockerill: Tarifeinheit – die Gewerkschaften, die SPD und die LINKE. In: Info Die Linke. Schleswig-Holstein, August 2011, S. 11 f. Auf den Seiten der Linken S.-H. ist dieses vom Landesrat für die Mitglieder des Landesverbands herausgegebene Blatt, das bis etwa 2013 in mehr als 16 Ausgaben erschienen ist, leider nicht mehr zu finden. Zumindest die eine oder andere davon kann aber im Netz (bei Silo.Tips) noch eingesehen und runtergeladen werden, so auch die vom August 2011. [24] Eine Koalition, die die soziale Spaltung im Land vertieft und lobbyhörig ist. Im Wortlaut von Gregor Gysi, 27. November 2013 [25] Deutschlands Zukunft gestalten. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. 18. Legislaturperiode, S. 50 [26] Eine Koalition des Stillstands. Positionspapier, 10. Dezember 2013 [27] Zum Beispiel die ihrer damaligen gewerkschaftspolitischen Sprecherin Jutta Krellmann mit ihrer unerschrockenen Parteinahme für den Arbeitskampf der GDL im Herbst 2014, die einmal in einer Pressemitteilung sogar sehr zu Recht die gesetzliche Tarifeinheit in eine Reihe mit den Hartz-Gesetzen gestellt hat. [28] LINKE begrüßt Beschluss des DGB zur Tarifeinheit. Pressemitteilung von Klaus Ernst, 13. Mai 2014 [29] Vgl. dazu FAU Berlin: Kein Aufatmen bei der sogenannten Tarifeinheit nach DGB-Kongress. Ausblenden |
II. Antikapitalismus und Grundrechteoder ein linkes MdB bei den Corona-LeugnernEinblenden |
Wie sehr nicht nur der linke Mainstream, sondern, bei aller zur Schau gestellten Widerborstigkeit, auch der Antikapitalismus offenbar davor zurückscheut, statt sich in die Pose einer sogenannten Systemkritik zu werfen, vielmehr hier und jetzt ganz praktisch auszutesten, was an politischer Opposition überhaupt noch geht, demonstriert ein Skandal um den linken Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko, der im Mai für eine kleine mediale Aufregung gesorgt hat. Hunko war am 16. des Wonnemonats in seinem Aachener Wahlkreis auf einer Kundgebung gegen die Grundrechtseinschränkungen aufgetreten, obwohl die Beschlusslage der Fraktion besagt, dass man sich von dergleichen fernzuhalten habe. Er rechtfertigt seine Teilnahme u. a. damit, dass in Aachen an jenem Tag insofern eine besondere Situation bestand, als gleichzeitig drei Kundgebungen gegen das Corona-Krisenmanagement stattfanden, die sich sauber sortiert hätten nach AfD-Affinen, Esoterikern und Linken. Von seinen Fraktionskollegen erntete er dessen ungeachtet dafür einen über einige Qualitätsmedien lancierten Shitstorm. Er habe „Stichworte genannt, die an viele Verschwörungstheorien anknüpfen“, ließ etwa Stefan Liebich am 19. Mai in der Welt verlauten.
Dem widersprach recht vehement eine von Mitgliedern des Bundessprecherrats und anderen Mitgliedern der AKL aus NRW unterzeichnete „Stellungnahme“ vom 24. Mai, die zu Recht darauf verwies, dass Hunko in seiner Rede „tatsächlichen Rechtsextremisten“ und idiotischen Verschwörungsmythen eine unzweideutige Absage erteilt hatte. Jedoch unterschlägt die „Stellungnahme“ dabei just die Passage in Hunkos Rede, in der er ausdrücklich in Schutz nimmt, was nach der herrschenden Sprachregelung auch der Linken unbezweifelbar das Signum einer sogenannten Verschwörungstheorie trägt: Die „Sichtweise“ von „Experten“ (!) wie Wolfgang Wodarg oder Sucharit Bhakdi, die „aggressiv aus dem öffentlichen Diskurs ausgegrenzt … oder übel diffamiert“ wurde, mache er sich zwar „nicht vollständig zu eigen“, sie müsse aber „Teil eines demokratischen Diskurses sein“. Diese Bemerkung allein hatte sicherlich schon gereicht, einige der fürs Profil der Linken in Sachen Corona maßgeblichen Figuren zwecks Skandalisierung seines Auftritts auf den Plan zu rufen.
Aber auch ansonsten durfte sich Die Linke durchaus völlig zu Recht mitgemeint fühlen bei dem, wogegen der auf der Kundgebung artikulierte Protest sich richtete, dem Hunkos Rede nur einen sehr verhaltenen Ausdruck verliehen hatte. Auch insofern macht die „Stellungnahme“ aus der AKL sich daher der Verharmlosung schuldig, wenn sie von „einer Kundgebung in Aachen“, spricht, „die sich kritisch mit den Freiheits- und Bürgerrechtseinschränkungen befasst, welche im Zusammenhang mit den ‚COVID 19‘-Maßnahmen der Bundes- und Länderregierungen erfolgten.“ Denn zieht man die „Freiheits- und Bürgerrechtseinschränkungen“ ab von den „Covid 19-Maßnahmen“, was bleibt dann von diesen noch übrig? Kaum mehr als eine exzessive molekularbiologische Testerei, deren Ergebnisse wenig bis nichts zur Diagnostik oder gar Therapie der ertesteten „Fälle“ beitragen, vielmehr hauptsächlich für den Einzelfall eine besonders drastische, über die allgemeinen „Freiheits- und Bürgerrechtseinschränkungen“ hinausgehende Aufhebung der persönlichen Freiheit begründen, und im übrigen ein absurdes „Pandemie“-Panorama mit Zahlen ohne Aussagewert illuminieren.
Die korrekte Qualifizierung der sozusagen mit Links skandalisierten Angelegenheit muss also dahin lauten, dass Andrej Hunko auf einer Kundgebung aufgetreten ist, die sich wegen der Freiheits- und Bürgerrechtseinschränkungen, auf welche die ‚COVID 19‘-Maßnahmen der Bundes- und Länderregierungen fokussiert sind, kritisch mit ihnen befasste; auf einer Kundgebung von Leuten mithin, die, so blödsinnig das ist, landläufig als „Coronaleugner“ bezeichnet werden. Er ist denn auch nach den heftigen Rüffeln, die er aus seiner Partei dafür beziehen musste, zwar nicht zu Kreuze gekrochen, hat aber am Ende eines Interviews auf den Nachdenkseiten vom 22. Mai, also zwei Tage vor der „Stellungnahme“ aus der AKL, angekündigt, solche Auftritte nicht so bald zu wiederholen.[1]
„Nach-Corona-Welt“
So honorig es also ist, Andrej Hunko gegen die Rufe aus dem linken Wächterrat nach einer Fatwa zu verteidigen, so peinlich gerät unterm Strich der Versuch, seine Coronaleugnerei einfach zu verleugnen und sich vor einer Parteinahme im Streit um „Corona“ in die Empfehlung einer „wirkungsvolle[n] Systemkritik“ zu flüchten.
„Wir wissen vieles nicht und noch mehr nicht genau genug“, heißt es in der „Stellungnahme“, und man weiß nicht recht, was für ein „wir“ denn da spricht. Ist es die Autorenschaft der „Stellungnahme“, die in aller Bescheidenheit ihren Mangel an Wissen bekennt? Oder nicht doch vielmehr ein unspezifisches „wir“, das ganz unbescheiden alle Welt vereinnahmt und deren angeblich ungenügendes Wissen reklamiert? Wir, das heißt ich und die mir vorschwebende Leserschaft dieses meines Textes, wissen es nicht. Aber das macht nichts, denn während wir noch grübeln, meldet sich ein sehr spezifisches „wir als Linke“ zu Wort, das eines sehr wohl wissen, weil immerhin „erkennen“ könne: „die offensichtliche Unfähigkeit des kapitalistischen Systems“ nämlich, „mit so einer Krise umzugehen.“ Aus diesem Offensichtlichen wiederum „könnte“ – potzblitz! – „erwachsen“, was „krisenbedingt von den meisten Menschen aus der unmittelbaren Anschauung nachvollziehbar wäre“, nämlich „eine wirkungsvolle Systemkritik“. Wenn indes, was angeblich „offensichtlich“ ist, „den meisten Menschen“ dennoch nur „nachvollziehbar“ sein soll, also vorgekaut werden muss, weist das daraufhin, dass es mit der Offensichtlichkeit in Wahrheit ziemlich hapert, und bei der „Systemkritik“ wohl kräftig geschummelt werden müsste, damit sie „wirkungsvoll“ würde.
Aber „System“ hin, „Kritik“ her – fest steht, dass die realexistierende Welt, nenne man sie, wie man möchte, mit der realexistierenden Krise ganz ohne Zweifel in irgendeiner Weise „umgeht“. Und was jemand tut, dazu ist er nach den Gesetzen der Logik „offensichtlich“ sehr wohl „fähig“. Das Attest der „Unfähigkeit“ eines „Systems“ wird hier demnach nur benötigt, um die Unlust zu kaschieren, sich näher zu befassen mit den Charakteristiken der Krise und den Modalitäten des real stattfindenden Umgangs mit ihr. Denn wie wir bereits wissen: „Wir wissen vieles nicht …“ und überspringen daher die Corona-Welt, um lieber „positive Ansätze [zu] kommunizieren, wie die ‚Nach-Corona-Welt‘ aus unserer Perspektive aussehen sollte.“
Eine solch ungeschminkte Totalverweigerung jedwedes politischen Realitätsbezugs besitzt natürlich den ungemeinen Vorteil zu vermeiden, dass man sich in derselben Weise auf Anhieb komplett lächerlich macht, wie’s dem Antikapitalismus aus dem Ländle geschieht, der zwar auch lieber seine sozialistische „Vision aufzeigen“ möchte, es sich aber nicht verkneifen kann, dabei der Partei mitten in der Krise außerdem noch mit altklugen Ratschlägen für einen „radikalen Kurswechsel“ zu kommen.
„mit bürgerlichen Freiheiten“
Nun kann allerdings eine Stellungnahme, die vom Impuls der Einmischung ins akute politische Handgemenge motiviert ist, am Ende natürlich nicht völlig abstrahieren von dem, was jetzt, in der Corona-Zeit ist. So sehr man einerseits, der „linken Perspektive auf das [Corona-]Thema“ wegen, einer konstatierten „Polarisierungswut“ abhold sowie ängstlich darauf bedacht ist, „keine ‚Leugner‘“ zu sein, und deshalb über „das Thema“ genaues vorsichtshalber gar nicht wissen will, sieht man sich daher andererseits angesichts des über Andrej Hunkos Kundgebungsteilnahme verhängten Bannfluchs ganz zu Recht veranlasst, besorgt, wenn auch etwas ins Blaue hinein, zu mahnen: „Einschränkungen der Versammlungsfreiheit pauschal hinzunehmen und dabei keinen kritischen Gedanken mehr zu denken, hat nichts mit einem sozialistischen Anspruch zu tun.“
Jedoch ist der Linken eine „pauschale“ Hinnahme von Einschränkungen der Versammlungsfreiheit bislang gar nicht anzulasten. Es geht schon sehr speziell um ihren scheelen Blick auf die Freiheit, sich zur Coronaleugnerei zu versammeln. Und apropos „pauschal“ und „kritische Gedanken“: Darüber Klage zu führen, dass es mit dem Selberdenken – gar nicht zu reden vom „kritischen“ – links nicht mehr klappen will, ist das Eine. Aber das Angebot anderswo gedachter kritischer Gedanken zu „Corona“, die von der (nicht nur) linken Diskursaufsicht in den Giftschrank gesperrt werden, ist überreichlich. Wem in der Linken also am Denken kritischer Gedanken noch etwas läge, der könnte aufhören, sich aufs Nichtwissen zu berufen, und damit anfangen, den Giftschrank aufzusperren und seinen Inhalt wenigstens zur Kenntnis zu nehmen, und dann vielleicht sogar selber ihn durchdenken, nämlich sich sachlich mit ihm auseinandersetzen, statt ihn der üblichen faden Gesinnungsprüfung zu unterziehen.
Gegen Ende hin wagt die „Stellungnahme“ dann, zwar weiterhin strikt fokussiert auf eine „Nach-Corona-Welt“, doch noch einen Blick in die nähere Zukunft, der hart an einer Erkenntnis schrammt: „Die sozialen Folgen der Corona Pandemie“, heißt es da, „werden aus unserer Sicht alles in den Schatten stellen, was wir seit Anbeginn der Bonner und später Berliner Republik erlebt haben. Die soziale Ungerechtigkeit wird zum Himmel stinken und die folgenden Auseinandersetzungen werden auch mit bürgerlichen Freiheiten auszufechten sein. Das sollte Linken jederzeit bewusst sein. Sich jetzt damit zu befassen, wie diese eingeschränkt werden, ist also sehr opportun, auch wenn dazu der Infektionsschutz bemüht wird.“
Um mit dem letzten ein wenig orakelnden Satz zu beginnen: Wenn ich ihn richtig deute, besagt er, dass die „Stellungnahme“ die derzeitigen Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten einerseits zwar („auch wenn“) wegen des Infektionsschutzes für zumindest nicht völlig ungerechtfertigt, andererseits aber für eine Gelegenheit hält, bei der das jetzt mit dem Infektionsschutz befasste Krisenmanagement zugleich prophylaktisch für erst noch kommende soziale „Auseinandersetzungen“ sich warmläuft. In der Tat: Die Inanspruchnahme der bürgerlichen Freiheiten, deren Einschränkungen wir jetzt erleben, würde, darin ist der „Stellungnahme“ uneingeschränkt rechtzugeben, in künftigen „soziale Ungerechtigkeit“ betreffenden „Auseinandersetzungen“, so sie denn eintreten, eine enorme Rolle spielen, wie andersherum ihre jetzige Einschränkung, sollte sie dann Bestand haben oder erneut aufgelegt werden, ein enormes Handicap wären bei der Abwehr dessen, was die Stellungnahme eigenartig staatstragend die „sozialen Folgen der Corona Pandemie“ nennt, durch die davon Gebeutelten. Einigermaßen befremdlich mutet indes das Futur an, in dem diese Sätze abgefasst sind. Denn nicht erst künftige „Folgen“ der angeblichen Pandemie, sondern bereits das gegenwärtige von einer pandemischen Angst angetriebene soziale, kulturelle und politische Alltagsgeschehen stellt „alles in den Schatten“, was sämtliche Nachkriegsgenerationen nicht nur dieses Landes jemals erlebt haben. Und bereits jetzt stinkt allerhand diesem Geschehen unvermittelt entsteigende „soziale Ungerechtigkeit … zum Himmel“, aber auch dessen von Profilneurotik, böswilliger Inkompetenz und unglaublicher Willkür missgestaltes, vom Dschungel des deutschen Föderalismus obendrein potenziertes politisches Management.
Bereits jetzt ist innerhalb eines Vierteljahres eine halbe Million Lohnabhängiger über Nacht zusätzlich arbeitslos geworden, davon die Hälfte ohne Anspruch auf Alg. I. Bereits jetzt wird die Arbeitslosenversicherung restlos geplündert und vollständig umfunktioniert zur Kriegskasse des deutschen Kapitals. Bereits jetzt hat man wegen „Corona“ schätzungsweise eine halbe Milliarde Euro der gesetzlichen Krankenkassen abgegriffen, um sie für eine völlig sinnentleerte mikrobiologische Diagnostik hundert bis zweihundert Medizinlaboren hinterherzuwerfen (nicht gerechnet die Unmenge äußerst lukrativen personenbezogenen Datenmaterials, das so nebenher bei der exzessiven Testerei in den Laboren abfällt und womöglich ganz eigene Wege nimmt). Bereits jetzt haben mehr als zwei Millionen Freiberufler und Kleingewerbler bei Bund und Ländern sogenannte „Soforthilfe“ beantragt, an welcher Bezeichnung man das „Sofort“ sehr oft freilich sofort wieder vergessen kann, und damit meist kaum ganz freiwillig sich in die vielarmigen Fänge einer ausufernden Staatsbürokratie geworfen.
Der heftige „Wumms“, den „Corona“ dem durch Schröders Agenda gepuschten, zwischen Kleingewerbe oder Freiberuflerei und Prekarität flottierenden deutschen Selbstständigenwesen versetzt hat,[2] dürfte denn auch eine der Haupttriebkräfte für den sich langsam organisierenden Protest gegen die Corona-Maßnahmen sein, in den zwischenzeitlich sicher eher unfreiwillig und nur ganz am Rand auch ein Teil der AKL sich verwickelt hat. In der Hauptstoßrichtung richtet sich dieser Protest zunächst gegen die massiven Eingriffe in elementare Grundrechte,[3] dann aber auch gegen die Phalanx der sogenannten Mainstream-Medien, die sämtlich beteiligt sind an einer systematisch auf Desinformation getrimmten Kampagne zur Erzeugung von anhaltend massenhafter Angst vorm Killervirus. Und last not least richtet sich der Zorn gegen die Willkür und Hyperventilation der Politikerkaste, die das irre Potpourri sogenannter „Maßnahmen“ promotet.
Freiheit und Proletariat
Es dürfte übrigens kein blanker Zufall sein, dass die allmählich das ganze Land und nun auch dessen Hauptstadt ereilenden Proteste ihren Ausgang vom Ländle und seiner Provinzhauptstadt genommen haben. Denn wenn irgendwo in Deutschland die bürgerlichen Freiheiten als solche noch ein bisschen heimisch sind, dann dort, wo im Sommer 1849 unter anderem Friedrich Engels sich ins letzte Gefecht der geschlagenen bürgerlichen Revolution im Deutschen Bund geworfen hatte. Engels’ Beteiligung daran wies indes schon damals bereits daraufhin, dass diese Freiheiten im Begriff waren, ihren Charakter als bloß „bürgerliche“ einzubüßen – zumal in dieser ihrer deutschen Bezeichnung, die den Unterschied zwischen Bourgeois und Citoyen, zwischen Geschäftsmann und Staatsbürger verschwinden lässt. Letzterer ist heutzutage in aller Regel kein Bürger, dem sein Besitz ein arbeitsloses Einkommen sichert. Vielmehr hat sich als Inkarnation des modernen Staatsbürgers, des mit den Attributen der Freiheit und Gleichheit geschlagenen Menschen längst der Prolet erwiesen: der aufs nackte Selbst reduzierte, weil von allen unpersönlichen Voraussetzungen seiner Lebendigkeit entblößte Mensch, dem als einziger Besitz seine Arbeitskraft bleibt.[4] Das Proletariat und seine Vorläufer, nicht die besitzenden Bürger, waren es denn auch vor allem, die gegen Feudalwesen und Absolutismus jene Freiheit und Gleichheit erkämpft haben, welche die Geschäfte der Bourgeoisie benötigen wie der Mensch die Luft zum Atmen, und dies meist sogar gegen deren explizites Widerstreben, das sich speiste aus der wohlbegründeten Angst vor der selbstständigen, sein eigenes Interesse verfolgenden Aktion des Proletariats, dieser unabdingbaren Voraussetzung ihrer Geschäfte wie deren wesentliches Resultat. Und allein dem Proletariat, seiner selbstständigen Organisierung und Aktion verdankt sich auch alles, was dem Fortschritt an bürgerlicher Freiheit, den Marx einmal „jenem scheußlichen heidnischen Götzen gleichen“ sah, „der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte“[5], schließlich all dieser Scheußlichkeit zum Trotz den Charakter eines Fortschritts an Menschlichkeit verliehen hat.
Dies ist denn auch die tiefere, aber wohl kaum begriffene Wahrheit des Hinweises in der „Stellungnahme“ auf die Unverzichtbarkeit der „bürgerlichen Freiheiten“ für jegliche „Auseinandersetzungen“ wegen zum Himmel stinkender sozialer Ungerechtigkeit. Selbstständige Organisierung und Aktion des Proletariats war in der Tat nie zu haben ohne jene Freiheiten, die in mittlerweile grauer Vorzeit schon ihren Charakter verloren hatten, ein Privileg des Besitzes zu sein. Und selbstverständlich wird auch künftig das lohnabhängige Volk für die Selbstverteidigung seiner Interessen diese Freiheiten in Anspruch nehmen müssen. Oder vielmehr: mehr denn je. Mehr denn je nämlich wird es ab jetzt darauf ankommen, die Wahrung aller lohnabhängigen Interessen ihrer grob veruntreuenden Verwaltung durch das zum weltverschlingenden Moloch mutierende Staatsungeheuer, den Leviathan[6], zu entwinden, zu dem natürlich längst leider auch beträchtliche Teile des von allerlei Spielarten des Sozialdemokratismus beherrschten Gewerkschaftsapparats gehören.
Das lohnabhängige Volk freilich, namentlich das organisierte, hat den Schuss offensichtlich nicht gehört – sei es, weil er (etwa dank der aufgeblähten Kurzarbeit) noch nicht an sein Ohr gedrungen oder (man ist ja von jeher Gewerkschafter) sein Gehörsinn schon etwas taub ist. Mit den Corona-Maßnahmen hat der Leviathan zwar jetzt bereits mächtig überzogen, aber der Demos, und der ist halt größtenteils lohnabhängig, nach wie vor von der Virus-Angst gepackt, scheint weitaus überwiegend mit ihnen noch einverstanden zu sein. Indes kann der Leviathan, wie es scheint, nicht mehr aufhören und lässt es womöglich auf einen noch viel größeren Knall ankommen, und auf etwas in dieser Art wartet, wie es scheint, auch der Antikapitalismus.
In den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen hat unterdessen eine an sich eher unpolitisch-kleinbürgerlich geprägte kleine, aber wohl keineswegs mehr ganz marginale Minderheit des Demos begonnen, sich zu politisieren, und verlangt so rebellisch wie ausgesprochen friedvoll kaum mehr, aber halt auch nicht weniger als jene „bürgerlichen Freiheiten“ hier und jetzt zurück, von denen der Antikapitalismus annimmt, in einer unbestimmten Zukunft erst sie zu brauchen: die nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebotene Wiederherstellung der in den Artikeln 1 bis 19 des Grundgesetzes garantierten Grundrechte. Die Protestierenden einfach als Rechte oder gar Nazis abzutun, wäre angesichts dieses Kernanliegens eigentlich nur noch absurd, aber auch ihre Einordnung als gefährliche Amokläufer wider den Infektionsschutz passt ausgesprochen schlecht zur Sorgfalt, mit der auf den Kundgebungen und Demonstrationen den mit den Behörden abgestimmten oder gerichtlich ausgehandelten entsprechenden Auflagen versucht wird gerecht zu werden. Das haben wir bei anderen Demonstrationen der jüngsten Zeit zuvor schon ganz anders gesehen. Was schließlich die Fragen des Infektions- und Gesundheitsschutzes selbst angeht, so dürfte es keinen Teil der Bevölkerung geben, in dem das Niveau des medizinischen und epidemiologischen Wissens darum und der Informiertheit über die dazugehörigen Zahlen und ihre Bedeutung höher wäre als unter den Protestierenden. Davon kann sich jeder überzeugen, der die zahlreich auf Youtube zugänglichen Reden auf den Kundgebungen und Interviews mit Teilnehmenden sich anhört. Es hat in der Geschichte der Bundesrepublik vielleicht keine zweite Protestbewegung gegeben, in der vom Geist der altehrwürdigen bürgerlichen Aufklärung und deren zivilisiertem Freiheitswunsch so viel wieder lebendig wurde wie in den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen.
„Gegendemonstrationen“
Nicht mehr anders denn als schändlich kann hingegen mittlerweile bezeichnet werden, wie die Linke (und mit wenigen Ausnahmen nicht nur die in Großbuchstaben) mit den Protesten umgeht, die in vielen Hinsichten an jene erinnern, die vor gut fünfzehn Jahren sich in der Formierung der Protestpartei WASG gebündelt hatten, nicht zuletzt hinsichtlich des politisch teils sehr Disparaten, teils noch ganz Unausgegorenen, das da reichlich zusammenkommt, und an seinen Rändern in allerhand esoterischen, verschwörungsmythischen oder anderweitigen Unsinn ausfranst. Vorläufiger Höhepunkt der linken Schande: der glücklicherweise gescheiterte Versuch des Berliner rot-rot-grünen Senats, die von Querdenken-711 angemeldete Demonstration am 29. August knapp vor ihrem Termin zu verbieten. Nachdem am Vorabend der Demo das Berliner Verwaltungsgericht das Verbot in erster Instanz kassiert hatte, entblödete Frau Anne Helm, Fraktionsvorsitzende der Linken im Berliner Abgeordnetenhaus, sich nicht, der Tagesschau ihr Geständnis ins Mikrophon zu plärren, sich „ein anderes Urteil gewünscht“ zu haben.[7]
Die Krone setzen diesem Ausbund an paranoia-induzierter Prinzipienlosigkeit aber die Sprecher des linken Antikapitalismus in ihrem Bericht von der ersten „Live-Sitzung des Parteivorstands seit mehreren Monaten“ auf, die am selben Demowochende stattfand. „Die Sitzung begann“, schreiben Thies Gleiss und Lucy Redler, „mit einem Solidaritätsfoto der Parteivorstandsmitglieder mit den Gegendemonstrationen gegen die Demonstration der sogenannten Corona-Kritiker*innen.“ Man hätte offenbar, hätte man nicht noch Wichtigeres zu tun gehabt, am liebsten selber als versprengter Haufen der staatstragenden Antifa irgendwo am Rand gestanden und „Nazis raus!“ gekrächzt (um dann womöglich mit derselben Parole aus der Demo heraus begrüßt zu werden). Das ist schon traurig genug. Aber noch um einiges trauriger ist es, dass der Bericht mit keinem Wort erwähnt, mit welcher Dreistigkeit[8] der von der Linken mitgetragene Berliner Senat die Außerkraftsetzung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit für die Kritiker der Corona-Maßnahmen betrieben hatte, bis nichts mehr ging. Mit diesem Anschlag auf die „bürgerlichen Freiheiten“ seitens der eigenen Parteifreunde sich „jetzt … zu befassen“, statt in irgendeiner „Nach-Corona-Zeit“, scheint Thies Gleiss und Genossin zweifellos jetzt nicht „also sehr opportun“ zu sein – gleichgültig, ob „der Infektionsschutz dafür bemüht wird“, der Antifaschismus oder auch, wie’s der Koalitionär der Linken in Berlin Andreas Geisel so hübsch formuliert, „unser System“, das die Protestanten so bös „verächtlich machen“.
Alles was die antikapitalistischen Herr- und Frauschaften dereinst im Mai noch an guten Worten übrig hatten für die Berechtigung, „sich kritisch mit den Freiheits- und Bürgerrechtseinschränkungen“ zu befassen, „welche im Zusammenhang mit den ‚COVID 19‘ – Maßnahmen … erfolgten“, lassen sie damit jetzt in Rauch aufgehen. Und ob sie sich nun wenigsten noch einmal aufraffen, dem Geschäftsführer der Linken NRW, einem Herrn Sascha H. Wagner, gehörig aufs Dach zu steigen, nachdem der in einer Presseerklärung vom 30. August über die Protestierenden des Vortags in Berlin in einer Weise hergefallen ist, die nach aller Wahrscheinlichkeit den Straftatbestand der Volksverhetzung (§ 130 StGB) erfüllt, muss leider auch schwer bezweifelt werden. Die Linke von ganz links bis eher mittig, die unisono die „Corona“-Proteste als „rechtsoffen“ brandmarkt, weil dort keine Gesinnungspolizei unterwegs ist, ist selber integraler Bestandteil einer staatstragenden Querfront geworden, dessen Part es darin ist, die Stichworte zu liefern, die der Staatsmaschinerie und ihrem medialen Instrumentarium bei der Eindämmung des Protestes behilflich sind.
[1] Im selben Interview deutet Andrej Hunko dezent an, was an Wolfgang Wodargs „Sichtweise“ er sich „nicht vollständig zu eigen“ mache: „Ich habe mit Wolfgang Wodarg im Untersuchungsausschuss des Europarates zur Schweinegrippe zusammengearbeitet, von der sich herausstellte, dass die Szenarien völlig übertrieben waren und daran vor allem die Pharmaindustrie verdient hat. Wolfgang Wodarg lag damals richtig. Mit Corona haben wir aber eine andere Situation. … Er hat sich nach meiner Auffassung zu früh mit Festlegungen hervorgetan, die sich dann später als der Lage nicht angemessen herausstellten.“ Zwei der entscheidenden von Wolfgang Wodarg gegen den Corona-Alarmismus in Anschlag gebrachten „Festlegungen“, die hier von Hunko als „zu früh“ und „dann später … nicht angemessen“ qualifiziert werden, waren eigentlich keine, sondern gut begründete Zweifel. Nämlich zum einen Zweifel an der angeblich völligen Neuartigkeit des Virus für den Menschen, die zur Folge habe, dass die Bevölkerung noch keine Immunität dagegen besitze, weshalb das Virus sich rasant ausbreiten werde. Zum andern bezweifelte Wodarg von Anfang an die Aussagekraft der Testerei u. a. mit Verweis darauf, dass der Test nicht amtlich validiert sei. Mittlerweile werden genau diese Zweifel, statt dass sie vonseiten der Alarmisten entkräftet worden wären, vielmehr von Aussagen ihrer Koryphäen gestützt. Christian Drosten hält eine in der Bevölkerung verbreitete „Hintergrund-Immunität“ inzwischen durchaus für möglich (NDR-Podcast 32 vom 16. April) und in einer Nischensendung der ARD für Zuschauerfragen namens „Nach-Bericht aus Berlin“ am 14. Juni setzte Gesundheitsminister Spahn himself das wahrscheinlich nicht sehr zahlreiche Publikum darüber ins Bild (im Video ab Min. 13:16), dass bei flächendeckenden Tests und geringer Häufigkeit dessen, worauf getestet wird, auch eine niedrige Fehlerrate des Tests zum Überwiegen falsch-positiver Ergebnisse führt. [2] Plusminus (ARD): Mit Wumms in die Armut: Selbständige als Hauptverlierer der Corona-Krise (Bericht vom 26. Juni 2020) [3] als da etwa wären: Artikel 2 (Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit), Artikel 6 (Schutz von Ehe und Familie), Artikel 8 (Versammlungsfreiheit), Artikel 11 (Freizügigkeit) und Artikel 13 (Unverletzlichkeit der Wohnung). [4] Vgl. dazu aus dem übergänge-Archiv der proletarischen Plattform: Kapital und Menschenrechte [5] Karl Marx: Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien. In: MEW Bd. 9, S. 226. [6] Wikipedia: Leviathan (Thomas Hobbes) [7] Im Wortlaut (hier ab Min. 2:35): „Ich habe mir ein anderes Urteil gewünscht, aber das Urteil beweist zumindest, dass wir in einem funktionierenden Rechtsstaat leben mit einer funktionierenden Gewaltenteilung.“ [8] Sehr schön auf den Punkt gebracht findet man die z. B. bei: Alexander Wendt: Geisels Nase und das Grundgesetz. Ausblenden |
III. Die Corona-Opposition und das ProletariatEine politische TräumereiEinblenden |
Wohin es der Protest gegen das Corona-Regime noch bringen wird, steht in den Sternen, und zwar sowohl hinsichtlich seiner möglichen Ausdehnung oder Schrumpfung in der Bevölkerung, wie hinsichtlich der Entwicklung seiner sozialen und dann auch politischen Physiognomie. Keineswegs ausgeschlossen, dass angesichts der Hartleibigkeit dessen, wogegen der Protest sich richtet, der Ungerührtheit der Exekutoren des Hygieneregimes, der Zähigkeit, mit der die Angst vor „dem Virus“ den überwiegenden Teil der Bevölkerung im Griff behält, Verzweiflung den derzeit mit viel Euphorie betankten Protest irgendwann in größerer Masse in eben jene Richtung treibt, welche die linke Staatsantifa als seinen jetzigen durchgehenden Charakter ihm andichtet. So etwas müsste man dann wohl eine „self fulfilling prophecy“ der besonders üblen Art nennen.
Die Disposition dafür ist dieser Protestbewegung zu großen Teilen sicherlich eingeschrieben. Das Kleinbürgertum, aus dem sie zurzeit sich wohl hauptsächlich rekrutiert, war seit jeher, wenn es politisch in Bewegung geriet, anfällig für eine kollektive bipolare Störung. Aber schon Marx hielt es für keine gute Idee, wegen solcher fraglos ihm eigenen charakterlichen Zweifelhaftigkeit, das Kleinbürgertum mit dem ganzen vom Proletariat unterschiedenen Rest der Gesellschaft für „nur eine reaktionäre Masse“ zu erklären. In seiner zu Recht berühmten Kritik des Entwurfs für das Gründungsprogramm der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) von 1875 verweist er auf eine Stelle im „Kommunistischen Manifest“, worin in Bezug auf die „Mittelstände“ (kleine Industrielle und Kaufleute, Handwerker, Bauern) sogar konzediert wird, dass sie unter Umständen „revolutionär (werden) … im Hinblick auf ihren bevorstehenden Übergang ins Proletariat“.[1] Und die Grenze zwischen eher lohnabhängiger und eher mittelständischer Existenzweise dürfte heute um einiges unschärfer sein und auch in beide Richtungen eine viel höhere Fluktuation aufweisen als noch zu Marxens Zeiten.
Aber wie es sich damit auch genauer verhält, fest steht, dass die derzeit von den Corona-Protesten vorgetragenen zentralen Anliegen, die Beseitigung aller mit dem Infektionsschutz motivierten Grundrechteeinschränkungen und die Beendigung der angsttreibenden Desinformation über die Gesundheitslage, in keiner Hinsicht den Interessen des lohnabhängigen Teils der Bevölkerung entgegenstehen. Auch dessen dezidiert ganz eigenes Interesse, sich frei von jeder Staatseinmischung zu organisieren und organisiert in Aktion zu treten, gehört, wie wir oben im Abschnitt I sahen, zu diesen Grundrechten und wurde jetzt unter Berufung auf den Gesundheitsschutz durch die Ermöglichung, tarifvertragliche Regelungen der Arbeitszeit per ministerieller Verordnung zeitweise außer Kraft zu setzen, einer besonders drastischen Beschneidung unterworfen. Und die Kompatibilität der Anliegen des Corona-Protests mit den wohlverstandenen Interessen des Proletariats reicht, wie unten etwas näher zu besehen sein wird, sogar noch weiter.
Die Grundrechte, die jedenfalls hierzulande, d. h. im Grundgesetz ja nur einen kleinen Teil desselben, wenn auch in bestimmter Hinsicht seinen wichtigsten ausmachen, sind im Wesentlichen Abwehrrechte der Bürger eines Staates gegen dessen Einmischung in ihre je persönlichen Belange. Sie setzen also dem Staat Grenzen, engen seinen Aktionsradius ein. Schon deswegen rangieren sie im ordinären sozialdemokratischen Bewusstsein, von dem das linke allermeist bloß eine Spielart ist, nicht unbedingt an erster Stelle. Sieht es doch den Staat idealerweise vor allem prädestiniert zur Klammer einer sogenannten „solidarischen Gesellschaft“, die deren links so übel beleumundete „Spaltung“, den Gegensatz von Arm und Reich in ihrem Innern zum Wohle aller temperiert. Wohl nicht zuletzt daher rührt das Befremden, die reflexhafte Abwehr, mit der die Linke der Fokussierung der Proteste auf die Grundrechte begegnet. Sie erspürt darin ein ihrem ganzen Naturell diametral entgegengesetztes generelles Misstrauen gegenüber staatlichem Einfluss und staatlicher Macht. „Die Freiheit“, schrieb dagegen Marx in seiner eben schon zitierten Kritik des Gothaer Programms der SAPD von 1875, „besteht darin, den Staat aus einem der Gesellschaft übergeordneten in ein ihr durchaus untergeordnetes Organ zu verwandeln, und auch heutig sind die Staatsformen freier oder unfreier im Maß, worin sie die ‚Freiheit des Staats‘ beschränken.“[2]
Auf der Demo gegen das Hygieneregime am 29. August war ein Schild zu sehen, auf dem zu lesen stand: „Bundestag | Ihr seid unsere Angestellten | Ihr seid gekündigt | ALLE“. Und eine erste schon im April erhobene Forderung von Querdenken-711 verlangt Neuwahlen zum Bundestag im kommenden Oktober. Solche Ideen erinnern vielleicht nicht allzu sehr nur von ferne an jenen dereinst von Marx skizzierten „Geist der Kommune“ von Paris des Jahres 1871, deren kurzes geschichtliches Dasein im kommenden Frühjahr sich zum 150sten Mal jährt. Zum Beispiel an das Folgende: „Statt einmal in drei oder sechs Jahren zu entscheiden, welches Mitglied der herrschenden Klasse das Volk im Parlament ver- und zertreten soll, sollte das allgemeine Stimmrecht dem in Kommunen konstituierten Volk dienen, wie das individuelle Stimmrecht jedem andern Arbeitgeber dazu dient, Arbeiter, Aufseher und Buchhalter in seinem Geschäft auszusuchen.“[3] Und wäre es wirklich bloß an den Haaren herbeigezogen, in dem regelmäßig auf den Querdenken-Kundgebungen und Demonstrationen zu beobachtenden und meist anscheinend recht erfolgreichen Bemühen, zur Gewährleistung eines möglichst reibungslosen Ablaufs eng mit der Polizei zu kooperieren und sie ausdrücklich für den Schutz der Veranstaltung in Anspruch zu nehmen, etwas von der Idee einer freieren Staatsform im Marxschen Sinne zu erblicken? Einer Staatsform, deren Ordnungskräfte ganz direkt und praktisch im Dienst ihrer Bürger stehen, statt zu funktionieren als unterdrückende Organe „einer Gewalt, die über der Gesellschaft zu stehn beanspruchte“[4]?
Wahn und Wirklichkeit in Corona-Zeiten
Dem Bundestag kurzerhand die Kündigung auszusprechen und seine Neuwahl zu verlangen; vom Repressionscharakter der Polizei mit schönem Vorsatz abzusehen, sie als „Bürger in Uniform“ anzusprechen und mit ihr umzugehen, als stünde sie tatsächlich allein im Dienst der auf ihrem Recht bestehenden Bürger – das scheint eine schreckliche, vielleicht auch sträfliche Naivität, die Abwesenheit jeglicher politischen Rationalität, ja, die Außerkraftsetzung des Realitätsprinzips zu bezeugen. (Am Abend des 29. August, nach dem offiziellen Ende der Kundgebung auf der Straße des 17. Juni stieß denn auch das Querdenken wohl etwas heftiger gegen polizeiliche Realität, als nämlich die, wie man glaubte, gerichtlich erstrittene Genehmigung ihrer Fortsetzungsveranstaltung von der Polizei anscheinend recht gewaltsam ignoriert wurde.)
Aber das Regime, um dessen Beendigung es hier geht, hat diesen Plot des Dramas vorgegeben. Es hat seinerseits von Beginn des Corona-Alarms an aller Rationalität gespottet, hat jede Verhältnismäßigkeit schon der Zahlen, mit denen es seine diversen Maßnahmen begründet hat, verachtet, geschweige denn, dass die mit solcher Ignoranz dekretierte Gefahr, wogegen die Maßnahmen gerichtet sind, mit deren Folgen jemals zueinander ins Verhältnis gesetzt worden wären. Zu einem – freilich sehr begrenzten – rationalen Kalkül hat es sich allenfalls aufgeschwungen, soweit es sich darum handelt, die Angst vor „dem Virus“ auf Temperatur zu halten. Und diese Angst walzt immer wieder von neuem im großen Maßstab wie in lauter Kleinigkeiten Vernunft und Augenmaß nieder.
Und auch dies, der aufseiten der staatlichen Autoritäten und ihrer behördlichen Bediensteten exponentiell angewachsene Irrationalismus und das Agieren der Corona-Opposition dagegen gehört zueinander ins Verhältnis gesetzt. Das Zusammenstoßen des Corona-Regimes mit seinen Opponenten rund um deren Großdemonstration am 29. August hat dafür im größeren Maßstab eine erste Gelegenheit zur Probe aufs Exempel geliefert. Das Resultat der Probe gibt einigen Aufschluss darüber, auf wessen Seite Vernunft und Augenmaß in diesem Konflikt im Zweifel bis auf weiteres zu Hause sind.
Gegen das vom Berliner Senat verfügte Verbot ihrer Demonstration haben die Veranstalter geklagt und in den beiden dafür zuständigen gerichtlichen Instanzen mit nur geringfügigen Abstrichen Recht bekommen. Wie sehr auf der andern Seite dem Berliner Senat in dieser Auseinandersetzung die Maßstäbe verrutscht sind, lässt sich dem folgenden Satz aus dem (vom Oberverwaltungsgericht nach einer Beschwerde des Senats bestätigten) Beschluss des Berliner Verwaltungsgerichts entnehmen, der das Verbot kassierte: „Bei der hier allein möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung erweist sich der [von den Veranstaltern; Anm. DD] angegriffene Bescheid [das Verbot; Anm. DD] als offensichtlich rechtswidrig.“[5] Den ins Abseits gerannten Repräsentanten des Rechtsstaats ist die Corona-Opposition also umgehend ebenso planvoll wie geschmeidig mit dem geltenden Recht in die Parade gefahren, was die oben in Abschnitt II bereits zitierte Chefin der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, ohne diese Pointe auch nur zu registrieren, Trost wegen der eingefangenen Klatsche in der Erkenntnis suchen ließ, das Urteil beweise doch „zumindest, dass wir in einem funktionierenden Rechtsstaat leben mit einer funktionierenden Gewaltenteilung.“[6] Sie merkt halt vor lauter „Corona“ überhaupt nichts mehr.
„unser System“
Dass der Griff ins Klo, als der die Verbotsverfügung sich erwiesen hat, sich nicht bloß gewöhnlichen Schlampereien der Berliner Ordnungsbehörden verdankt, sondern das Produkt einer ins Paranoide abdriftenden desolaten Geistesverfassung der politisch Verantwortlichen ist, offenbart die vom Berliner Innensenator gelieferte Begründung des Verbots, worin der Genosse u. a. verkündigte: „Ich bin nicht bereit ein zweites Mal hinzunehmen, dass Berlin als Bühne für Corona-Leugner, Reichsbürger und Rechtsextremisten missbraucht wird. Ich erwarte eine klare Abgrenzung aller Demokraten gegenüber denjenigen, die unter dem Deckmantel der Versammlungs- und Meinungsfreiheit unser System verächtlich machen.“[7]
„unser System“? Mit diesem Wort hat der Mann vielleicht ein bisschen zu viel verraten. Aber er hat Recht: Die herrschende Coronapolitik hat sich in einer eigenartigen Automatik und mit enormer Geschwindigkeit zu einem nahezu geschlossenen System herangebildet, aus dem ihre Protagonisten nur noch um den Preis austeigen könnten, unter dasselbe Verdikt der Ketzerei zu fallen, mit dem sie alle Opposition gegen sich stigmatisiert. Ihre eigene Hermetik tendiert dazu, jedem politischen Richtungswechsel den Charakter eines Wechsels des politischen Systems aufzudrücken. Dies ist die in einen Zeitraum weniger Monate zusammengedrängte von der zum Großteil bis dato politisch ziemlich unerfahrenen Corona-Opposition gemachte Erfahrung, auf deren Grundlage sie jetzt ihre politische Agenda entwickeln muss. Einer Grundlage, auf der sie – sicher vielfach zu ihrem eigenen nicht geringen Entsetzen – gar nicht mehr wird umhinkönnen, jenes „System“, das die herrschende Politik als das ihre reklamiert, ganz grundsätzlich infrage zu stellen. Und es ist ebendiese Grundlage, aus der jetzt solche noch ziemlich unausgegorenen Ideen, Parolen oder Forderungen hervorsprießen wie die nach Neuwahlen (zum Bundestag) im Oktober oder gar nach einer verfassungsgebenden Versammlung im Berliner Tiergarten.
Wahlen zum Bundestag stehen indes fürs kommende Jahr sowieso ins Haus, und ihre bereits angelaufene Vorbereitung steht wohl oder vielmehr übel im Zeichen von „Corona“. Die SPD hat mit besonderer Eile ihren nun als „Kanzlerkandidat“ firmierenden Spitzenmann für die Wahl schon am 10. August gekürt. Er habe jetzt, hieß es in einer Meldung des ZDF etwas süffisant, „ein gutes Jahr Zeit, sich zu beweisen. Nur einen Wahlparteitag hat ihm die Parteispitze erspart“.[8] Eine Vorentscheidung über die Kandidatur aufseiten CDU/CSU hätte ursprünglich durch die Wahl eines neuen CDU-Vorsitzenden auf einem CDU-Parteitag Ende April fallen sollen, der dann wegen „Corona“ abgeblasen wurde. Inzwischen sieht man auch den für Anfang Dezember anberaumten Parteitag unter keinem guten Stern. Eigentlich hatte dieser sogar ein neues Grundsatzprogramm diskutieren sollen, jetzt aber denkt man daran, ihn „kompakter“ ablaufen zu lassen, nämlich ihn womöglich ohne größere Debatten, „auf die reinen Vorstandswahlen“ zu beschränken. „Im schlimmsten Fall einer zweiten großen Pandemiewelle“, so die noch amtierende Vorsitzende, „bleibt der Vorstand geschäftsführend so lange im Amt, bis der Parteitag einberufen werden kann.“[9] Das politische Establishment richtet sich, wie man sieht, auf allerlei Eventualitäten ein und hat mit seiner selbstfabrizierten „Pandemie“ das ideal passende Instrumentarium zur Hand, um seine jeweiligen Fußtruppen am ganz kurzen Gängelband zu führen.
Bis zu den Wahlen ist es noch einige Zeit hin, in der viel passieren wird. Im November wird zum Beispiel in den USA ein neuer Präsident gewählt, der dann womöglich der alte sein wird, was wiederum einen weiteren Schub an politischer Paranoia hierzulande zur Folge haben dürfte. Wie lange, in welchem Maße und mit welchen vielleicht auch neuen sogenannten „Regeln“ das Corona-Regime aufrechterhalten oder ob man es nicht doch demnächst lieber ausschleichen wird – wir wissen es nicht. Je länger es aber anhält, das scheint mir ziemlich gewiss, desto explosiver wird die unter seinem Deckel sich zusammenbrauende soziale wie politische Gemengelage. Und wer weiß – vielleicht ist es bereits zu spät, den Deckel vom Topf zu heben, ohne dass sein Inhalt der gesamten Innung der Protagonisten des Regimes um die Ohren fliegt. Sie jedenfalls verhalten sich derzeit so, als gingen sie genau davon aus.
Mit Beginn der Corona-Zeit gehört auch die Partei Die Linke mitsamt dem sie umgebenden politisch-kulturellen Milieu dieser Innung an und heißt es daher für sie: mitgefangen – mitgehangen. Spätestens mit dem von der Linken eifrig geleisteten Feuerschutz bei der Lahmlegung jedes seriösen wissenschaftlichen Diskurses in Sachen Corona; mit ihrer schamlosen Preisgabe jener alle Zivilisiertheit des Menschenpacks ausmachenden Freiheiten, die man aus alter Gewohnheit die „bürgerlichen“ nennt, an einen fingierten Gesundheitsschutz wurde die Linke integraler Teil des poltischen Establishments, bei welchem nicht nur diese Freiheiten, sondern das proletarische Interesse überhaupt, das Interesse des lohnabhängigen Volks verraten und verkauft ist. Was nicht hindert, dass Menschen, die dieses Interesse als das ihre ansehen, dort wohl immer noch besonders zahlreich organisiert sind; weshalb es wiederum wahrscheinlich keine gute Idee ist, sich aus ihr jetzt schnellstens einfach davonzumachen. Wohin denn auch?
Ein Änderungsantrag
Dass auch der Antikapitalismus in dieser Linken dem proletarischen Interesse keinerlei Aussicht mehr bietet, seiner Heimatlosigkeit zu entkommen, bestätigt indes, sicherlich nicht zum letzten Mal, dessen jüngster Posaunenstoß: der vom Bundessprecherrat vorgelegte Vorschlag für einen Änderungsantrag zum Leitantrag des Parteivorstands an den Parteitag Ende Oktober in Erfurt. Aus dem „Politikwechsel“ im Leitantrag möchte man da, ganz im Sinne der hier bereits oben in Abschnitt II durchleuchteten Phrasen, einen „Systemwechsel“ machen, und drückt sich so um die Aufgabe, die politische Realität, ihre divergierenden Interessen und deren gegebenen Kräfteverhältnisse auf den Prüfstand zu stellen. Und wie kaum anders zu erwarten – man weiß ja so vieles nicht –, taucht das alle Politik zur Zeit beherrschende Thema der „Corona-Pandemie“ nur einmal in genau dieser affirmativen Formel im Änderungsvorschlag auf und an einer zweiten Stelle die „Corona-Krise“ als Gelegenheit für „die Menschen“, Systemkritik „am eigenen Leib“ zu erfahren. Ansonsten hält man sich, wie gehabt, lieber an „die Welt nach Corona“. Von den Grundrechten und ihren virus-motivierten Einschränkungen, die im Leitantrag selbst nur sehr spärlich bedacht werden, kein Sterbenswort. Und auch über die Opposition gegen das Corona-Regime, die just an dem Tag, als der Parteivorstand in Berlin den Leitantrag verabschiedet hat, am selben Ort eine Demonstrationen von solcher Größe auf die Beine brachte, wie die Partei Die Linke zeit ihrer Existenz noch nie, schweigt man lieber ganz stille.
Mit einer gewissen Akribie hingegen hegt man im Änderungsantrag Streichungswünsche für alle Stellen, an denen der Leitantrag, auf eine Regierungskoalition der Linken mit SPD und Grünen abzielend, als das Hauptanliegen der Partei im kommenden Wahlkampf die Verhinderung einer weiteren von der CDU geführten Bundesregierung betont. Das ist sicher löblich, aber was danach stehenbleibt, ist leider nicht einmal die halbe Wahrheit. Durchgehen lässt der Änderungsantrag beispielsweise die folgende Stelle: „Die Regierungen der vergangenen zwei Jahrzehnte – ob rot-grün, schwarz-gelb oder schwarz-rot – haben alle die Militarisierung der Außenpolitik vorangetrieben und die Bundeswehr als weltweite Einsatzarmee aufgerüstet. Sie haben soziale und ökologische Zugeständnisse – Mindestlohn und Atomausstieg – nur auf Druck von Bewegungen gemacht.“
Sehen wir einmal ab von der einem linken Mythos aufsitzenden Beschwörung eines politisch ganz konturlosen, keinerlei Klassengesichtspunkt in Rechnung stellenden „Druck[s] von Bewegungen“ – das ist halt der übliche den Antikapitalismus bauchpinselnde Nullsprech –, dann stößt vor allem die politisch erschreckend unbedarfte Gleichmacherei der sehr unterschiedlichen „Regierungen der vergangenen zwei Jahrzehnte“ übel auf. Was die „Militarisierung der Außenpolitik“ angeht – welche Formel freilich ihrerseits das gemeinte Ärgernis ganz unpolitisch fasst und daher im Kern verfehlt –, so hat keine CDU-geführte Regierung, sondern die nach 16 Jahren Kohl im September 1998 neu ins Amt gewählte rot-grüne Regierung den entscheidenden Durchbruch dazu zuwege gebracht. SPD-Politiker und Grüne wie Rudolph Scharping und Joschka Fischer hatten schon im Frühjahr und Sommer vor der Wahl am wildesten für den hauptsächlich deutschen Interessen dienenden Krieg gegen Jugoslawien getrommelt. Und es waren die politischen Winkelzüge der rot-grünen Regierung, die nicht nur dafür sorgten, dass dieser erste Krieg nach Hitler mit Beteiligung deutscher Soldaten im Frühjahr 1999 überhaupt zustande kam, sondern wiederum unter ganz maßgeblicher deutscher Beteiligung mit der Besetzung des Kosovo durch Nato- und russische Truppen endete.[10]
Von den sozialen Tiefschlägen die das lohnabhängige Volk in ebendenselben zwei Jahrzehnten hat einstecken müssen, spricht man in deren Resümee vorsichtshalber gar nicht erst. Aber das „Zugeständnis“ des Mindestlohns, von dem darin die Rede ist, wurde erst dringlich, nachdem die Hartz-Reform den Niedriglohn-Sektor lohnabhängiger Beschäftigung zu einer bis dahin hierzulande ungekannten Größe aufgebläht hatte. Und auch dieser Durchbruch war das durchaus historisch zu nennende Verdienst der rot-grünen Regierung. Dabei hat übrigens ein kleines Pingpongspiel zwischen der Sozialdemokratie in der Regierung und derjenigen der Gewerkschaftsspitzen mit List und Tücke dafür gesorgt zu verhindern, dass die damals bereits wegen der sich abzeichnenden Ausbreitung der Billigstlöhnerei vielfach erhobene Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn diesen Durchbruch womöglich konterkarierte. Als eigene Forderung brachte die SPD den gesetzlichen Mindestlohn erst ins Spiel, nachdem sie in der Folge der Wahlen von 2009 von der Regierungsbank in die Opposition versetzt worden war und daher keine Gefahr mehr bestand, dass sie in die Not geriete, ihre Forderung umsetzen zu müssen. Es hat auf diese Weise ein ganzes Jahrzehnt gebraucht, in welchem das Hartz-Regime sich hinreichend etablieren konnte, bis dann erst die zweite schwarz-rote Regierung unter Merkel sich dazu bequemte, den Mindestlohn per Gesetz einzuführen.
Die Erfahrung „der vergangenen zwei Jahrzehnte“ lehrt also zwar in der Tat keineswegs, dass eine CDU-geführte Regierung das größere Übel, aber eben auch nicht, dass die Zusammensetzung der Regierungen gleichgültig gewesen wäre. Das Fazit dieser Erfahrung lautet vielmehr, wie oben in Abschnitt I schon einmal festgehalten, dass fürs Interesse der lohnabhängigen Bevölkerung und insbesondere für deren Spielraum bei der Verständigung darüber und bei seiner selbstständigen Artikulation und organisierten Verfolgung, das größte Übel regelmäßig eine SPD in der Regierung gewesen ist. Und schaut man sich das Gruselkabinett an, zu dem sich das jetzt von der SPD nach vorn geschobene Führungspersonal gruppiert – allen voran Olaf Scholz, Schröders Mann fürs Grobe bei der Durchsetzung seiner Verarmungsagenda, als „Kanzlerkandidat“, an seiner Seite der Fan von Sterbehilfe, Organspende-Freibrief und jetzige Papst der Hygienediktatur Karl Lauterbach und die gegen „Covidioten“ hechelnde unsägliche Frau Esken – dann darf man getrost davon ausgehen, dass jene aus mehr als zwanzigjähriger Erfahrung abzuleitende Regel auch weiterhin ihre Gültigkeit behält.
Hinzu kommt: Anders als die CDU hat die SPD nach den Umfragewerten nur sehr mäßig vom Regierungsbonus in der Krise profitiert, und selbst nach der frühzeitigen Kür des Kanzlerkandidaten bleibt sie weiterhin deutlich unter der 20 Prozent Marke und Kopf an Kopf mit den Grünen. Die Partei steckt weiterhin mitten in einer der schwersten Krisen ihrer anderthalbhundertjährigen Geschichte. In dieser Situation die Anwartschaft auf das Kanzleramt der künftigen Regierung anzumelden, zeugt an sich von einem der Verzweiflung entsprungenen kindischen Größenwahn. Und die Linke hätte es in der Hand, aus diesem Luftballon kurzerhand die Luft herauszulasssen, indem sie erklärte, für eine Regierung mit dieser SPD, womöglich noch unter Agenda-Scholz, keinesfalls zur Verfügung zu stehen. Stattdessen wecken jetzt maßgebliche Stimmen aus der Führungsetage der Linken die Lebensgeister der SPD, indem sie ihr mit der Option auf eine rot-rot-grüne Regierung eine Infusion verpassen. Dass solches Gebaren von niemandem in der Linken umgehend als grob parteischädigend gebrandmarkt wird, zeigt, wie weit sich diese Partei bereits von der Idee entfernt hat, das lohnabhängige Interesse aus der Gefangenschaft seiner Verwaltung durch die Sozialdemokratie zu befreien; ihr das Feld seiner politischen Vertretung streitig zu machen, statt danach zu trachten, es mit ihr schiedlich-friedlich gemeinsam zu bestellen.
Wirkliche Politik in unwirklicher Zeit
„Rot-Grün? Nicht noch einmal!“ hätte im Sinne dieser Idee die korrekte Antwort zu lauten auf das Ansinnen einer Neuauflage derselben Farbkombination unter Zuhilfenahme der Linken, und dies, wenn’s sein muss – denn schließlich: was hilft, das hilft, und verloren wäre die Partei auch andernfalls –, um den Preis ihrer Spaltung. Doch halt! Ich gerate ins Träumen … verlasse den Boden der politischen Realität der Partei …
Aber wie real ist denn diese Realität überhaupt noch? Von welcher Qualität ist der Boden, auf dem die Partei mitsamt ihren diversen Strömungen sich bewegt? Und wie realitätstüchtig sind die Mit- respektive Gegenspieler, womit sie es auf dem offiziellen Spielfeld der deutschen Politik zu tun hat? Das, was der halbwegs intakte Verstand gewohnt ist, für die Realität zu nehmen, hat in der Corona-Zeit Züge eines fortdauernden Albtraums angenommen, in dem das uns durch die Zeitläufte steuernde Personal agiert, als stünde es reihenweise unter permanentem Drogeneinfluss, die Linke immer feste mit dabei. Einigermaßen intakt halten lässt sich der Verstand da vielleicht nur noch durch ein Gegengift: eine starke Portion Ignoranz dieser irreal gewordenen Realität gegenüber. Warum also nicht jetzt in der Partei Die Linke ein eigenes kleines Fähnlein aufrichten und ein bisschen Tacheles mit ihr reden? Warum nicht offen und öffentlich aussprechen, dass die Covidiotie aufseiten derjenigen grassiert, die die Corona-Opposition mit dieser Vokabel zu verleumden suchen? Warum nicht als zwar winzig kleiner (daher notgedrungen inoffizieller), aber feiner Zusammenschluss in der Partei Die Linke offen und öffentlich sich auf die Seite derjenigen stellen, die jetzt das sofortige Ende des Corona-Regimes, die völlige Wiederherstellung der Freiheitsrechte des Grundgesetzes verlangen? – und damit womöglich, wenn’s richtig gut liefe, hier oder da einen kleinen linken Tobsuchtsanfall bewirken?[11]
Auf der Grundlage einer solchen Parteinahme könnte dann auch mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit gegen den eigenen Ruf in den Parteikreisen, in denen die eine und der andere von uns sich bewegen, der quälenden, Gott und die Welt bedienenden Geschwätzigkeit des Grundsatzprogramms der Partei und ihrer Wahlprogramme, an die sie sich eh nicht hält, entgegengetreten werden mit einem auf akut Wesentliches konzentrierten Aktionsprogramm zur Wahrung dezidiert lohnabhängiger Interessen. Denn dafür liegt ja aufseiten der proletarischen Plattform durchaus schon einiges vor oder steckt zumindest im Köcher.
Eines unser wesentlichsten Anliegen, die Verteidigung der 40-Stundenwoche durch ihre Erhebung zur gesetzlichen Norm, hatte es bis in seine Ausformulierung hinein 2013 sogar ins Bundestagswahlprogramm der Partei geschafft und findet sich auch im Programm von 2017 im Kern noch wieder. Es hat sich nur leider erwiesen, dass es in der politischen Praxis der Partei, obwohl die Idee dazu ihre Quellen im Parteivorstand hatte, nie eine auch nur halbwegs angemessene Rolle gespielt hat, sondern sehr bald oder auch von vornherein nur ein Tupfer war auf einem großen Reklameschild, worauf die Partei dem Publikum alles zeitgeistig nur mögliche verspricht, wenn man sie nur endlich gehörig mitmachen lässt. Statt Konzentration auf ein strategisches Interesse der Klasse, dessen Realisierung ein Stück der Lebenszeit jedes ihrer Mitglieder gegen die Beschlagnahme durchs Kapital sicherte und in der Auseinandersetzung darum zugleich ein Stück Bewusstsein vom Dasein ihrer selbst als Klasse ihr zurückgäbe, bastelt man immerfort an einem Flickenteppich von Vorschlägen, wie die verschiedensten Varianten lohnabhängiger Existenz durch staatliche Regelungen zu zahllosen Einzelaspekten ihrer Arbeitszeit endlich glücklich würden. Kurzum und echt sozialdemokratisch: an die Stelle der unmittelbaren Abhängigkeit der Proleten vom Kapital setzt man ihre Abhängigkeit von einem in allemöglichen Lebensfragen regulierend eingreifenden Staat – des Kapitals.
Gegen diesen staatsfrommen Sozialdemokratismus ist natürlich auch unser zweites strategisches Anliegen gerichtet: die Rückführung des ganzen Sozialversicherungswesens in die Regie der Klasse. Vielleicht stärker noch als hinsichtlich der Arbeitszeitnormierung hat hier die Corona-Zeit ihre Dringlichkeit herausgearbeitet. Dem Staat so bald es geht und für alle Zukunft die Möglichkeit abzuschneiden, derart missbräuchlich in die Krankenkassen zu greifen und die Kasse der Arbeitslosenversicherung restlos zu plündern, wie es Coronas wegen jetzt geschieht, müsste an sich jedem dem lohnabhängigen Interesse verpflichteten Verstand, der noch nicht ganz im Sumpf sozialdemokratischer Denkungsart versunken ist, mit etwas Denkarbeit sehr rasch einleuchten. Auch im Sinne dieses Ziels der Befreiung der Sozialversicherungen aus ihrer ruinösen staatlichen Gängelung läge es daher an sich auf der flachen Hand, die Corona-Opposition in ihrer die Freiheitsrechte des Grundgesetzes akzentuierenden, dem Staat Grenzen setzenden Intention entschieden zu verteidigen.
Ein ins Haus stehendes Jubiläum
Und wo ich schon einmal beim Träumen war – Im kommenden Frühjahr jährt sich wie gesagt jener Aufstand des Pariser Proletariats zum runden 150sten Mal, der als „Pariser Commune“ in die Geschichte eingegangen ist. Das mit dem im Jahr zuvor begonnenen Krieg zwischen dem französischen Kaiserreich und Bismarcks Preußen verknüpfte Datum markiert so etwas wie einen Knotenpunkt sowohl überhaupt in der neuzeitlichen Geschichte Europas als auch insbesondere in der Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung. In seiner Folge hat sich deren Schwerpunkt ein Stück nach Osten, von Frankreich nach Deutschland verlagert. Dies vor allem deshalb, weil die als Ergebnis des preußischen Sieges über Frankreich zustande gekommene staatliche Zusammenfassung der deutschen Länder zum Kaiserreich deren Industrie einen mächtigen Schub verpasst und sie bald als Motor der kapitalistischen Entwicklung in Europa Frankreich überflügeln ließ.
Das Datum der Jahre 2020/21 scheint mir durchaus Anlage zu besitzen, unter vielerlei Gesichtspunkten eines ferneren Tages einen ähnlichen Knotenpunkt zu markieren, der vielleicht sogar mit dem Knotenpunkt von 1870/71 in der einen oder anderen Hinsicht eine in sich zusammenhängende Linie bildet. Sowohl die europäische Union als auch der Euro, beide zentriert um die deutsch-französische Achse, dürften mit der durch den Viruswahn induzierten Krise, die keine gesellschaftliche Sphäre ausspart, an ein gewisses Ende gelangt sein – zumal sie den Kulminationspunkt einer ganzen Reihe krisenhafter Prozesse bildet, von denen es kein einziger zu einer die Krise wie auch immer bereinigenden Entscheidung gebracht hat. Mit EU und Euro sind aber wiederum die Schicksale sowohl der Berliner als auch der französischen Fünften Republik aufs engste verknüpft. Und jedenfalls was das politische Personal der Ersteren angeht, so scheint es seinerseits nahezu durch die Bank sein Schicksal auf Gedeih und Verderb mit dem Corona-Regime samt dessen desaströsen Folgen verknüpft zu haben, von dem derzeit überhaupt nicht abzusehen ist, wie es zu irgendeinem Ende zu bringen wäre, das nicht seine ganze Berechtigung von Grund auf infrage stellt.
Und schließlich könnte, als ein schon etwas skurriles Seitenstück des derzeitigen Dramas, es sich herausstellen, dass die Jahre 1870 und 2020 Morgen- und Abenddämmerung der deutschen Sozialdemokratie markieren, deren Ende dann womöglich das ganze in seinem europäischen Umfeld inzwischen ja ein wenig fossil anmutende altehrwürdige bundesdeutsche Parteiensystem mit in ihren Abgrund reißt.
Was aus alldem wird, bleibt natürlich abzuwarten. Aber das Studium jenes geschichtlichen Datums, soviel scheint mir einigermaßen gewiss, könnte unter vielerlei Aspekten jetzt bereits helfen, in Bezug auf unsere ja wirklich ganz erstaunliche Gegenwart wenigstens etwas klüger zu werden.
Vom Geist der Kommune
Was nun aber die Arbeiterbewegung im Besonderen betrifft, so scheint mir für die Schärfung unseres Blickes auf unsere Jetztzeit ein Aspekt jenes historischen Datums von besonderem Interesse, der eher selten in den Fokus rückt. In seinem „Bürgerkrieg in Frankreich“ gibt Marx u. a. die folgende Charakteristik der revolutionären Commune von Paris: Sie sei „die erste Revolution“ gewesen, „in der die Arbeiterklasse offen anerkannt wurde als die einzige Klasse, die noch einer gesellschaftlichen Initiative fähig war; anerkannt selbst durch die große Masse der Pariser Mittelklasse – Kleinhändler, Handwerker, Kaufleute –, die reichen Kapitalisten allein ausgenommen.“ Unter den von Marx anschließend angeführten Gründen, die diese „große Masse der Pariser Mittelklasse“ an die Seite des Proletariats geführt habe, fällt einer besonders auf, weil er auf ihre Prägung durch die französische Aufklärung und die Große Revolution von 1789 verweist, auf etwas also, das der deutschen Geschichte und namentlich der deutschen Mittelklasse, resp. dem deutschen Bürgertum, ob klein oder groß, so schmerzlich abgeht: „Das Kaisertum hatte … ihren Voltairianismus beleidigt durch Überlieferung der Erziehung ihrer Kinder an die ‚unwissenden Brüderlein‘“. Am Ende dieser Charakteristik heißt es dann freilich: „Ob die Dankbarkeit dieser großen Masse der Mittelklasse die jetzigen schweren Prüfungen bestehn wird, bleibt abzuwarten.“[12]
Über das Prüfungsergebnis habe ich in den blauen Bänden leider nichts gefunden (und zur Fahndung nach sonstiger Literatur dazu und gar ihrer Sichtung ist im Moment keine Zeit). Es wird vermutlich bestenfalls ambivalent ausgefallen sein. Aber wie auch immer. Der Unterschied dieser ersten französischen Arbeiterrevolution zu derjenigen der Jahre 1918 ff, die das deutsche Kaiserreich stürzte, bleibt frappant. Statt einer Anerkennung der revolutionären Initiative der Arbeiterklasse seitens des Kleinbürgertums hat dieses sich vielmehr bei der Abschlachtung der revolutionären Arbeiter hervorgetan. „In Deutschland“, schrieb Friedrich Engels knapp dreißig Jahre zuvor einmal, „ist das Spießbürgertum Frucht einer gescheiterten Revolution, einer unterbrochnen, zurückgedrängten Entwicklung, und hat seinen eigentümlichen, abnorm ausgebildeten Charakter der Feigheit, Borniertheit, Hilflosigkeit und Unfähigkeit zu jeder Initiative erhalten durch den 30jährigen Krieg und die ihm folgende Zeit – wo gerade fast alle anderen großen Völker sich rasch emporschwangen.“ Dieser Charakter sei ihm geblieben, habe sogar „sich allen andern deutschen Gesellschaftsklassen“ als „deutscher Typus“ aufgedrückt, schreibt Engels weiter und hält schließlich fest, „der englische, französische etc. Kleinbürger“ stehe „keineswegs mit dem deutschen auf gleichem Niveau.“
„Die deutschen Arbeiter“ nimmt Engels in diesem Text – er datiert von 1890 – allerdings von solcher Charakterprägung explizit aus. Sie hätten, schreibt er, „die spießbürgerliche deutsche Borniertheit total abgeschüttelt“. Aber in der ein Jahr später erschienenen „Einleitung“ zur dritten Auflage von Marxens „Bürgerkrieg“ setzt er den Akzent ganz anders. Nachdem er dort die „in allen bisherigen Staaten unumgängliche Verwandlung des Staats und der Staatsorgane aus Dienern der Gesellschaft in Herren der Gesellschaft“ und die Mittel, welche die Commune dagegen angewandt hatte, angesprochen hat, obwohl das alles in Marxens Schrift dann noch ausführlich dargestellt wird, schreibt er, es sei nötig, darauf „nochmals kurz … einzugehn“, „weil gerade in Deutschland der Aberglaube an den Staat aus der Philosophie sich in das allgemeine Bewusstsein der Bourgeoisie und selbst vieler Arbeiter übertragen hat.“[13]
Angesichts der Orgien, die mittlerweile dieser „Aberglaube an den Staat“ in der deutschen Linken feiert, von den Gewerkschaften und der SPD ganz zu schweigen, ist das Urteil vielleicht nicht völlig abwegig, dass mit dem Untergang der Commune und der Verschiebung des Kraftzentrums der europäischen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland (von späteren Entwicklungen ganz abgesehen) wohl ein schwerwiegender Verlust einherging, der bis heute nicht eingeholt ist. Denn dass 1918 ff die revolutionären Arbeiter so dermaßen auf verlorenem Posten standen, hatte seinen Grund sicher am wenigsten in der staatsfrommen Spießigkeit der deutschen Kleinbürger. Vielmehr war diese nur die mehr oder weniger zwangsläufige Ergänzung derselben Charaktereigenschaft bei der Mehrheit der organisierten Arbeiterschaft.
Und wo ich schon dabei bin, sei mir noch diese Spekulation erlaubt: dass es nämlich möglicherweise erst soweit kommen musste, wie es jetzt mit der arbeiterbewegten Linken gekommen ist, damit ein bei aller Spießigkeit in fernen Winkeln des zwischen Prosperität und Prekarität flottierenden deutschen Kleinbürgertums vielleicht tiefverborgen immer schlummernder Geist der Rebellion gegen staatliche Anmaßungen und autoritäre Bevormundung sich so zahlreich ans Licht gewagt hat. Wie gesagt: Spekulation. Aber davon bin ich mittlerweile dennoch völlig überzeugt: Dass namentlich die Linke ausgerechnet darauf wie besessen jetzt eindrischt, bezeichnet einen Tiefpunkt ihres politischen und moralischen Verfalls, der kaum mehr unterbietbar scheint. Es bräuchte daher in dieser Corona-Zeiten-Wende eine von Grund auf erneuerte, wahrhaft proletarische Linke, damit für die Proleten und alles darum gruppierte sonstige werktätige Volk Aussicht auf ein auch nur halbwegs gutes Ende bestünde. Und diese Erneuerung könnte nur gelingen, sofern hinreichend viel irgendwie noch arbeiterbewegtes linkes Volk begänne, wenigstens in seinen Köpfen „den ganzen Staatsplunder von sich abzutun“, und sich jenes freiheitlichen Geistes entsänne, der in der Commune von Paris vor 150 Jahren für eine historische Sekunde sein ganz praktisches Werk verrichtet hat.
Und selbstverständlich steht das alles hier im Konjunktiv. Ich mag mir aber noch nicht vorstellen, dass außer uns Prols (und wie’s da aussieht, weiß ich natürlich auch noch nicht wirklich) es niemand in der Linken mehr gibt, der oder die, wenn man ihr mit solchen Überlegungen kommt, nicht nur Bahnhof versteht.
[1] Karl Marx: Kritik des Gothaer Programms. In: MEW Bd. 19, S. 23, sowie: Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. In: MEW Bd. 4, S. 472 [2] Karl Marx a. a. O., S. 27 [3] Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich. In: MEW Bd. 17, S. 340 [4] ebenda [5] VG Berlin, Beschluss vom 28.08.2020 - 1 L 296/20, S. 4 [6] Siehe Fn. 37 [7] Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Berlin verbietet Corona-Demonstrationen. Pressemitteilung vom 26.08.2020 [8] und zwar anscheinend dadurch, dass der Vorstand der Partei seine Kür einstimmig vornahm, so jedenfalls der Tenor zahlreicher Meldungen darüber. Genaueres dazu hat meine Recherche aber nicht ergeben, und dem Organisationsstatut der SPD kann ich auch keine dahin lautenden Bestimmungen entnehmen. [9] Welt am Sonntag: Im Notfall bleibt Annegret Kramp-Karrenbauer erst einmal im Amt, 23.08.2020. Vgl. auch Peter Grimm: AKKs Corona-Parteitag: Weniger Demokratie wagen! [10] Mehr dazu kann z. B. in der Flugschrift „Nach dem Kosovokrieg: Wo steht die revolutionäre Linke?“ nachgelesen werden. [11] Neben einer Veröffentlichung kurzer Pamphlete entsprechenden Inhalts auf unsrer Homepage könnte man bei Plattformen wie den Nachdenkseiten oder Rubikon anfragen, ob sie dort gespiegelt werden, aber vielleicht auch beispielsweise beim Magazin. Und apropos Rubikon: Dort ist vor kurzem der sehr lesenswerte „Exklusivabdruck“ eines Auszugs aus einer vom Rhein-Main-Bündnis gegen Sozialabbau und Billiglöhne herausgegeben Broschüre mit dem Titel „Lockdown – Nicht nochmal! Eine Streitschrift zur Sache“ erschienen. Einer ihrer drei Autoren ist Rainer Roth, den einige von uns sicher noch in bester Erinnerung haben als einen, der die Proteste gegen die Hartz-Reform maßgeblich in Gang gebracht und mit solider Aufklärung versorgt hat. Die Broschüre kann im Übrigen hier bestellt werden. [12] MEW Bd. 17, S. 344. Fertiggestellt hatte Marx den Text unmittelbar, nachdem die Commune gefallen war und die Truppen der Versailler Reaktion darangegangen waren, unter den Communarden von Paris ein fürchterliches Massaker anzurichten. [13] Friedrich Engels: Einleitung [zu "Der Bürgerkrieg in Frankreich" von Karl Marx (Ausgabe 1891)] In: MEW Bd. 22, S. 198 Ausblenden |
Nicht seine Kritik der politischen Ökonomie lieferte Marx den Schluss auf jenes „revolutio-näre Subjekt“ namens „Prole-tariat“ – herleiten lässt sich aus ihr nichts dergleichen –, son-dern genau andersherum be-gründete die schiere Evidenz des Daseins und Wirkens die-ses Subjekts allererst eine Kritik der politischen Ökonomie, die das Kapital als „Durchgang“ hin zur menschlichen Gesellschaft diagnostiziert. Striche man da-gegen aus der Marxschen Di-agnose dieses einzige wahrhaft historisch-subjektive Moment darin aus, bliebe von ihr nur das Attest eines unaufhaltsa-men Verhängnisses.(*)
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