Hysterie in der Pandemie

Bourgeoisie ringt um Geschlossenheit, Kleinbürgertum wird wild,

Proletariat weiß nicht so recht: Die proletarische Position entwickeln

statt sich dem Kleinbürgertum unterordnen

von RO, JA, KXS

„,Gerade 2020 gab es einen noch höheren Anteil an über 80-Jährigen, die auch ohne Corona zu einer erhöhten Sterberate geführt hätten.‘ So wären nämlich im vergangenen Jahr ohnehin 40.000 Tote mehr zu erwarten gewesen als es durchschnittlich in den Vorjahren der Fall war.“ (Trotz Pandemie gab es 2020 keine Übersterblichkeit, Focus 06.02.2021)

 

„Nach vorläufigen Ergebnissen gab es in der 52. Kalenderwoche (21. bis 27. Dezember 2020) mindestens 24.470 Todesfälle. Das sind 31 Prozent oder 5832 Fälle mehr als im Durchschnitt der Jahre 2016 bis 2019.“ (Deutlich mehr Todesfälle durch Corona? Übersterblichkeit erklärt, WDR 22.01.2021)

 

„Ich gehe davon aus, dass wir, sagen wir, vielleicht bis Ostern oder bis Mai ganz klare experimentelle Evidenz haben, ob jetzt dieses Virus übertragbarer und gefährlicher ist oder nicht. Aber das wird einfach dauern.“ (Drosten zur Corona-Variante B 1.1.7., Die Zeit 06.01.2021)

 

„Viren sind nicht das Problem-bleiben Sie besonnen! US Staaten beenden alle Maßnahmen

Nach Texas folgte Mississippi und zwei Stunden später Tennessee. Texas. Florida. Tennessee. Mississippi. South Dakota. Tennessee öffnet alles zu 100% und beendet die Maskenpflicht ab sofort. Ohne Stufenplan. Ohne Tests. Ohne Bedingungen. Wann folgen Schleswig-Holstein, Hessen, Sachsen Meck.-Pomm., Niedersachsen, Hamburg, usw.?“ (www.wodarg.com, Startseite vom 06.03.2021)

 

Wissenschaft und wissenschaftliche Erkenntnis finden genauso wenig wie die Pandemie in einem gesellschafts- und geschichtslosen Kontext statt. Wissenschaftliche Paradigmen wie z.B. der Neoliberalismus oder Utilitarismus spiegeln im Verlauf einer Pandemie den zivilisatorischen Stand der Gesellschaft wider. Im Gegensatz dazu spielt in der Debatte die Frage nach der Selbstermächtigung der Lohnabhängigen keine Rolle.

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Anhand der Indikatoren der Pandemie sind in der Öffentlichkeit unterschiedlichste, widersprüchlichste Interpretationen erkennbar. Dies hat sich auch nach über einem Jahr nicht verändert. Empirie und Statistik dienen zur Illustration von Glaubensfragen. Die mangelnde wissenschaftliche Evidenz ermöglicht es, das Zahlenmaterial so zu interpretieren, wie es der jeweiligen Interessenlage entspricht. Innerhalb dieser teils laienhaften Wissenschaftsdebatte wäre es falsch, sich eine auf dem aktuellen Wissensstand fußende endgültige und abschließende Meinung anzumaßen.

Die Auseinandersetzung um die Zahlen findet als ideologischer Klassenkampf statt: Ob Maßnahmenbefürwortung, -kritik oder Pandemieverleugnung: Einhellig wird induktiv von der Statistik auf die allgemeine gesellschaftliche Lage geschlossen. Wir hingegen sollten methodisch vom Allgemeinen zum Besonderen und Konkreten voranschreiten, daher von der Geschichte der Gesellschaft und ihres aktuellen Klassenverhältnisses ausgehen und damit die gesellschaftliche Totalität betrachten. Wir leben in einer Klassengesellschaft, deren Aktivität und widerstreitende Klasseninteressen den Umgang mit der Pandemie bestimmen.

 

Klassengesellschaft in der Pandemie

Verdoppelung der Anspruchstage auf Kinderkrankengeld, auch bei Schul- und Kitaschließungen, Kinderbonus und Zuschuss zur Grundsicherung, Aussetzung der Prüfung von Vermögen und Unterkunftskosten in der Grundsicherung, massive Steuererleichterungen für Unternehmen, eine Milliarde Euro Rettungsprogramm für Kulturschaffende und erheblich verringerter Mehrwertsteuersatz für die Gastronomie: Die Große Koalition bedient fortlaufend, so auch mit ihren Beschlüssen Anfang Januar 2021 über ausgeweitete und fortgesetzte Corona-Hilfen wie mit der Gießkanne verschiedene Klasseninteressen. Wie unter Normalbedingungen wird das Proletariat natürlich von der herrschenden Klasse übervorteilt.

Der ideelle Gesamtkapitalist bindet Klasseninteressen und -fraktionen mit ein, befriedet, gleicht aus. Novemberhilfen, Rettungsprogramme und Erleichterungen bei der Grundsicherung gibt es fürs Kleinbürgertum, Kurzarbeit, Kinderbonus und Kinderkrankengeld fürs Proletariat und Steuergeschenke, Staatsbeteiligungen und Subventionen für das Kapital. Denn nicht nur die Lohnabhängigen haben Einschränkungen hinzunehmen, auch Teile des Kleinbürgertums und des Großkapitals sind betroffen. Mehrwertproduktion und Profitmacherei sind unter den Corona-Maßnahmen eingeschränkt.

Gleichwohl nutzt die herrschende Klasse die Gunst der Stunde, um ihren Interessen nachzukommen. So wurde das Arbeitszeitgesetz weiter verschlechtert, sodass überlange Arbeitszeiten unter Umgehung von Tarifverträgen ermöglicht wurden. Der Versuch proletarische Errungenschaften zu beseitigen, bedarf keiner Diktatur. Ein diktatorischer Großangriff auf das Proletariat oder gar eine internationale Verschwörung ist nicht auszumachen. Solch ein Angriff hätte auch ein ernstzunehmendes international kämpfendes kommunistisches Proletariat zur Voraussetzung. Statt eine neue Periode des Klassenkampfes von oben ist eine Kontinuität des auch vor Corona festgestellten Bestrebens der Bourgeoisie zu beobachten, Rechte und Errungenschaften des Proletariats weiter einzuschränken. Die Arbeiterbewegung fällt aufgrund dieser relativen Normalität nicht in Alarmstimmung.

Diese Kontinuität setzt den hierzulande gut erprobten Klassenkompromiss fort. Das korporatistische Denken scheint weiter zu bestehen. Es beinhaltet, die faktisch nicht allzu mächtigen, aber potentiell mächtigen Gewerkschaften einzubinden. Der DGB etwa hat eine gesetzliche Erhöhung des Kurzarbeitergeldes ausgehandelt. Freilich zulasten der Arbeitslosenkassen konnten Massenentlassungen verhindert werden. Der Ver.di-Vorsitzende hat eine gewohnt bescheidene TvÖD-Runde bestreiten können. Die SPD ringt der CDU recht erfolgreich sozialpolitische Reförmchen ab.

Bemüht um eine ruhige Heimatfront muss der ideelle Gesamtkapitalist auch dem Kleinbürgertum Zugeständnisse machen. Dem Verlangen nach Lockerungen wird er voraussichtlich nachkommen müssen. Der Virologe Hendrik Streeck positionierte sich etwa prominent vor der Bund-Länderrunde Mitte Januar gegen auch wirtschaftliche „Kollateralschäden“: „Wir müssen dazu übergehen, mit einem Skalpell statt mit einem Hammer zu arbeiten.“, gab er der Presse bekannt. Heribert Prantl etwa wetterte in der Berliner Zeitung gegen Grundrechtseinschränkungen: „Problematisch sind Kontaktverbote […] Wir haben Einschränkungen der Gewerbefreiheit, die existenzgefährdend sind […] Mir wird manchmal gesagt: Prantl, haben Sie sich nicht so, dann können Sie halt am Wochenende einmal nicht in die Alpen fahren. Doch darum geht es nicht.“

Angesichts der in den Mainstream-Medien lauten Kritik blieb eine Verschärfung des Lockdowns im Januar 2021 aus. Nach einem erneuten Ansteigen der Inzidenzen im Frühjahr haben sich innerhalb des bürgerlichen Spektrums weder die Befürworter des konsequenten Lockdowns noch die der weiteren Lockerungen durchsetzen können. Ein Durchregieren der herrschenden Klasse mit einhelliger Position ist nicht zu erkennen. Gleichwohl wurde dem Föderalismus mit der Notbremse des Bundes aktuell eine Grenze gesetzt, wobei sich das für seine Gewerbefreiheit votierende Bürgertum durchgesetzt hat: Schulen, öffentliche Verkehrsmittel und Betriebe bleiben offen, Ausgangssperren greifen restriktiv.

Im Wettrennen um wirtschaftlichen, geopolitischen und militärischen Einfluss strebt Deutschland weiterhin nach einer Vormachtstellung. Der Staat als ideeller Gesamtkapitalist hätte die Aufgabe, dem deutschen Kapital ein starkes Auftreten auf dem internationalen Parkett zu ermöglichen. Auch dies gelingt ihm derzeit nur eingeschränkt.

Es ist wahrscheinlich, dass die Corona-Pandemie genutzt wird, um die sich schon seit Herbst 2019 ankündigende Weltwirtschaftskrise als Folge der Pandemie hinzustellen und nicht als systemisches Versagen des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Spätestens in der Krise benötigt die herrschende Klasse eine stabile Heimatfront unter Einbindung aller Klasseninteressen. Die innenpolitischen Zugeständnisse an Kleinbürgertum und Proletariat geschehen daher nicht aus Menschenfreundlichkeit.

 

Mittelschichtsmythos und Coronaproteste

Der heutige Neoliberalismus ist nicht viel mehr als die Wiederkehr des „alten“ Verständnisses vom Kapitalismus. Ein Nachtwächterstaat, der sich aus allen Belangen der sozialen Fürsorge zurückzieht, bzw. sie ihrer (Re-)Privatisierung überlässt. Kollateralschäden sind dabei nicht nur nicht zu vermeiden, sondern als Mahnung an alle anderen Lohnabhängigen geradezu eingeplant. „Arbeite schön brav und fleißig, sonst geht es dir so wie denen, die nicht (mehr) können (wollen)“, lautet die Botschaft. Nur der Starke kommt durch! So ist es ja schließlich auch in der Natur!

Und hier verbindet sich das Liberal-konservative mit dem Völkisch-nationalistischen. Ein starker, militaristisch hochgerüsteter Staat nach außen und, man weiß ja nie, nach Innen. Alles andere soll Sache des Individuums sein. Jeder ist seines Glückes Schmied und wer es nicht schafft, für den bleibt ja noch das sozialverträgliche Absterben.

Vor diesem Hintergrund offenbaren sich die Zahlenspielereien um „an oder mit Corona Verstorbenen“, der sich vor allem auf die Alten und Kranken („Vorerkrankungen“) bezieht, als Ausfluss einer Klassengesellschaft, in der menschliches Leben entweder als Träger der Ware Arbeitskraft weiterhin erhaltenswert erscheint oder aber obsolet ist.

Dieser Sozialdarwinismus, der sich in allen bürgerlichen Parteien mehr oder minder ausgeprägt wiederfindet, findet sich in Bezug auf das Phänomen der Corona-Pandemie zur Zeit sehr stark wieder auf der Seite der „Corona-Leugner“ und anderer „Querdenker“.

Außer in Bezug auf die sogenannte „Triage“: Anhand dieses Verfahrens wird auch das sozialdarwinistische Denken der Pandemiebekämpfer deutlich. Schon immer kalkulierte die bürgerliche Gesellschaft damit, im Großen wie im Kleinen, das individuelle Recht auf Leben aussetzen, nach Nützlichkeitskriterien auswählen zu können. Sei es in den Lazaretten hinter den Fronten, oder während der Verbreitung von Seuchen und Epidemien, wer wird wieder „arbeitsfähig“, wer kann wieder an die „Front“ zurück und wer hat „ausgedient“. Die aktuelle Corona-Pandemie nutzend wird dem verständnisvollen Volk schon einmal demonstriert, dass das Schicksal des Einzelnen dem staatlichen, ökonomisch-politisch-militärischen Interesse untergeordnet ist.

Vor der Klammer steht und undiskutiert bleibt, wie es zu diesem Krieg oder jener Notlage an Personal kam. Oder anders, die Ursachen, die zur Notwendigkeit der Auswahl über Leben und Tod führen, werden zur „Natur“ und damit in Stein gemeißeltes Anathema.

Wirtschaftsliberale, die völkisch denken, haben mit dieser Maßnahme der Corona-Bekämpfung wohl die geringsten Probleme. Denn eine durchgeführte Triage im Krankenhaus ist ja nur die nachgeholfene natürliche Selektion, auf die viele, angefangen von der „Sezession“ des Herrn Kubitschek, über die neue Züricher Zeitung, die vom „Seuchensozialismus“ angesichts der Wirtschaftsmaßnahmen der Regierungen schwadroniert, bis hin zu Boris Palmer von den Grünen, der der Meinung ist, dass sowieso zu viel Aufwand in Leute gesteckt wird, die ohnehin bald gestorben wären. Die Motive sind unterschiedlich, aber das Resultat bleibt dasselbe: Die Rettung von Leben ist nicht so wichtig. Es bleibt kein Platz für die feinen Unterschiede. Wie im rechtsextremen Denken sollen die Starken leben und die Schwachen sterben.

Alle Maßnahmen des „ideellen Gesamtkapitalisten“ zur Eindämmung der Pandemie sind unter diesen Gesichtspunkt unnötig und überzogen. Das bisschen (alte) Leben gegen so viel „faktische Einschränkungen der Gewerbefreiheit und der Bewegungsfreiheit“ kann die „Freiheit“ schon kosten. (Heribert Prantl in Servus TV)

Diese ideologische deutsche Kette von dem Neoliberalismus der Bourgeoisie mit seinem Link zum sozialdarwinistischen Völkischen hin zum Kleinbürgertum, hin zu gut situierten Teilen des Proletariats, ideologisch verschmolzen zur „Mittelschicht“, macht zum Großteil die Gemengelage der Coronaprotestszene aus. ‚Bürger‘ machen aufs Private bezogene Freiheitseinschränkungen geltend.

„Das auf seine Individualrechte – Freiheit eben das Freisein von Zwang, besteht für sie darin, alles werden, alles sagen, lesen und hören, überallhin verreisen, über die Regierung, Gott und die Welt schimpfen, kurzum: alles mögliche tun und lassen zu können – pochende Individuum ist durch und durch bürgerliches Individuum. Seine konstituierende Voraussetzung ist der vereinzelte Eigentümer, der im anderen den Konkurrenten, potenziell denjenigen, der seine Existenz vernichtet, seinen Feind sieht. Die Nichteigentümer, also nur über ihre Ware Arbeitskraft Verfügenden, die vom Besitzbürgertum ausgebeutete, unterdrückte Klassen, ebenfalls Feinde.“[1]

Das neoliberale Paradigma ist akzeptiert, das Individuum ist ein Privates und seine Geschäftsbedingungen ebenso. Die verwöhnte Mittelschicht beklagt den Einbruch in ihre Lebenswelt und fordert Sonderrechte für sich ein, so etwa bei Hartz 4. Sie hat sich jedoch zuvor nie für Hartz4 und die davon betroffenen Schichten interessiert, anstatt gemeinsam mit diesen Schichten einen Kampf gegen den Sozialabbau zu beginnen.

Der rebellische Kleinbürger ist nach wie vor völlig konform mit dem Bestehenden. Er möchte nichts als die Wiederherstellung der Normalität: Kapitalismus und Gewerbefreiheit, privater Konsum und Vergnügen, Reisen etc., so wie es war. Die ganz normale Mehrwertabpressung. Die ganz normale Ausbeutung. Koste es, was es wolle.

 

Proletariat in der Pandemie

Zwei Aspekte in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung zur Verschleierung der Klassenauseinandersetzungen spielten schon immer eine herausragende Rolle. Zum einen die frühe Orientierung der deutschen Arbeitervereine und später der Arbeiterpartei auf den „Volksstaat“ und zum anderen die Orientierung gut situierter Teile der Arbeiterklasse an der deutschen Leitkultur des Kleinbürgertums. Letzteres orientierte sich wiederum an der Bourgeoisie. So stellt es sich auch in der Corona-Pandemie dar: Einerseits konformistisches Einverständnis mit Staat und Sozialpartnerschaft, andererseits Verständnis für den kleinbürgerlichen Protest gegen den Lockdown.

Trotz der Tendenz einiger Teile des Proletariats sich am Kleinbürgertum zu orientieren, scheint es in seiner Gesamtheit für die Corona-Protestszene zur Zeit nicht mobilisierbar zu sein. Die oben angedeutete Tradition der Orientierung auf den Staat, die 100jährige Kooperation seiner Parteien mit eben diesem und der Bourgeoise haben ihre Spuren hinterlassen.

Das notwendige Losreißen von dieser Tradition darf jedoch nicht darin bestehen, sich gegen den Staat mit dem neoliberalen-völkischen Kleinbürgertum unterordnend zu verbünden. Marx hat dies sehr deutlich gemacht.[2]

Umgekehrt: Das Proletariat muss seine eigene Position finden und von dieser ausgehend kann auch aus einer programmatischen Position der Stärke heraus ein Angebot an Teile des Kleinbürgertums gemacht werden.

Dazu müssen auch die Teile der Klasse, die sich als ‚Mittelschicht‘ dem Kleinbürgertum ideologisch verbunden fühlen, von diesem losgerissen werden, dem Prekariat sich zuwenden und nicht im Gegensatz dazu in ein Bündnis mit dem Kleinbürgertum getrieben werden.

 

Kampf um die „demokratische Republik“

„In der industriellen Welt tritt aber der spezifische Charakter der auf dem Proletariat lastenden ökonomischen Unterdrückung erst dann in seiner vollen Schärfe hervor, nachdem alle gesetzlichen Sondervorrechte der Kapitalistenklasse beseitigt und die volle juristische Gleichberechtigung beider Klassen hergestellt worden; die demokratische Republik hebt den Gegensatz beider Klassen nicht auf, sie bietet im Gegenteil erst den Boden, worauf er ausgefochten wird.“[3]

Für das klassenbewusste Proletariat ist die demokratische Republik Grundlage ihrer Kampfbedingungen, dazu gehört auch die Verteidigung der Koalitions- und Versammlungsfreiheit und die Kritik an der Schleifung der proletarischen Kassen.

Die Corona-Protestler wollen die Vor-Corona-Normalität zurück. Es geht ihnen um die Rückkehr zum kapitalistischen Alltag. Wir hingegen wollen das proletarische Programm mit entwickeln helfen, welches auf die Aufhebung der kapitalistischen Produktion abzielt. Daher sehen wir keinen Anlass zurückzukehren zu einem verfrühten Aktionismus, wie er in der alten Linken nicht unüblich war und nicht selten zu Hysterie und Weltuntergangsfantasie führte.

Vor lauter Angst um Freiheitsrechte sollten wir nicht die Schutzrechte des Proletariats gefährden. So sind die Schutzrechte des Proletariats immer auch ein Eingriff in individuelle Freiheiten, so etwa im Arbeitszeitgesetz. Geltendes Recht und Normen im bestehenden bürgerlichen Staat sind Ausdruck des Klassenverhältnisses und Resultat vergangener Klassenkämpfe. Das Proletariat ist derzeit nicht in der Lage, sich selbsttätig zu schützen, sodass ein Angriff auf den Leviathan auch einen Angriff auf die Schutzrechte des Proletariats bedeutet. Dieser Angriff sollte nicht dem Behemoth Vorschub leisten. So bietet auch der bürgerliche Klassenstaat einen gewissen Schutz vor der Willkür der Kapitalisten und des Bandenwesens (Krisengewinnler, Kartelle, illegale Geschäftemacherei etc.).[4]

Die Aufgabe der Kommunistinnen und Kommunisten besteht weiterhin darin, das Proletariat in die Situation zu bringen, den bürgerlichen Klassenstaat aufzuheben. Dazu ist eine theoretische Klarheit über die notwendigen Negationen der bürgerlichen Gesellschaft und ein Ansatz zu einem proletarischen Aktionspro­gramm zu entwickeln. Dies bedeutet, die Pandemiemaßnahmen aus Sicht des Proletariats zu betrachten und seine Selbsttätigkeit zu befördern. In den Kommunen sind Rätestrukturen zu befürworten, um sich aus proletarischer Sicht in die Frage der Pandemiebekämpfung einzumischen.

Zu solch einem Programm gehört für uns:

  • Arbeitszeitverkürzung per Gesetz und Rücknahme der Verschlechterungen im Arbeitszeitgesetz, keine verlängerten Arbeitszeiten in der Pandemie
  • proletarische Einheitskrankenkasse, um Zugriff auf die Gesundheitsmaßnahmen zu erhalten und Missbrauch unserer Kassen durch die bürgerliche Politik und das Kapital zu verhindern;
  • z.B. um Zugriff auf die Impf- und Teststrategie zu erhalten und die Macht des Privateigentums und des Staates erheblich einzuschränken, in Eigenregie wissenschaftliche Erhebungen über die Gefährdung in den Betrieben oder die Verbreitung von Corona in der Bevölkerung durchführen und eigene Schutz- und Gegenmaßnahmen treffen zu können
  • 100 % Kurzarbeitergeld, finanziert durch eine zweckgebundene Vermögensabgabe
  • Arbeitslosenkasse in die Hände der proletarischen Selbstverwaltung
  • Ausweitung der Mitbestimmung von BR und PR in den Unternehmen. Vor allem Einhaltung des Vetorechts bezüglich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes
  • Aufhebung der Patente von Medikamenten und Impfstoffen gegen Corona
  • Keine Bundeswehr im Inneren mit Polizeiaufgaben und im Einsatz gegen die Bevölkerung oder im zivilen Einsatz in der Pandemiebekämpfung
  • bei Öffnung von Kindergärten und Schulen ausreichender, gut begründeter Gesundheitsschutz; Schulschließungen bei Gewährleistung einer sozialen und digitalen Infrastruktur
  • Dauerhafte und massive Erhöhung der Gehälter von Pflegekräften, sukzessive Verbesserung des Pflegeschlüssels und der Arbeitsbedingungen
  • Dauerhafte Abschaffung der Fallpauschalen
  • Bonuszahlungen für alle schlecht entlohnten aber systemrelevanten Berufsgruppen
  • Erhöhung von HARTZ IV – langfristige Überführung in die Arbeitslosenversicherung und damit Überwindung von Hartz IV
  • Leerstehende Hotels und Ferienwohnungen, Appartements für Obdach- und Wohnungslose und Familien in beengten Verhältnissen öffnen.
  • Flüchtlinge aus nicht zumutbaren Verhältnissen in Europa in Unterkünften in Deutschland aufnehmen
  • Finanztransaktionssteuer, Reichensteuer und zusätzlich zweckgebundene Vermögensabgabe zur Finanzierung der Sozialversicherung und der kommunalen Infrastruktur einführen
  • Einrichtung eines Corona-Solidaritätsfond, der von den reichsten 10% der Bevölkerung zu bezahlen ist
  • Versammlungsfreiheit und Demonstrationsrecht gewährleisten (unter Berücksichtigung gesundheitsschützender Maßnahmen)
  • Möglichst schnelle Wiederherstellung parlamentarischer Verfahren und der Legislative.

 


[2]     „Wenn solche Leute aus andern Klassen sich der proletarischen Bewegung anschließen, so ist die erste Forderung, daß sie keine Reste von bürgerlichen, kleinbürgerlichen etc. Vorurteilen mitbringen, sondern sich die proletarische Anschauungsweise unumwunden aneignen. Jene Herren aber, wie nachgewiesen, stecken über und über voll bürgerlicher und kleinbürgerlicher Vorstellungen. In einem so kleinbürgerlichen Land wie Deutschland haben diese Vorstellungen sicher ihre Berechtigung. Aber nur außerhalb der sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Wenn die Herren sich als sozialdemokratische Kleinbürgerpartei konstituieren, so sind sie in ihrem vollen Recht; man könnte mit ihnen verhandeln, je nach Umständen Kartell schließen etc. Aber in einer Arbeiterpartei sind sie ein fälschendes Element. Sind Gründe da, sie vorderhand darin zu dulden, so besteht die Verpflichtung, sie nur zu dulden, ihnen keinen Einfluß auf die Parteileitung zu gestatten, sich bewußt zu bleiben, daß der Bruch mit ihnen nur eine Frage der Zeit ist. Diese Zeit scheint übrigens gekommen. Wie die Partei die Verfasser dieses Artikels noch länger in ihrer Mitte dulden kann, erscheint uns unbegreiflich. Gerät aber solchen Leuten gar die Parteileitung mehr oder weniger in die Hand, wo wird die Partei einfach entmannt, und mit der proletarischen Schneid ist's am End.“ (Karl Marx/Friedrich Engels, Zirkularbrief an Bebel, Liebknecht, Bracke u.a., 1879, MEW 19, S. 165)

[3]     F. Engels, Ursprung der Familie; MEW 21, S.75/76

[4]     „Nach Thomas Hobbes ist der Leviathan der Staat, dessen Institutionen den Frieden der Bürger gewährleisten. Behemoth ist der Unstaat mit fortwährendem Bürgerkrieg. Franz Leopold Neumann macht aus dem Behemoth die faschistische Herrschaft. Beide Begriffe stammen aus dem Alten Testament und beide Ungeheuer besiegt Gott.“ Gunnar Hindrichs: Zur kritischen Theorie, 2020, S. 46 (Suhrkamp Taschenbuch).

 

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Nicht seine Kritik der politischen Ökonomie lieferte Marx den Schluss auf jenes „revolutio-näre Subjekt“ namens „Prole-tariat“ – herleiten lässt sich aus ihr nichts dergleichen –, son-dern genau andersherum be-gründete die schiere Evidenz des Daseins und Wirkens die-ses Subjekts allererst eine Kritik der politischen Ökonomie, die das Kapital als „Durchgang“ hin zur menschlichen Gesellschaft diagnostiziert. Striche man da-gegen aus der Marxschen Di-agnose dieses einzige wahrhaft historisch-subjek­tive Moment darin aus, bliebe von ihr nur das Attest eines unaufhaltsa-men Verhängnisses.(*)

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