Plattform am Ende

Einwürfe wider die Ignoranz in der proletarischen Plattform. Teil 2

von D. D.

„Das Proletariat ist derzeit nicht in der Lage sich selbsttätig zu schützen …“ (RO, JA und KXS: Hysterie in der Pandemie)

„Die römischen Proletarier wurden nicht Lohnarbeiter, sondern ein faulenzender Mob, noch verächtlicher als die sog. ‚poor whites‘ der Südstaaten der Vereinigten Staaten, und an ihrer Seite entwickelte sich keine kapitalistische, sondern eine auf Sklavenarbeit beruhende Produktionsweise. Ereignisse von einer schlagenden Analogie, die sich aber in einem unterschiedlichen historischen Milieu abspielten, führten also zu ganz verschiedenen Ergebnissen. Wenn man jede dieser Entwicklungen für sich studiert und sie dann miteinander vergleicht, wird man leicht den Schlüssel zu dieser Erscheinung finden, aber man wird niemals dahin gelangen mit dem Universalschlüssel einer allgemeinen geschichtsphilosophischen Theorie, deren größter Vorzug darin besteht, übergeschichtlich zu sein.“ (Karl Marx: Brief an die Redaktion der „Otetschestwennyje Sapiski“, in MEW 19, S. 111 f)

„Die meisten Deutschen befinden sich heute bekanntlich in einer Gemütsverfassung, die sich für den normalen Betrachter schlechthin als Geisteskrankheit oder mindestens als schwere Hysterie darstellt.“ (Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen)

„Diesmal komme ich auf Samtpfoten, du Dummchen!“ (Eine übers Plakat schleichende Katze auf verbotener Demo am 1. August 2021 in Berlin)

 

Was bisher geschah und was hier folgt

Die Autoren des „Hysterie in der Pandemie“ betitelten Textes sprechen gegen dessen Ende eine Warnung aus. Da das „Proletariat … derzeit nicht in der Lage“ sei, „sich selbsttätig zu schützen“, schreiben sie, bedeute „ein Angriff auf den Leviathan“, d. h. auf den bestehenden bürgerlichen Staat „auch einen Angriff auf die Schutzrechte des Proletariats“. Und RO, JA und KXS (ROJAKXS) gehen noch weiter, denn sie sehen obendrein durch denselben „Angriff“ eine faschistische Herrschaft drohen, wenn es im nächsten Satz da heißt: „Dieser Angriff sollte nicht dem Behemoth Vorschub leisten.“

Dieser Warnung vor einem mutwillig oder leichtfertig von wem auch immer heraufbeschworenen Faschismus sowohl vorausgeschickt als auch an sie anschließend, legen die Autoren ein strammes Bekenntnis dazu ab, „das proletarische Programm mit entwickeln helfen“ zu wollen, „welches auf die Aufhebung der kapitalistischen Produktion abzielt“, sowie zur „weiterhin“ bestehenden Aufgabe, „das Proletariat in die Situation zu bringen, den bürgerlichen Klassenstaat aufzuheben.“

DIN A4, 18 Seiten
Plattform am Ende.pdf
Adobe Acrobat Dokument 1.2 MB

Auf den eigenartigen Salto mortale, den ROJAKXS vollführen, idem sie ihre Warnung so paradox in diesen Kontext platzieren, bin ich im ersten Teils meiner „Einwürfe …“ bereits näher eingegangen. Nur kurz angerissen und insofern offengeblieben ist die Frage, ob der Behemoth eines solchen angeblich erst noch ausstehenden „Vorschubs“, vor dem ROJAKXS mit Blick auf eine unbestimmte Zukunft warnen, derzeit überhaupt bedarf; ob nicht vielmehr – nicht zuletzt dank „Corona“ – das Szenario eines neuerlichen Schubs totaler Herrschaft längst im Gange ist; ob nämlich im Innern des Leviathan die Kräfte seiner Verwandlung in den Behemoth nicht längst am Werke sind.

Unser Autorentrio sieht gegen Ende seines Textes

„Willkür der Kapitalisten und des Bandenwesens (Krisengewinnler, Kartelle, illegale Geschäftemacherei etc.)“

drohen, sollte jener „gewisse Schutz“, den der bürgerliche Klassenstaat dagegen biete, infolge eines Angriffs auf ihn wegfallen. Aber das Böse, was sie da auflisten, so der Kommentar am Schluss meiner ersten Entgegnung, stimme auf frappante Weise überein mit dem, was wir derzeit bereits erleben.

Nun scheint allerdings das Meiste dessen, was sich unter unseren Augen an Krisengewinnlertum abspielt, an ungenierter Geschäftemacherei mit ebenso offenkundigem wie teils sehr gefährlichem Unsinn, an dreister Willkür und bandenmäßiger Verabredung zum auf massenhaft erzeugter Panik gegründeten großen Reibach etc. streng genommen das Attribut „illegal“ vermissen zu lassen. Auch geht die Willkür, an der das Corona-Regime weiß Gott keinen Mangel leidet, kaum von bestimmten und bestimmbaren „Kapitalisten“, ja nicht einmal von eingrenzbaren größeren Kapitalverbunden aus oder allenfalls sehr indirekt. Vielmehr ist in all das „die Politik“ engstens hineinverwoben und sorgt zugleich für deren Legalität sowie, sozusagen als work in progress, die laufende Legalisierung auch ihres eigenen absichtsvoll mäandernden Tuns. Das freilich war beim letzten großen Schub in jene weltgeschichtliche Katastrophe, der sich seine Benamsung als „Behemoth“ verdankt, kaum anders.

Was dagegen wirklich anders ist als damals und was nicht und welche Folgerungen daraus heute zu ziehen sind, das wird im Folgenden ausführlicher erörtert werden. Und es wird der Frage nachgegangen, welche bestimmten sozialen Kräfte den neuerlichen Schub einer Verwandlung des alten Leviathans in den Behemoth, den ja auch ROJAKXS immerhin für möglich halten, denn überhaupt tragen. Daran anschließend werden der Umschlagpunkt im Prozess dieser Verwandlung, den die Installation der Corona-Maßnahmen markiert, und einige seiner Implikationen näher ins Auge gefasst, und schließlich wird der diesem unter dem Label einer „Pandemiebekämpfung“ gewidmete „Ansatz zu einem proletarischen Aktionsprogramm“, den ROJAKXS vorgelegt haben, ein wenig begutachtet.

Dass mein Gutachten nicht konstruktiv ausfällt, wird nach der Betitelung dieses zweiten Teils meiner „Einwürfe …“ hoffentlich niemand überraschen. Ich hoffe trotzallem auf eine Fortsetzung der ja noch kaum ernsthaft begonnenen Diskussion – in welcher gerne auch polemisch zugespitzten Form auch immer. Denn wenn auch unser gemeinsames politisches Projekt meines Erachtens an ein gewisses Ende gelangt ist, so ist doch in dieser unter uns so strittigen Sache (auch von meiner Seite: siehe das Post scriptum) sicher noch längst nicht alles gesagt, das für eine (neue oder auch im wesentlichen unveränderte) politische Orientierung in der näheren Zukunft (für jede und jeden von uns vielleicht anders) von großem Wert sein kann.

 

„keine Diktatur“

„Der Versuch proletarische Errungenschaften zu beseitigen, bedarf keiner Diktatur“, schreiben ROJAKXS in ihrem Text zur „ … Pandemie“, und wo sie Recht haben, da sei es ihnen auch nicht bestritten. Indes trifft diese ziemlich zeitlos-globale Feststellung kaum auch nur eine einzige derjenigen sehr bestimmten Fragen, die das heurige Geschehen rund um Corona aufwirft.

Aber der Reihe nach, und zunächst noch etwas Prinzipielles. Wenn nämlich zwar die Beseitigung proletarischer Errungenschaften zweifellos im Prinzip auch ohne Diktatur geht und immer wieder einmal, vor allem sozialpartnerschaftlich, ganz prima gegangen ist, so aber nicht weniger fraglos mit ihr mindestens gleichermaßen gut. Und einem Proletariat, das der Errichtung solch einer reaktionären Diktatur – aus politischer Indifferenz oder anderen Gründen – untätig zusieht, manchmal vielleicht auch zusehen musste, oder gar sich ganz gleichgültig dagegen verhält, ist das niemals und wird es wohl auch nie jemals gut bekommen.

„Ein diktatorischer Großangriff auf das Proletariat“, fahren unterdessen ROJAKXS in ihrem universalgesetzlichen Befund fort, sei auch deshalb derzeit „nicht auszumachen“, weil

„[s]olch ein Angriff … ein ernstzunehmendes international kämpfendes kommunistisches Proletariat zur Voraussetzung“ hätte.

Eine Begründung dieser Behauptung geben sie nicht, aber es nicht schwer zu erraten, wo wir sie zu suchen haben. Denn ein halbwegs „ernstzunehmendes international kämpfendes kommunistisches Proletariat“ hat es bislang nur einmal – zwischen den beiden Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts – eine relativ kurze weltgeschichtliche Zeitlang gegeben, und seine, wie es in der Präambel unserer „Eckpunkte“ heißt, „letzte Bastion“ war mit „dem faschistischen Triumph in Spanien … 1939“ gefallen.

Voraussetzungen der Naziherrschaft

Eingeleitet hatte dieses traurige Ende ein knapp zehn Jahre davor begonnener rasanter und schließlich mit Hitlers Kanzlerschaft im Januar 1933 vollendeter Aufstieg der Nazipartei in Deutschland, dessen das kommunistische Proletariat nicht vermocht hatte, Herr zu werden. Die sodann von den Nazis installierte Diktatur wäre jedoch als ein „Großangriff auf das Proletariat“ keineswegs hinreichend charakterisiert. Dieser „Großangriff“, mit welchem die Installation der Nazidiktatur allerdings tatsächlich begann, schuf vielmehr nur eine unabdingbare Voraussetzung jener totalen Herrschaft der Irratio, der Verlassenheit von jeglicher noch menschlichen Vernunft, auf die sie hinauslief und die sie schließlich ausmachte. Die Präambel unserer „Eckpunkte“ spricht in diesem Zusammenhang von der

„Auslieferung aller Hoffnungen auf das Gelingen der Menschwerdung des Menschentieres durch Sozialdemokratie und Stalinismus an den Faschismus“, wovon „die Shoa … niederschmetterndes Zeugnis“ ablege.

Aus dem kommunistischen Proletariat war nämlich summa summarum, namentlich in Deutschland, an seinem Ende ein kaum noch „kämpfendes“ geworden, vielmehr eines, das – unter teils verheerenden Opfern – Kampf bloß simulierte. Und in eben dieser Verfassung war es ein nicht gering zu veranschlagendes Treibmittel des Aufstiegs der Nazis gewesen,[1] die ihm dann 1933 gleich zu Beginn ihrer noch ungesicherten Herrschaft im Handumdrehen den Hals umdrehten.

Sebastian Haffner – um einen in den Händeln der Arbeiterbewegung an sich ganz unparteiischen Zeugen zu zitieren – schreibt dazu in seiner 1939 in England verfassten, aber erst posthum veröffentlichten „Geschichte eines Deutschen“:

„Das Interessanteste am Reichstagsbrand war vielleicht, daß die Beschuldigung der Kommunisten so gut wie allgemein geglaubt wurde. Selbst die Zweifler fanden es immerhin nicht ganz unmöglich. Daran waren die Kommunisten selbst schuld. Sie waren in den letzten Jahren eine starke Partei geworden, sie hatten stets und ständig mit ihrer ‚Bereitschaft‘ gedroht, und eigentlich niemand traute ihnen zu, daß sie sich ohne Gegenwehr würden ‚verbieten‘ und abschlachten lassen. Den ganzen Februar hindurch hatte man ein wenig ‚Augen links‘ gestanden und auf den Gegenzug der Kommunisten gewartet. Nicht der Sozialdemokraten – von denen erwartete niemand mehr etwas, seit am 20. Juli 1932 Severing und Grzesinski mit der vollen Legalität und 80 000 Mann schwerbewaffneter Polizei im Rücken ‚der Gewalt‘ einer Reichswehrkompagnie ‚gewichen‘ waren –; aber der Kommunisten. Die Kommuni­sten waren entschlossene Leute mit finsteren Gesichtern, sie hoben die Faust zum Gruß, hatten Waffen – jedenfalls schossen sie oft genug bei den üblichen Kneipenschießereien –, pochten fortgesetzt auf ihre Stärke und Organisation und waren sicher von Rußland aus belehrt, wie man ‚so etwas‘ macht. Die Nazis ließen keinen Zweifel, daß sie ihnen ans Leben wollten: Also würden sie sich wehren. Das war eigentlich nur selbstverständlich. Man wunderte sich ohnehin, daß man von der Gegenwehr so lange nichts merkte.“

Nicht erst die Gegenwehr war dann nahezu vollständig ausgeblieben, sondern weit vorher war, wie man heute wissen kann, der „Kampf“ – nicht nur in Deutschland, aber dort halt leider den Ausschlag gebend – mehr und mehr zur Kulissenschieberei verkommen. Was also diesen einen, immerhin sehr folgenreichen „diktatorischen Großangriff auf das Proletariat“ angeht, hält seine von ROJAXS behauptete „Voraussetzung“ der Prüfung nicht stand. Aber wie steht es ansonsten damit?

Bourgeoisie zwischen Republik und Diktatur

Als der Klassiker einer reaktionären – nicht allein, aber keineswegs zuletzt – der Arbeiterbewegung entgegengesetzten und sie niederhaltenden Diktatur kann das zweite französische Kaiserreich gel­ten.[2] Dessen Einleitung, der Staatsstreich des Präsidenten der französischen Zweiten Republik, Louis-Napolé­on Bonaparte, im Dezember 1851 hatte es jedoch mit einem Proletariat zu tun, dem bereits dreieinhalb Jahre zuvor in der Junischlacht von Paris seine Fähigkeit und Lust zum Kampf auf viele Jahre hinaus blutig ausge­trieben worden war. Der „Großangriff aufs Proletariat“ war also – in der Tat ganz ohne Diktatur, aber keineswegs ohne eine energisch kämpfende Klasse – bereits erfolgreich über die Bühne gegangen und zwar über eine republikanische.[3] Und als zwanzig Jahre später, am Ende des zweiten Kaiserreichs das französische Proletariat zu neuer Kampfeslust erwacht war, zog die Bourgeoisie, trotz aller Vorlieben für die eine oder andere Variante einer monarchistischen Diktatur, dann doch die republikanische Herrschaftsform vor.

Aber auch die Vorgeschichte der Nazi-Diktatur, die Entstehung der ersten deutschen Republik, nämlich der Weimarer, bezeugt, dass gegen ein wirklich kämpfendes Proletariat die Bourgeoisie, die sich bis dahin im Kaiserreich recht wohl gefühlt hatte, sich anscheinend lieber in einen republikanischen Anzug wirft. Im Januar 1919, als die Wahlen zur Nationalversammlung anstanden, war die Diktatur der Räte, darauf weist Richard Müller in seiner Geschichte der Novemberrevolution hin, die Losung des revolutionären Proletariats, während die bürgerliche Konterrevolution in der parlamentarischen Republik ihre Rettung suchte.

 

Proletariat im Koma

Dass dann am Ende dieser Republik keineswegs Stärke, keine auf ihre organisatorische Einheit und Selbständigkeit pochende und um ihr Klasseninteresse sich versammelnde, an den Grundfesten der bürgerlichen Ordnung rüttelnde Arbeiterbewegung, sondern deren vielfache Gespaltenheit, ihr gestikulierendes Verharren in Unschlüssigkeit die Reaktion in Deutschland, in deren Arsenal ja durchaus noch einige andere Optionen gelegen hatten, zum bösen Schluss hin auf die faschistische Karte hat setzen lassen, das dürfte den Autoren der „Hysterie …“ allerdings nicht wirklich eine Neuigkeit sein.

Aber wie dem auch sei – die Jetztzeit betreffend gilt gegen Ende ihres Textes jedenfalls nicht mehr, was sie an dessen Beginn für einen „diktatorische[n] Großangriff auf das Proletariat“ noch ganz zeitlos „zur Voraussetzung“ erklärt hatten. Nicht mehr ein „ernstzunehmendes international kämpfendes kommunistisches Proletariat“, sondern ein Proletariat, das ganz im Gegenteil „derzeit nicht in der Lage“ sei, „sich selbsttätig zu schützen“, lässt sie befürchten, ein Angriff auf den „bestehenden bürgerlichen Klassenstaat“ könnte womöglich „dem Behemoth Vorschub … leisten“, den sie in einer Fußnote als „die faschistische Herrschaft“ erläutern. Eine Untreue gegen das eigene Argument, die den Autoren allerdings vielleicht zwar versehentlich, aber durchaus nicht bloß zufällig passiert. Vielmehr ist sie charakteristisch für das böse Gewissen, das ihren ganzen Text durchscheint. Hier aber markiert sie den neuralgischen Punkt ihres Unternehmens, die Kumpanei mit all dem zu recht­fertigen,[4] das den von ihnen erst noch prospektierten „Vorschub“ in Wahrheit bereits in Gang gesetzt hat.

Denn es ist ja richtig: Gerade die politische Schwäche des lohnabhängigen Volks, das nachhaltige Ende seiner „Zeit … als ein für sich handelndes Subjekt der Geschichte“, wie es vor gut zehn Jahren die Präambel unserer Eckpunkte festgehalten hat, ließ an sich schon immer das Schlimmste nicht nur befürchten, sondern hat es, wie der über Nacht auf kaltem Wege installierte und auf lächerlich geringen Widerstand gestoßene staatsoffizielle Notstand jetzt zeigt, offenbar längst prädestiniert. Es mutet daher schon einigermaßen grotesk an, wenn die Autoren des „Hysterie …“-Textes gegen dessen Ende einem „bürgerlichen Klassenstaat“, dem nach ihrer eigenen Diagnose sein zivilisierendes Element, ein selbsttätig sich schützendes Proletariat abhanden gekommen ist, zutrauen, „Schutz“ zu bieten gegen all die Übel, die sie (siehe oben) drohen sehen im Falle eines „Angriffs“ auf eben diesen Staat.

Der „ideelle Gesamtkapitalist“

Die Beschreibung, die ROJAKXS selber am Anfang ihres Textes davon geben, was dieser Staat nicht in der Zukunft, sondern hier und jetzt so treibt, legt, wenn man sie durchdenkt, etwas ganz anderes nahe – und weist übrigens gerade in seinem Bestreben, in alle Richtungen freundlich zu erscheinen, durchaus eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Beginn der Naziherrschaft auf. Da ist zum Beispiel zu lesen:

„Die Große Koalition bedient fortlaufend, so auch mit ihren Beschlüssen Anfang Januar 2021 über ausgeweitete und fortgesetzte Corona-Hilfen wie mit der Gießkanne verschiedene Klasseninteressen. Wie unter Normalbedingungen wird das Proletariat natürlich von der herrschenden Klasse übervorteilt.“

„Wie“ unter Normalbedingungen? Also zwar unter anderen als „Normalbedingungen“ agiert die Regierung dennoch ähnlich „wie“ unter diesen? Oder handelt es sich im letzten Satz gar nicht mehr um die Regierung, sondern um eine von dieser nicht mehr hinreichend vertretene „herrschende Klasse“? Aber wen verträte die Regierung dann? In wessen Interesse wäre sie mit ihrer Gießkanne tatsächlich unterwegs? Und was schließlich unterschiede jene „Normalbedingungen“ von den jetzt gegebenen?

„Der ideelle Gesamtkapitalist“, geht es weiter im Text, „bindet Klasseninteressen und -fraktionen mit ein, befriedet, gleicht aus.“ Und das sehe so aus:

„Novemberhilfen, Rettungsprogramme und Erleichterungen bei der Grundsicherung gibt es fürs Kleinbürgertum, Kurzarbeit, Kinderbonus und Kinderkrankengeld fürs Proletariat und Steuergeschenke, Staatsbeteiligungen und Subventionen für das Kapital. Denn nicht nur die Lohnabhängigen haben Einschränkungen hinzunehmen, auch Teile des Kleinbürgertums und des Großkapitals sind betroffen. Mehrwertproduktion und Profitmacherei sind unter den Corona-Maßnahmen eingeschränkt.“

Mit dem „ideellen Gesamtkapitalisten“ hat man sich fein hinausgestohlen aus jeder auch nur etwas konkreteren Bestimmung des Charakters unseres Staatswesen und der Wandlungen, die es durchmacht. In einer Zeit, da das hiesige gesellschaftliche Gesamtkapital, wie wohl auch jene in seiner näheren und ferneren Nachbarschaft (gar nicht zu reden vom viel größeren Getümmel der schwerstgewichtigen Gesamtkapitale auf dem Weltmarkt), kaum weiß, überhaupt wissen kann, wie es um seine Interessen, seine Aussichten, seine Möglichkeiten denn jetzt genau steht – in einer solchen Zeit dürfte es ihm ausgesprochen schwierig werden, sein ideelles Gesamt auch nur zu finden, geschweige denn auszubuchstabieren und zu artikulieren. Besteht doch sein reelles immer noch aus einer Vielzahl hier sich verbindender, dort teils bis aufs Messer sich zerstreitender, manchmal absichtlich und manchmal auch ganz unabsicht­lich sich wechselseitig durchkreuzender Interessen. Und dass dieses reelle Gesamt der vielen Einzelkapitale seit Marxens Zeiten gewaltig vorangeschritten ist in seiner von Marx bereits diagnostizierten Tendenz des Hinüberwachsens vom wirklich noch privaten Eigentum Einzelner an ihnen zu immer mehr gesellschaftlichen Formen dieses Eigentums[5] in Gestalt von Aktien- und anderen Kapitalgesellschaften, zum Wirtschaften immer mehr mit über das Bankenwesen vermitteltem fremden, wiederum gesellschaftlich verwalteten, statt mit eigenem Geld – das hat die Gegensätzlichkeit der Interessen, statt sie zu verringern eher noch verschärft, indem die Wucht, mit der divergierende Interessen aufeinanderprallen, und also auch die Schwierigkeiten ihrer Zusammenfassung zu einem Gesamt dadurch enorm erhöht wurden (analog übrigens zum Aufeinanderprallen der verschiedenen Gesamtkapitale im globalen Maßstab).[6]

Die Zähmung dieser Vielzahl an Interessensgegensätzen, ihre Transformation in einen irgend als menschlicher Fortschritt ausmachbaren Entwicklungsgang, hatte von Beginn an das Sich-Herausar­beiten und das im gesellschaftlichen Maßstab Sicht- und Spürbarwerden des einen großen Gegensatzes zur Bedingung, der allein die Gesellschaft im Ganzen als bürgerliche und ihre Produktionsweise als kapitalistische bestimmbar und kennt­lich macht: Wie überhaupt die Bourgeoisie nicht in die Welt tritt und existieren kann ohne ihre radikale Negation, das Dasein einer zur Arbeitsamkeit abgerichteten, aber von deren Verwirklichungsbedingungen abgeschnittenen Masse von Habenichtsen, so bringt und hält auch nur das In-Erscheinung-Treten dieses ihres Widerparts als selbstbewusste Klasse, der sich manifestierende Gegensatz zu ihr, im Ganzen sie zusammen als ein praktisch wirkendes, ein reelles Gesamt, das ein wirklich gemeinsames Interesse verfolgt, daher auch zu einem ideellen Gesamt fähig ist.

Eine als herrschende Klasse bestimmbare Bourgeoisie ohne ein dieser Herrschaft auch ganz praktisch entgegentretendes Proletariat ist ein – nicht nur – gedankliches Unding. Die Rede vom Staat als dem „ideellen Gesamtkapitalisten“, die das nicht reflektiert, tendiert daher – um das Mindeste zu sagen – dazu, aus dem Staat ein Mysterium, wenn nicht gar etwas Göttliches mit gleichsam genialen Einsichten in das Getriebe einer Gesellschaft zu machen, die indes als bürgerliche an sich wesentlich gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass seine Funktionsweise allen in ihr Handelnden als ein unentwirrbares Rätsel sich präsentiert.

„relative Normalität“ mit „Einschränkungen“

Wie es um den Charakter des Staates hier und jetzt konkreter bestellt ist, darüber ließe sich natürlich streiten. Aber es müsste halt endlich auch gestritten werden, wie in unserem Kontext zuerst G. S. in seinen Anmerkungen zum Text unseres Trios sehr zu Recht angemahnt hat. Und dazu gehörte es, einmal hinter das Plakative des staatlichen Tuns, hinter seine Reklame zu schauen, die den guten Willen für die Tat ausgibt; die „Klasseninteressen und -fraktionen … befriedet“ aussehen und allent­halben bloß Ausgleich am Werk zu sein scheinen lässt. Dass nach den mit der Gießkanne verströmten Freundlichkeiten des Staates „nicht nur die Lohnabhängigen“, sondern „auch Teile des Kleinbürgertums und des Großkapitals“ und schließlich sogar die ganze „Mehrwertproduktion und Profitmacherei“ betroffen seien von sogenannten „Einschränkungen“, am Ende also alle eher verloren hätten als gewonnen – das verleiht der Rede von „der relativen Normalität“, von einer „Kontinuität“, die „den hierzulande gut erprobten Klassenkompromiss“ bloß fortsetze,[7] den verzweifelten Sound einer Beschwörung; einer Litanei zum Verscheuchen sich aufdrängender böser Gedanken.

Aber wir wissen ja bereits: Die bösen Gedanken lassen sich nicht verscheuchen. Die „Diktatur“, von der ROJAKXS hier, am Beginn ihres Textes, noch nichts hören und sehen wollen, steckt gegen dessen Ende als Drohung einer faschistischen Herrschaft, als „Behemoth“ dann doch ihre grässliche Fratze aus ihm heraus. Und schon etwas vorher grummelt es in ihm unterirdisch ziemlich unbehaglich. Es sei wahrscheinlich, dass die Corona-Pandemie „genutzt“ werde, heißt es da einmal – wobei nicht verraten wird, von wem. Und zwar

„genutzt … , um die sich schon seit Herbst 2019 ankündigende Weltwirtschaftskrise als Folge der Pandemie hinzustellen und nicht als systemisches Versagen des kapitalistischen Wirtschaftssystems.“

Sogar von einer „stabilen Heimatfront“ ist in dem Zusammenhang die Rede, so als wogte in der „Heimat“ irgendein Kampf mit wechselhaftem Frontverlauf hin und her, den es mit einer Art Nichtan­griffspakts in einen stabilen Zustand zu bringen gälte. Benötigt werde eine solche Verlässlichkeit dieser ominösen „Front“ in der Heimat von der „herrschende[n] Klasse“. Und zwar: „Spätestens in der Krise“ – „daher“ und nicht etwa „aus Menschenfreundlichkeit“, versichert man uns, die „Zugeständnisse an Kleinbürgertum und Proletariat“.

Wir haben es also – bezeugt zuletzt durch besagte schon stattgehabten „Zugeständnisse“ – jenseits aller Gesundheitsfragen mit einer veritablen „Krise“, gar einem „systemischen Versagen“ zu tun, das entweder bereits eingetreten oder worauf das politische Geschehen zumindest bereits zugeschnitten ist.[8] Lassen wir einmal die Seltsamkeit beiseite, dass „die Corona-Pandemie“ hier nur in der ganz äußerlichen Rolle einer sich bietenden Gelegenheit zur Deutung des Krisengeschehens auftritt, nicht aber als dessen integrales und selber durchaus „systemisches“, nicht zuletzt hochpolitisches Moment, denn diese Seltsamkeit entspringt halt sozusagen ganz natürlich aus der strikten Weigerung, der „Pandemie“ hinter ihre Fassade zu schauen, die ebenfalls bereits im ersten Teil meiner „Einwürfe ..“ gewürdigt wurde.

Festzustehen scheint jedenfalls zum einen, dass da ein ganzes „System“ in einen bedrohlichen Zustand hineinsteuert (und dies obendrein, wenngleich hier nicht thematisiert, im globalen Ausmaß). Zum andern aber halten es auch ROJAKXS zumindest für sehr gut möglich, dass das politische Establishment dabei ist, unter dem Corona-Label eine ganz andere „Krise“ zu managen als die Bedrohung der Volksgesundheit durch ein Virus.

 

Fruchtbarer Schoß, aus dem das kriecht

Alles in allem ist schon damit eine Konstellation umrissen, deren Ähnlichkeiten wie auch Unterschiede zu derjenigen am Beginn der 1930er Jahre in Deutschland alles andere als dazu angetan sind, mit einer solchen Unbekümmertheit, wie ROJAKXS sie an den Tag legen, das derzeitige Geschehen für bloß ganz „normal“ zu erklären und die Frage nach den Veränderungen im Charakter der politischen Herrschaft mit der Binsenweisheit abzutun, dem lohnabhängigen Volk ans Fell zu gehen, bedürfe „keiner Diktatur“.

Nun fügen ROJAKXS aber ihrer Beschreibung der „Normalität“ ja am Ende in einem apodiktischen Gestus obendrein die Behauptung einer kompletten Ohnmacht des Proletariats hinzu (desselben Proletariats, dem sie anfangs noch eher Besonnenheit „aufgrund dieser relativen Normalität“ und sogar seine Fähigkeit zur Fortsetzung eines „hierzulande gut erprobten Klassenkompromiss[es]“ attestiert hatten). Und zweifellos ist es ganz richtig, eine Konstellation derartiger Ohnmacht jener sozialen Spezies, mit der Karl Marx einmal die Hoffnung auf „die völlige Wiedergewinnung des Menschen“ verbunden hatte,[9] in die Nähe dessen gerückt zu sehen, was Franz Neumann dereinst einen „Unstaat“ genannt hat, nämlich

„ … eine Herrschaft der Gesetzlosigkeit und Anarchie, welche die Rechte wie die Würde des Menschen ‚verschlungen‘ hat und dabei ist, die Welt durch die Obergewalt über riesige Landmassen in ein Chaos zu verwandeln …“[10]

Die Sorge, dass wir einer zweiten Auflage des Umschlags „normaler“ bürgerlicher in die totale Herrschaft entgegensehen, des Umschlags vom Leviathan in den Behemoth, liegt also recht nahe. Weniger nahe liegt es anzunehmen, dass diese neuerlich total werdende Herrschaft erst noch eines besonderen „Vorschubs“ bedürfe, ihren Antrieb also ganz äußerlich in einem künftigen „Angriff auf den Leviathan“ zu verorten und damit auszuschließen, dass der Leviathan, jenes einstmals „Frieden“, d. h. ein wie auch immer geregeltes Miteinander unter den Menschen stiftende „Staatsungeheuer“, vielmehr an sich selber bereits im Begriff ist, „zum weltverschlingenden Moloch“ zu mutieren? [11]

Denn – um von den feinen oder auch weniger feinen Unterschieden zur Konstellation von 1933 zu sprechen: Besagten „Vorschub“ hat namentlich die Tatsache vielleicht längst besorgt, dass nicht nur die Zertrümmerung eines noch halbwegs wehrhaften und zumindest im Prinzip zu beträchtlichen Teilen revolutionär gesinnten Proletariats wegfällt, sondern auch dessen Erbe mittlerweile weitgehend aufgebraucht ist. Selbst das Setzen größerer Teile des besitzlosen Volks auf Notration und das Schleifen beträchtlicher seiner Schutzrechte dagegen wurde hierzulande bereits vor Jahren erledigt. Dies bekanntlich unter der Federführung nicht der ihren sogenannten Mittelstand hofierenden Konservativen und Liberalen oder noch schlimmeren Fingern, sondern unter der mit den großen Gewerkschaften verbandelten bürgerlichen Arbeiterpartei SPD, begleitet von einer Linken, die einesteils – unter der Losung „Für eine andere Politik“ – für sie die Werbetrommel gerührt hatte und andernteils dagegen erst aus dem Knick gekommen war, als es im Grunde bereits zu spät war. Mit andern Worten: Ein irgend als solches in Erscheinung tretendes „Klassenverhältnis“ ebenso wie jene „vergangenen Klassenkämpfe“, als deren „Ausdruck“ bzw. „Resultat“ ROJAKXS „[g]eltendes Recht und Normen im bestehenden bürgerlichen Staat“ bestimmen, sind zusehends weniger greifbar geworden, und hatten als „gewisse[r] Schutz“ vor Willkür und Bandenwesen bereits vor Corona schwer gelitten.

Vom Lumpenproletariat …

Was schließlich den Mutationsdruck betrifft, den Druck, der den Leviathan in Richtung seiner Verwandlung in den Behemoth treibt, seine beschleunigte Tendenz, sich ungehemmt des gesellschaftlichen Ganzen zu bemächtigen; das, was Hegel „die bürgerliche Gesellschaft“ genannt hat, restlos zu durchdringen und alles und jeden darin von sich abhängig zu machen, jeglichen Unterschied zwischen sich und dieser Welt zu verwischen und damit sich selbst zu verunstalten, so kommt noch ein Weiteres hinzu, wovon womöglich bereits Marx – der historischen Konstellation nach gewissermaßen eher noch am anderen (sozusagen vorderen und daher glücklicheren) Ende der Geschichte sich befindend – einen Vorschein zu fassen gehabt haben könnte.

Das durch den Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 installierte Regime des dritten Napoleon beschreibt Marx im 18. Brumaire als eines, das die Verselbständigung der „Staatsmaschinerie … der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber“ vollendet, und den Herrscher kennzeichnet Marx „als Repräsentanten des Lumpenproletariats, dem dieser selbst, seine entourage, seine Regierung und seine Armee angehören“. Mit Blick auf die zugrunde liegende Soziologie ist von einer „unbeschäftigte[n] Überbevölkerung“, die Rede,

„die weder auf dem Lande noch in den Städten Platz findet und daher nach den Staatsämtern als einer Art von respektablem Almosen greift und die Schöpfung von Staats­ämtern provoziert.“

In der Soziologie der Autoren der „Hysterie …“- kommen nun weder der Staat und seine Dependenzen, noch gar jener inzwischen ziemlich ausgedehnte Teil der Bevölkerung, aus dem deren Personal sich rekrutiert, überhaupt vor. Geschlossenheit suchende Bourgeoisie, wild werdendes Kleinbürgertum und unschlüssiges Proletariat – darin erschöpft sich schon im Untertitel ihr bescheidenes Panorama sozialer Kategorien.

Nach dem wildwerdenden Kleinbürgertum hält man dann freilich im gesamten Text vergeblich Ausschau – es sei denn, wir wollten das von den Autoren missbilligend zitierte Plädoyer Hendrik Streecks (nicht unbedingt der Prototyp eines Kleinbürgers) für die Verwendung des Skalpells anstelle des Hammers bei den Corona-Maßnahmen als Indiz für solche „Wildheit“ nehmen. Das klassische Kleinbürgertum hat denn auch in Wahrheit zum weitaus größten Teil sich durch seine lammfromme Bravheit in Bezug auf die Maßnahmen ausgezeichnet und in der coronakritischen Szene den entsprechenden Leumund erworben. Man nimmt es ihm ganz zu Recht dort übel, dass es sich seine Grundrechte durch den mit der Gießkanne bewaffneten Staat hat abkaufen lassen.

… zur Lumpenbourgeoisie

Geradezu in erschreckendem Maße buchstäblich „wild“ geworden im Eifer der Etablierung und Verteidigung der Maßnahmen ist dagegen just jener Teil der Bevölkerung, der in staatlichen, mehr oder weniger staatsabhängigen oder quasi-staatlichen Einrichtungen sein Auskommen entweder bereits gefunden hat oder zumindest Aussicht nimmt, es dort zu finden – nicht selten ausdrücklich, um auf diesem Wege dem Zwang zu ordinärer Lohnarbeit zu entgehen. Ein Auskommen, das in einer Vielzahl wenn nicht gar der Mehrzahl der Fälle keineswegs durch die Unentbehrlichkeit der Funktion begründet sein dürfte, die man ausübt, sondern dessen Notwendigkeit genau umgekehrt das Dasein der Funktion begründet. Hier tummelt sich ein Großteil derjenigen, die Sahra Wagen­knecht die „Lifestyle-Linken“ nennt.[12] In dem Maßnahmenregime haben sie ihr Dorado entdeckt und gehen mit Begeisterung im Engagement für seine Durchsetzung auf.

Freilich handelt es sich dabei um mehr als bloßen „Lifestyle“, um mehr als eine oberflächliche, rein zeitgeistige Modeerscheinung. Denn das Milieu, in dem dieser Zeitgeist wächst und gedeiht – ein Milieu, dem naturgemäß Wagenknecht selbst ebenso angehört wie wohl der größte Teil ihres Publikums –, besitzt ein in gewisser Weise recht solides Fundament, eine sozialökonomische Basis, die eine bestimmte eigene soziale Spezies begründet. Eine Spezies, die ich hier – den alten, von Marx in einem in mancher Hinsicht ja durchaus verwandten Zusammenhang gebrauchten Ausdruck variierend – die Lumpenbourgeoisie eines in seiner Staffage zwar immer noch bürgerlichen Zeitalters nennen möchte, das aber seine Zeit längst überlebt hat und dennoch nicht vergehen will.

Ihre Entwicklung steht nämlich in einem nicht nur äußerlichen Zusammenhang mit jener oben nebenher bereits angesprochenen säkularen Tendenz, die Marx einmal auf die Formel einer „Aufhebung des Kapitals als Privateigentum innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise selbst“[13] gebracht hat. Eine Tendenz, die mittlerweile in einem Maße fortgeschritten sein dürfte, das man zu Marxens Zeiten sich wohl kaum hat vorstellen können und das insbesondere mit Blick auf das große, in Konzernen und Konzernverbunden sich organisierende Eigentum vielleicht (negativ) als Entbürgerlichung oder (positiv) als Mafiotisierung des bürgerlichen Eigentums bezeichnet werden könnte. Vom einst­mals noch wirklich privaten und insofern klassisch bürgerlichen Eigentum ist es hinübergewachsen in ein zwar nurmehr assoziiertes, tendenziell alles Eigentum zusammenfassendes, alle seine divergierenden Elemente miteinander verschränkendes, insofern gesellschaftliches Eigentum, das jedoch eine große eigentumslose Masse davon ausschließt (deren hohe Interessenverwalter, etwa Betriebsräte der großen Konzerne und die Spitzen der großen Gewerkschaften, allerdings daran sogar inzwischen nicht wenig teilhaben dürfen), daher den Gegensatz zu dieser Masse, von der es produziert wird, an sich selber fortschleppt. Ein wesentliches Charakteristikum, das wiederum allerhand Gegensätzlichkeiten in seinem Innern, unter seinen horizontal wie vertikal immer wieder neu sich sortierenden Bestandteilen speist, die ja nicht nur untereinander ihre gemeinsame Beute, den aus der eigentumslosen Masse gepumpten Mehrwert, sich irgendwie teilen, sondern insbesondere ihre jeweilige Klientel daraus bedienen müssen.

Überschuss: prekär und „unproduktiv zu verwenden“

Der gemeinsame Quell, woraus sowohl diese entbürgerlichte Postbourgeoisie wie jene postbürgerliche Lumpenbourgeoisie sich speisen, die an ihrer Trennstelle, vermittelt auch über die staatlichen Apparate, wahrscheinlich keine geringe Fluktuation aufweisen, ist die in einem solch gewaltigen Maße angewachsene Produktivität der Arbeit, dass sie die von Marx so genannten „Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise selbst“ an sich wohl seit langem überschritten hat.[14]

Was aber besagte Lumpenbourgeoisie von heute angeht, so lässt sie in gewisser Hinsicht sich als hybrider Nachkomme jener „dienenden Klasse“ betrachten, deren große und tendenziell wachsende Zahl Marx im Kapital – fast scheint’s mit etwas Erstaunen – konstatiert bei Betrachtung der Wirkung sich erhöhender Produktivität der Arbeit auf die Zusammensetzung der lohnabhängigen Bevölkerung des Englands seiner Zeit.[15] Eine Klasse, von deren Physiognomie man zum Beispiel in der englischen Fernsehserie „Up­stairs, Downstairs“ (deutsch: „Das Haus am Eaton Place“) einen Eindruck erhält, wenngleich die Serie eine etwas spätere Zeit (1903 bis 1930) abdeckt. Diese „dienende Klasse“, die „unproduktiv“ arbeitet, weil sie sich nicht mit Kapital austauscht, sondern ihren Lohn aus bourgeoisem, vom Mehrwert abstammendem Einkommen erhält, zeichnet sich durch eine besondere Ergebenheit ihrer Herrschaft gegenüber aus und ist in aller Regel jeglicher Auflehnung dagegen abhold.

Weder diese Herrschaft, noch das ihr dienende Pendant gibt es in dieser Form heute noch – außer allenfalls in fossilen Überresten. Beide sind, enorm beschleunigt nicht zuletzt durch zwei Weltkriege, der unaufhaltsamen Tendenz des Kapitals zur Entpersönlichung aller menschlichen Verhältnisse zum Opfer gefallen. Angehalten und in ungeheuren Dimensionen sich entwickelt hat jedoch die Steigerung der Produktivität der das Kapital produzierenden Arbeit und die damit einhergehende Möglichkeit, einen stets wachsenden Teil lohnabhängiger Beschäftigung jenseits davon oder, wie Marx sagt, „unproduktiv zu verwenden“.

Ebenfalls enorm sich entwickelt hat sich in jüngerer Zeit – in Deutschland namentlich seit Beginn der 2.000er Jahre – etwas, das man die Reprekarisierung (oder, weniger unkritisch: Instandsetzung) der Lohnabhängigkeit nennen könnte: die Rückkehr des Fluchs, beim jederzeit drohenden Verlust entlohnter Beschäftigung in Existenznöte zu stürzen und zu widerwärtigster Arbeit für einen Hungerlohn genötigt zu sein. Selbst der in den 90er Jahren vor der Jahrhundertwende und auch noch ein paar Jahre danach nicht ganz zu Unrecht bestehende Nimbus einer von Kündigungsschutz, Betriebsverfassung und starken Gewerkschaften beschützten Lohnarbeit als eher privilegierter Existenzweise hat sich – nicht zuletzt dank Schröders „Agenda“ – mittlerweile weitgehend verflüchtigt. Entsprechend mächtig und weitverbreitet ist heute der Wunsch, der Konkurrenz um einen beliebig fremdbestimmten Arbeitsplatz bei „harter, oft wenig inspirierender Arbeit“ (Wagenknecht) in der sogenannten „freien Wirtschaft“ zu entfliehen und stattdessen – sei es auch nur vorübergehend – aus irgendwelchen staatlichen, staatsnahen oder anderweitig vom Mehrwert abgezweigten Töpfen sich seine Selbstverwirklichung bei irgendeiner Weltenrettung finanzieren zu lassen.

Dieser Teil des besitzlosen Volks lässt sich zwar durchaus als eine Art massenhaften Wiedergängers jener nach „respektablem Almosen“ gierenden „unbeschäftigte[n] Überbevölkerung“ ansehen, von der (siehe oben) Marx im 18. Brumaire spricht. Aber anders als im zweiten französischen Kaisereich „provoziert“ er kaum mehr „die Schöpfung von Staatsämtern“,[16] die es als unüberschaubares, über die ganze Gesellschaft gebreitetes Geflecht an Behörden und staatlichen Instituten längst überreichlich gibt. Statt der „Schöpfung von Staats­ämtern“ werden daher neue staatliche oder quasistaatliche Funktionen in wachsendem Umfang einem sich um Staatsknete balgenden „zivilgesellschaftlichen Engagement“ allermöglichen Vereine, Initiativen, Stiftungen etc. anheimgegeben, das sich als wuchernder Auswuchs um den mächtigen Kern der offiziellen Staatsmaschinerie anlagert.

Es ist so mittlerweile ein überbordendes Konglomerat teils etablierter, zum größeren Teil aber wohl eher prekärer, in jedem Fall aber unproduktiver, nämlich aus vom Mehrwert abgeschöpften Steuern oder steuerähnlichen Gebühren, zu einem Gutteil wohl auch durch altruistisch verbrämtes Sponsoring finanzierter Existenzen entstanden, die allesamt sich zur Wahrung der höchsten Interessen berufen fühlen. Interessen, die nicht einmal mehr bloß die Menschheit an und für sich betreffen, sondern noch lieber den ganzen Globus mit seiner Flora, Fauna und allem Drum und Dran, hinter dessen Rettung nötigenfalls ordinäre menschliche Interessen zurückzutreten haben.

 

Endzeitstimmung: „Corona“ managt politische Krise

Gerät nun dieses agglomerierte Aktiv der Unproduktiven in Bedrängnis oder breitet sich auch nur das entsprechende Gefühl in ihm aus, weil seine produktive Unterlage – aus welchen Gründen immer – Anzeichen macht, nicht mehr zu tun, was sie soll, dann ist Krieg angesagt gegen alles, was die Rollenverteilung zwischen dieser Unterlage und jenem hypertrophen Überbau oder gar dessen unproblematisches Dasein selbst infrage zu stellen scheint. Im Krieg aber rückt man zusammen und feuert aus allen Rohren gegen den gemeinsamen Feind. In Deutschland ist die Entwicklung einer derartigen Stimmung des politisch-medialen Establishments und seines stattlichen Appendix’ recht deutlich zu verzeichnen, seit man die Weltwirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2007 bis 2011 halbwegs erfolgreich bewältigt zu haben schien. Eine Stimmung, die, begleitet vom schier unaufhaltsamen Aufstieg einer darüber zum Beelzebub avancierenden AfD, in der Euro-, der Flüchtlings- und schließlich der Klimakrise wetterleuchtete, gegen Ende 2019 mit der sich anbahnenden Regierungskrise in Thüringen merklich sich zuzuspitzen begann und just Anfang März 2020, als man auf der nämlich glücklich den Deckel hatte, ihren Kulminationspunkt erreichte.[17]

In Sachen „Corona“ steuerte zu eben diesem Zeitpunkt, Anfang bis Mitte März 2020, der herrschende Politikbetrieb in Deutschland in kürzester Zeit energisch um. Zwar hatte der medial aufbereitete Wissenschaftszirkus schon kurz nach Jahresanfang das Thema eines „neuen Erregers“ als mögliche Bedrohung der Volksgesundheit auf die Schienen gesetzt und beim Publikum für eine subkutan sich ausbreitende und schließlich massenhaft etablierte Angst vor „dem Virus“ gesorgt, aber „die Politik“ hatte sich zunächst noch geziert, auf den Zug aufzuspringen. Fast den ganzen Februar über ging der Tenor alles in allem eher dahin, das Verlangen nach rigiden Maßnahmen für den Gesundheitsschutz wie Schulschließungen etc. als das Geschäft von rechten Rattenfängern und Verschwörungsspinnern zu brandmarken. Jetzt schaltete der Politbetrieb von CDU/CSU bis zur Linken (unter Abzug seines Aussatzes, der AfD) nahezu synchron aus dem Beschwichtigungsmodus um in den medial bereits gründlich vorbereiteten Panikmodus. Verschwörungsideologe oder ähnlich Schlimmes war nun jeder, der der Panik entgegentrat.

Im Prinzip krank

Und der neue Modus verfehlte seine Wirkung nicht. Über Nacht ließen wir alle unser Intimstes uns rauben. Ob jemand krank oder gesund ist, darüber hat der Betreffende selbst von nun an als allerletzter und im Zweifel gar nicht mehr zu befinden. Und zwar genau andersherum, als wir es bisher kannten: Nicht dass jemand krank ist und daher arbeitsunfähig, bedarf der Beglaubigung durch den Mediziner. Vielmehr steht jetzt die Gesundheit des Einzelnen infrage, solange dafür keine Expertise vorliegt, wobei diese wiederum nicht einmal mehr der Inaugenscheinnahme der betreffenden Person durch einen Mediziner bedarf, sondern ein völlig unpersönlicher Laborvorgang dafür hinreicht, die „Diagnose“ auf „krank“ zu stellen. Und alle andern gelten, wie gesagt, keineswegs als schlichtweg gesund, sondern lediglich als „noch nicht krank“, d. h. morgen oder übermorgen bereits ebenfalls vielleicht „positiv“ und also „krank“. Besonders absurd zudem: Die bestimmte Krankheit, die nun herhalten muss, dass wir alle nur noch ausnahmsweises als gesund, aber im Prinzip bis auf weiteres als krank gelten, wäre ja zunächst und vor allem eine Erkrankung der Atemwege (die in seltenen Fällen sich zu einer gefährlichen atypischen Lungenentzündung entwickelt); eine saisonal verbreitet auftretende Allerweltserkrankung also, welche bislang hinreichend kompetent als aller­erste die von ihr Betroffenen zu diagnostizieren pflegten – oft genug als einzige, und dann auch, ohne jede Einschaltung eines Mediziners, auskurierten.

Und nachdem schließlich mit durchschlagendem Erfolg die Diagnose dieser Krankheit den Betroffenen restlos enteignet war, durfte natürlich auch hinsichtlich ihrer Bewältigung nichts in ihrer individuellen Kompetenz verbleiben. Gegen alle Evidenz hatte man ihnen (uns allen) zunächst nur theoretisch, schließlich aber auch ganz praktisch jegliche innere Abwehrfähigkeit dagegen, landläufig Immunität geheißen, weggenommen. Mit unglaublicher Dreistigkeit schloss die Propopanda, noch ehe irgendein Impfstoff in der Pipeline war, kurzerhand aus, dass nach entsprechendem „Kontakt“ mit dem Virus jemand einer Erkrankung daran ohne Impfung entkommen könne. Und weil die banale alltägliche Erfahrung sehr schnell für jedermann offengelegt hat, dass nur wenige derer, bei denen die Labor-„Diagnose“ positiv ist, mehr als allenfalls die gewöhnlichen Erkältungssymptome zeigen, definierte man vorsichtshalber gleich das Kranksein überhaupt in absurder Weise um: Allen Ernstes ist nun hartnäckig die Rede vom „symptomlosen Krankheitsverlauf“.[18]

„nicht-pharmazeutische Maßnahmen“ gegen Staatsgefährdung

Mag nun zwar der rasche Erfolg dieser rasant installierten Hygienediktatur gegründet sein auf einer in der Bevölkerung und namentlich unter ihren zahlreichen Exekutoren verbreiteten Neigung zu Hypochondrie und ähnlichen den Verstand auf die bloße, geistlose Gesundheit fixierenden psychischen Defekten.[19] In der die Diktatur promotenden Propaganda spielen jedoch Fragen des je konkreten Gesundbleibens oder Gesundwerdens kaum eine ernsthafte Rolle. Darum muss jede und jeder selber sich kümmern. Wer „positiv“ ist oder auch nur entsprechenden „Kontakt“ hatte, kommt in Quarantäne, und die Behörde sieht zu, dass er sie einhält. Darüberhinaus geht es nicht mehr um die möglichst gute Bewältigung einer Krankheit, sondern allein ums Verhindern eines rein statistischen, abstrakten Sterbens an ihr – nicht selten um den Preis eines im konkreten Fall entsetzlich einsamen wirklichen Sterbens unter der Regie eines menschenfernen Gesundheitsapparats. Und da man medizinisch hierfür angeblich ziemliches Neuland zu betreten, also sich für bis auf weiteres nahezu machtlos dagegen erklärt hatte, besitzt nun auf der einen Seite der Staat den Freibrief, seine Insassen im Wege sogenannter „nicht-pharma­zeutischer Maßnahmen“ ins Geschirr zu nehmen. Auf der andern Seite ließ man dem pharmazeutisch-medizinischen Komplex die Zügel schießen für allerhand z. T. hochgefährliche Experimente mit leider vielfach sogar tödlichen Folgen.

Den Opponenten dieser „demokratische[n] Diktatur“[20] im Namen der Volksgesundheit wirft die Propaganda in erster Line denn auch nicht etwa gesundheitliche Fahrlässigkeiten oder gar konkrete Beeinträchtigungen der Volksgesundheit vor, sondern die Verfolgung staatsfeindlicher Zwecke.[21] Nimmt man das wiederum ernst – und wir sollten es sicherlich tun –, sieht man sich außerdem an, unter welchen Losungen die Opposition denn tatsächlich auf die Straße gegangen ist und fortfährt (spazieren) zu gehen, dann ergibt sich als entgegengesetzter Zweck, gegen den opponiert wird, aufseiten des Regimes und seiner Apologeten das Verlangen, die Außerkraftsetzung jener Grundrechte klaglos hinzunehmen, die einmal als der heilige Kern unserer Verfassung, des Grundgesetzes galten. Denn deren von Staats wegen unbedingt zu respektierendes Fortgelten ist das artikulierte Hauptanliegen der „Corona“-Opposition. Der Staat, dem die Opponenten „feindlich“ gegenüber stehen, ist demnach ein anderer Staat als der, dessen höchstes Gesetz das Grundgesetz war.

 

„Aufgabe der … Kommunisten“

Und dieser Staat ist offensichtlich auch nicht derjenige, um den sich ROJAKXS ein paar Sorgen machen, wenn sie davor warnen, die „Angst um die Freiheitsrechte“ zu übertreiben. Die in Windeseile vollzogene Außerkraftsetzung besagter Freiheitsrechte, die Transformationen, denen damit jener altehrwürdige Staat des Grundgesetzes seit „Corona“ unterzogen wurde, finden weitgehend ihre Zustimmung.

Vielleicht auch, weil sie insgeheim ahnen, dass ihre Warnung vor dem Behemoth sowieso zu spät kommt, dass der „gewisse Schutz“ eines Proletariats, das sich selbsttätig nicht schützen kann, vom alten Leviathan nicht wirklich zu haben war, sondern zumindest ein kleines bisschen Behemoth nötig hat: Vielleicht deshalb lassen sie ihrer Warnung davor, diesem durch einen „Angriff auf den Leviathan … Vorschub“ zu leisten, ganz unvermittelt und anscheinend völlig bedenkenlos ihr „Programm“ für genau solch einen Angriff auf dem Fuße folgen. Und nur der zwischen verdruckster Selbstversicherung und alberner Kraftmeierei pendelnde Tonfall, in dem sie dazu Anlauf nehmen:

„Die Aufgabe der Kommunistinnen und Kommunisten besteht weiterhin darin, das Proletariat in die Situation zu bringen, den bürgerlichen Klassenstaat aufzuheben“,

signalisiert dann doch gewisse Bedenken, die sie uns und sich selbst freilich nicht eingestehen wollen oder können.

Im Übrigen mutet es ein wenig an wie eine boshafte Karikatur jenes sogenannten „Leninismus“, der sich dereinst angeblich erdreistet hatte, den großen Erzieher und Lenker eines an sich politisch unmündigen Proletariats zu mimen,[22] wenn ROJAKXS sich und ihresgleichen hier die herkulische „Aufgabe“ zumessen, ein – jedenfalls nach ihrer eigenen Diagnose – im Koma liegendes Proletariat zu neuer Selbsttätigkeit zu erwecken.

Wie wenig sie freilich besagter „Aufgabe“ sich offenbar gewachsen fühlen, lässt sich an der von ihnen selbst aufgerissenen Kluft ermessen, über die hinweg sie ihre „Aufgabe“ glauben, bewältigen zu sollen, zwischen hier einer „Theorie“ und dort der ja vor allem nötigen Praxis:

„Dazu ist eine theoretische Klarheit über die notwendigen Negationen der bürgerlichen Gesellschaft und ein Ansatz zu einem proletarischen Aktionsprogramm zu entwickeln.“

Denn was zählen irgendwelche tapfer wieder und wieder äußerlich an sie herange­tragenen, daher ewig imaginären, halt bloß theoretisch „notwendigen Negationen“ der bürgerlichen Gesellschaft gegen jene wirkliche Negation, die ihr an sich selber immer schon innewohnt und ihr jenen „transitorischen“ Charakter verleiht, von dem Marx gelegentlich spricht[23] und dessen brutal wirkliche Praxis wir hier in Europa mit neuer, seit Generationen nicht mehr gekannter Wucht gerade erleben? Woraus will man zudem ein „proletarisches Aktionsprogramm … entwickeln“, wenn nicht aus eben dieser unter unseren Augen sich abspielenden, von uns selbst erzeugten und mit uns umspringenden Wirklichkeit, die ihre Bürgerlichkeit aufzehrt?

„Rätestrukturen“

Jenes Programm zu entwickeln, bedeute,

„die Pandemiemaßnahmen aus Sicht des Proletariats zu betrachten und seine Selbsttätigkeit zu befördern“,

fahren die Autoren fort, womit ihnen, ohne dass sie es bemerken, ihre „Aufgabe“ dahin gerät, der Quadratur des Kreises zu gleichen, sie ihr folglich, noch ehe wir näheres darüber erfahren durften, den Garaus gemacht haben. Wird doch ihrer eigenen Argumentation zufolge ein Proletariat, das „nicht in der Lage“ sei, „sich selbsttätig zu schützen“, durch just dieselben „Pandemiemaßnahmen“ dem paternalistischen Zugriff des Staates unterworfen. Sie aus welcher „Sicht“ auch immer liebevoll „zu betrachten“, führt naturgemäß aus solcher „Lage“ nicht hinaus, gelangt also seinen eigenen Prämissen nach niemals dazu, irgendwelche „Selbsttätigkeit zu befördern“. Das Proletariat müsste vielmehr ganz selbsttätig jener „Maßnahmen“ sich erwehren, um irgend als Klasse politisches Gewicht zurückzugewinnen.

Was ROJAKXS anschließend zu ihrer „Aufgabe“ im Einzelnen ausführen, lässt in der Folge nicht nur die Rede von der „Selbsttätigkeit“ wie auch die von der „proletarischen Sicht“ restlos zur billigen Floskel verkommen. Es behandelt das ganze Inventar an Erfahrungen und Einsichten, welche die reiche Historie tatsächlich stattgehabter proletarischer Selbsttätigkeit angesammelt hat, als einen Ramschladen, aus dem man sich bedient, wie man gerade lustig ist.

Man erklärt sich gewillt „sich aus proletarischer Sicht in die Frage der Pandemiebekämpfung einzumischen“, ohne „die Frage“, in die man sich da einmischen will, wenigstens einmal zu formulieren. Zu irgendeiner „Frage“, die in Sachen „Pandemiebekämpfung“ möglicherweise sich stellt, hat man nämlich bis dahin buchstäblich noch kein einziges Wort verloren (man hatte es sich ja gleich anfangs verboten) und wird das auch bis zum Ende des Textes nicht mehr tun. Und wer denn in diese unaussprechliche Frage „sich aus proletarischer Sicht … einzumischen“ antreten soll, bleibt erstrecht im Dunkeln. Nur soviel wird verraten: „In den Kommunen“ seien dazu „Rätestrukturen zu befürworten“.

Den „Angriff auf den Leviathan“, dessentwegen man selber ja am allermeisten zittert, möchte man offenbar auf ganz leisen Sohlen vortragen. Schöner nämlich könnte wahrhaftig kaum jemand besagte „Rätestrukturen“ zur Attrappe machen. Denn Kommunen, die sich anschickten, nach eigenem Gutdünken was auch immer zu „bekämpfen“, haben es hierzulande mit der Kommunalaufsicht ihrer jeweiligen Landesbehörden zu tun. Mit „Selbsttätigkeit“ in eigenen „Strukturen“ aus eigener „Sicht“ ist es da nicht weit her. Für „Rätestrukturen“ in den Kommunen, die zu etwas anderem taugten als dazu, bei diesen den Ballast der auf den übergeordneten Ebenen der Politik getroffenen Entscheidungen abzuladen, wären zu allererst diese Über- und Unterordnungen umzustürzen. „Rätestrukturen“, die nicht das ganze Staatsgebäude von unten nach oben durchziehen sind nun einmal keine.

Ein „Aktionsprogramm“ am Ende

Zu dem lieblos zusammengehauenen Katalog an Programmpunkten, der diesem peinlichen Vorspann folgt, ist an sich nicht mehr viel zu sagen, aber doch soviel: Das mehrjährige Bosseln am Entwurf für ein „Aktionsprogramm“, mit dem dann in mit der Arbeiterbewegung verbandelten Zirkeln oder gar größeren Zusammenhängen (Gewerkschaftskreisen, Teilen der Partei die Linke) Diskussionen ange­stoßen würden, die eine Orientierung auf die politische Selbständigkeit der Klasse befördern könnten, ist damit wohl an sein Ende gekommen, und seine Fortsetzung in gehabter Weise wäre nur noch absurd.

Eine „proletarische Einheitskrankenkasse“ beispielsweise, die einerseits ihren „Missbrauch … durch die bürgerliche Politik und das Kapital … verhindern“ soll, andererseits den derzeitigen großen Missbrauch der gegenwärtigen Kassen[24] (von sonstigen schwerkriminellen Implikationen abgesehen), nämlich die sogenannte „Impf- und Teststrategie“, obendrein „in Eigenregie“ womöglich noch toller treiben soll – so etwas ist für mich jedenfalls nicht einmal mehr diskutabel. Dass die Autoren dabei vergessen haben, die Selbstverwaltung der Einheitskasse allein durch die Versicherten hinzuzusetzen, ist dagegen fast eine Petitesse.

Nicht weniger skandalös mutet die Lässigkeit an, mit der ROJAKXS die Arbeitszeitfrage abhaken.

„Arbeitszeitverkürzung per Gesetz und Rücknahme der Verschlechterungen im Arbeitszeitgesetz, keine verlängerten Arbeitszeiten in der Pandemie“,

fordern sie gleich anfangs ihres Katalogs und zeigen sich damit völlig desinteressiert an jeglichem politischen Kontext, in den die Frage konkret nun einmal immer gestellt ist. In diesem Kontext geht es in Sachen Normalarbeitszeit fürs lohnabhängige Volk aber hier und heute und bis auf weiteres nicht um irgendeine akut durchsetzbare „Verkürzung“, sondern um die Verteidigung und Absicherung des Kernelements seines Besitzstandes: den gesetzlichen Achtstundentag. Und dieser wird nicht nur durch das darauf gerichtete Dauerfeuer der Arbeitgeber und ebenso beflissen wie zugleich behutsam ihnen zu Hilfe kommende Regierungsprogramme infrage gestellt,[25] sondern leider auch durch eine politische Linke, die den Schuss partout nicht hören will, indem sie – blind für die Falle der Flexibilisierung, die dafür bereitsteht – sich Luftschlösser aus diversen „Verkürzungen“ der Arbeitszeit baut.[26]

Geradezu lachhaft oder auch – je nach dem – zynisch nimmt sich die „Arbeitszeitverkürzung per Gesetz“ in ihrer Paarung mit der Ignoranz aus, die ROJAKXS, der Versammlungsfreiheit entgegenbringen. Fast hätten sie, scheint es, dieses – um ihre Formel einmal zu entwenden – „aus proletarische Sicht“ wohl wichtig­ste Grundrecht[27] ganz vergessen. Jedenfalls widmen sie sich ihm in ihrer langen Liste an vorletzter Stelle, und dass es (seinerzeit) seit über einem Jahr außer Kraft gesetzt war (mittlerweile sind es zwei Jahre), finden sie keiner Erwähnung wert. Man solle es „gewährleisten“, fordern sie, setzen aber dreist in Klammern hinzu: „unter Berücksichtigung gesundheitsschützender Maßnahmen“. Sie erklären sich also ganz einverstanden mit seiner Außerkraftsetzung, die ja genau auf dieser „Berücksichtigung“ fußt.[28] Einem Arbeitsvolk, das sich bereitwillig an Händen und Füßen fesseln lässt, weil es von der Angst vor einem Virus gepackt ist, soll offenbar der Leviathan, sein Beschützer der letzten Tage, ihre famose „Arbeitszeitverkürzung per Gesetz“ als milde Gabe spendieren.

Wenig überraschend wollen sie die „Öffnung von Kindergärten und Schulen“ natürlich auch unter den Vorbehalt des Gesundheitsschutzes gestellt sehen und machen sich somit gemein mit der in diesen Einrichtungen seit „Corona“ flächendeckend etablierten Kindesmisshandlung. Dass sie von solchem „Schutz“ (wessen auch immer) verlangen, er solle nicht nur ein „ausreichender“, sondern zudem noch „gut begründeter“ sein, liefe an sich auf seine Erledigung hinaus, denn gut begründet war von Anfang an nichts daran, und inzwischen liegen reichlich allerbeste Begründungen dafür vor, ihn um Gottes willen bleiben zu lassen. Aber das von ROJAKXS durchweg demonstrierte Desinteresse an Begründungen in Sachen „Pandemie“ („Empirie und Statistik dienen zur Illustration von Glaubensfragen“, verlauten sie gleich anfangs) lässt annehmen, dass sie auch in diesem Fall gewillt sind, das gute Begründen ungeprüft andern zu überlassen.

Als kleine Pointe am Rande sei noch die fast prophetische Qualität ihrer Ablehnung des Einsatzes der Bundeswehr „in der Pandemiebekämpfung“ vermerkt. Seit Beginn des Ukraine-Krieges liegen sie damit nahezu auf einer Linie mit dem Generalinspekteur der Bundeswehr, der dieses Jahr am 1. März per „Tagesbefehl“ verlauten ließ, das „Kontingent in der Amtshilfe Corona … deutlich [zu] reduzieren“, weil diese „Soldatinnen und Soldaten … im Kernauftrag der Landes- und Bündnisverteidigung gebraucht“ würden. Dass jedoch schon ein Jahr früher auch ROJAKXS die Bundeswehr auf diesen „Kernauftrag“ beschränkt wissen wollten, befremdet ein wenig. Denn einen „Einsatz in der Pandemiebekämpfung“ allein deshalb abzulehnen, weil es Militär ist, was da eingesetzt wird, scheint ungefähr so geistreich wie eine helfende Hand, die einen aus dem Sumpf ziehen will, auszuschlagen, weil sie jemand gehört, mit dem man im Streit liegt. Nicht dass die Bundeswehr eingesetzt wurde, ist in Sachen „Pandemiebekämpfung“ der Skandal, sondern wofür das geschah.

Im Übrigen dürfte es nach aller Erfahrung nur wenig helfen, eine Regierung, die sich entschließt, ihr Militär gegen die ihr unterstellte Bevölkerung oder Teile davon in Marsch zu setzen, auf etwaige Verpflichtungen festzunageln, das nicht zu tun. Die Frage wird dann weniger sein, ob sie das darf, als vielmehr, ob sie es auch kann, ob das Militär funktioniert, wie es soll. Und es funktioniert in diesem Sinne naturgemäß dann am besten, wenn es zuvor strikt ferngehalten wurde von jedem „zivilen Einsatz“, der es später mit seinem „gegen die Bevölkerung“ gerichteten „Kernauftrag“ womöglich fremdeln ließe.

Aber die Linke, an die ROJAKXS mit ihrem ordinären Antimilitarismus hier sich ranschmeißen, hat mit solchem „zivilen Einsatz“ der Bundeswehr sowieso ein ganz anderes Problem als das zivile Leben vor Attacken vonseiten des Militärs zu bewahren. Sie traut diesem zivilen Leben selbst nicht übern Weg, fürchtet seine sogenannte „Militarisierung“, billigt ihm kein selbständiges Urteil im Umgang mit dem Militär und seinen Einsätzen zu. Und dies sogar mit einer gewissen Berechtigung, geht es doch in ihrem eigenen zivilen Leben und dessen Vorstellungswelt schon eine geraume Weile kaum weniger autoritär zu als in mancher Hinsicht aus guten Gründen im Militär, weshalb sie denn auch zu großen Teilen mit besonderer Begeiste­rung den autoritären Maßnahmenzirkus mitmacht.

 

Schluss

Von den in unserem Zirkel dereinst angestellten Überlegungen zu einem „Aktionsprogramm“ lässt der „Ansatz“ dazu, den uns ROJAKXS hier vorstellen, erkennbar kaum einen Stein auf dem andern, weil er den politischen Kontext, in dem jene Überlegungen seinerzeit gestanden hatten, und dessen mittlerweile zu konstatierenden gründlichen Wandel komplett ignoriert. „Proletarische Politik“, hatte es seinerzeit in einer ersten dieser Überlegungen geheißen,

„hätte … zunächst auszusprechen ‚was ist‘ (was wiederum nach dem schönen Wort Rosa Luxemburgs, das am Gebäude des Neuen Deutschland in Berlin prangt, die ‚revolutionärste Tat‘ ist), und dann Programme zu machen, die eben darauf berechnet sind und nicht darauf, was sein könnte, wenn man dürfte wie man vielleicht möchte.“[29]

Dieses „was ist“ bestand seinerzeit wesentlich in der Existenz einer zur Partei gewordenen Opposition gegen den unter dem Namen „Agenda 2010“ vollzogenen Umbau des bundesdeutschen Sozialstaats, die mit relevanter Unterstützung aus den großen Gewerkschaften versehen war und sich sehr bald als Fraktion im deutschen Bundestag etablieren konnte. Der Oppositionscharakter dieser Partei stand freilich von Anfang an auf der Kippe, war sie doch zum einen Teil das abtrünnig gewordene Fleisch von eben jenem Fleische, das die Agenda gegen das lohnabhängige Volk ausgeheckt und auf den Weg gebracht hatte, und zum zahlenmäßig übergewichtigen andern Teil die Fortsetzung einer Partei, die mit der Agenda-Partei SPD bereits Regierungskoalitionen eingegangen war und nicht wirklich daran dachte, diese politische Ausrichtung zu revidieren.

Dennoch besaß die Partei die Linke, deren förmliche Gründung immerhin schon vier Jahre zurücklag, als unser Zirkel im Frühjahr 2011 sich zusammenfand, damals noch wirklich Züge einer politischen Opposition, und darüberhinaus bot zudem vor allem das politische Klima noch gehörigen Raum dafür, so dass im Herbst desselben Jahres die schwarz-gelbe Regierung das von der Kanzlerin den Spitzen von Arbeitgebern und DGB versprochene Gesetz zur Tarifeinheit von ihrer Agenda nehmen musste, woran sowohl das bloße Dasein der Partei die Linke als auch ihr Wirken beträchtlichen Anteil hatte.[30]

Selbst unser Zirkelchen hatte einen kleinen, unbescheidenen Anteil an den gewerkschaftlichen Debatten, denen die Tarifeinheit bei ihrem ersten Anlauf schließlich zum Opfer fiel. Und auch auf die Partei blieben wir nicht völlig ohne Wirkung, als es uns gelang, in das Wahlprogramm der Linken zur Bundestagswahl 2013 eine Passage hineinzuschreiben, die nicht nur verlangte, die gesetzliche Beschränkung der Wochenarbeitszeit von 48 auf 40 Stunden zu reduzieren, sondern auch deren Kontrolle „durch unabhängige Arbeitnehmervertretungen“ gesetzlich vorzuschreiben.[31] Es war diese Konstellation, worin unsere Idee eines solchen Aktionsprogramms ihren bestimmten Sinn besessen hatte, das den Akzent weg vom linksüblichen Verlangen nach Staatshandeln im Interesse der Lohnabhängigen dahin verschiebt, Raum für deren organisierte Selbsthilfe zurückzufordern.

Nachdem jedoch im Ergebnis jener Bundestagswahl die FDP aus dem Bundestag ausgeschieden und als Koalitionspartner der Union abhanden gekommen war, wechselte die SPD aus der Oppositionsrolle zurück in die Regierung. Schon das allein veränderte die politische Konstellation grundlegend. Aber zuvor schon hatten sich die Gewichte innerhalb der Partei die Linke ebenso leise wie nachhaltig zu verschieben begonnen: weg von der Ambition, der SPD das Feld der Vertretung lohnabhängiger Interessen streitig zu machen, hin zu Avancen an SPD und Grüne, das grenzenlose Feld allgemeiner Weltverbesserung gemeinsam miteinander zu bestellen.

Deutlichen Ausdruck erhielt diese Gewichtsverlagerung Ende November 2013 in der ersten Stellungnahme der Partei zum frisch ausgehandelten Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD, noch ehe die auf seiner Grundlage zu wählende neue Regierung ihr Amt angetreten hatte. Dies sowohl in der Person, die sie vertrat, als auch in ihrem Inhalt. Als inzwischen bereits einige Zeit alleiniger Chef der Linksfraktion im Bundestag und nun auch dessen künftiger „Oppositionsführer“ ließ Gregor Gysi vor allem seinem Schmerz darüber freien Lauf, dass die SPD die Avancen seiner Partei ausgeschlagen und sich erneut mit der Union ins Bett gelegt hatte. In der Folge ist die Partei ziemlich rasant verkommen zum mittlerweile gehörig lahmenden linken Flügel eines breiten, im grundsätzlich weltoffenen und ökologischen Konsens zusammenwirkenden, als durchweg „demokratisch“ firmierenden, zu guter Letzt im gemeinsamen „Kampf gegen Rechts“ zusammengeschweißten bundesdeutschen Parteienspektrums, das – sozusagen klassisch, von links nach rechts gelesen – bei ihr beginnt und bei der CSU endet. Früher hieß so etwas einmal wohl „Volksfront“.

Seither hängt unser dereinstiges Bemühen um besagtes „Aktionsprogramm“ komplett in der Luft. Anzeichen, dass es damit so kommen würde, hat es allerdings vorher schon gegeben. Beispielsweise als nach unserem Beitritt im Juli 2012 zur Antikapitalistischen Linken, die sich als förmlicher Zusammenschluss in der Partei neu konstituiert hatte, unser Vorschlag für eine gemeinsame Intervention der AKL in den anstehenden Bundestagswahlkampf dort auf völlig taube Ohren gestoßen war. Ein „Aktionsprogramm“ aber, von dem aktuell niemand, der zu politischer Aktion auch nur halbwegs fähig wäre, etwas hören oder lesen will, ist halt keins, sondern bloß irgend so eine Idee, wenn auch vielleicht gar keine schlechte. Und das Predigen einer solchen Idee in einem politischen Milieu, das es mit Macht in die entgegengesetzte Richtung zieht, ist nur dazu geeignet, eventuell noch vorhandene eigene Kräfte zu politischer Aktion restlos lahmzulegen.

Zwar vielleicht nicht mit Absicht, aber leider in der Tat haben ROJAKXS in solch misslicher Lage sich dem politischen Milieu der Linken derart angepasst, dass aus ihrem „Ansatz zu einem proletarischen Aktionsprogramm“ ein ausgesprochenes Missgebilde wurde. Sehr sparsam einge­streut in einen Katalog frommer Wünschen, der erzählt, was alles „sein könnte, wenn man dürfte wie man vielleicht möchte“, findet sich darin durchaus auch etwas von jener guten Idee, anstelle von Freundlichkeiten seitens „der Politik“ politische Bewegungsfreiheit und Entscheidungshoheit fürs lohnabhängige Volk einzufordern. Aber mangels eines bestimmten Adressaten, außer vielleicht jenem Proletariat, das aus seinem Koma erst noch erweckt werden müsste, fehlt der Boden, auf dem diese Idee Früchte tragen könnte. Daher wohl ist es unserem Trio passiert, dass aus seinem ganzen Pro­grammkatalog jener peinlich unverbindliche Sound des ordinären linkssozialdemokratischen Gewerkschaftssprechs heraustönt, der nach „Reichensteuer“ und „guter Arbeit“ verlangt und, wenn er keck wird, manchmal halt sogar nach „Arbeitszeitverkürzung per Gesetz“, ohne anzugeben, wer genau da wofür, wie und wann von wem haftbar gemacht werden soll.

Post scriptum

Die schlafwandlerisch anmutende Treffsicherheit, mit der ROJAKXS, souverän die von ihnen selbst behauptete „mangelnde wissenschaftliche Evidenz“ beiseite schiebend, in der Corona-Frage mehr oder weniger von Anfang an sich auf die Seite einer Wissenschaft geschlagen haben, welche die staatliche Beschlagnahme unserer körperlichen und seelischen Integrität und den Diebstahl unserer Grundrechte mit erstklassigen Begründungen versorgt; die Bedenkenlosigkeit, mit der sie obendrein einstimmen in das „Haltet den Dieb“, womit die Exekutoren und Handlanger des derart installierten Regimes ihre Untaten decken und den Protest dagegen niederbrüllen; die Tatsache schließlich, dass es sich bei dem Autorentrio um an Marxens kritischer Wissenschaft geschulte Köpfe handelt, die an sich wissen, dass diese Wissenschaft nicht anders möglich war denn als Kritik der Wissenschaft ihrer Zeit – dies zusammengenommen legt nahe, dass im Untergrund unseres Dissenses (des meinen mit ihnen) Fragen der Aufhellung bedürfen, die in unserer – vonseiten ROJAKXS’ bislang ohnehin eher sparsam bestrittener – Corona-Diskussion allenfalls am Rande und sehr undeutlich aufgeschienen sind.

Weitaus deutlicher traten sie indes schon viel früher bei den verschiedenen Versuchen zutage, für die Entwürfe eines „proletarischen Aktionsprogramms“ einleitend eine allgemeine Begründung zu formulieren, die darlegt, was denn der Kapitalismus sei und was, „entgegen der antikapitalistischen Legende“, an sich eben nicht. Die gravierenden Unzulänglichkeiten dieser Versuche haben nach meinem Dafürhalten das Desaster unseres jetzigen Dissenses, das jeden gemeinsamen „Ansatz zu einem Aktionsprogramm“ fürs erste besiegelt, in bestimmter Hinsicht auf fatale Weise prädestiniert. Aber das muss an anderer Stelle gründlicher erörtert werden.



[1] „Die mörderische Angst des Spießers entspringt … hauptsächlich seinem ihm angeborenen Unvermögen, sich selbständig zu orientieren. Er fürchtet die Revolution vor allem dann, wenn er sie heraufziehen und doch niemand sieht, der sie ihm macht; wenn also die herrschende Klasse zwar alle Anzeichen ihrer Unfähigkeit zu herrschen zeigt, aber die revolutionäre Klasse dennoch als solche nicht in Erscheinung tritt, nicht revolutionär zu handeln versteht. Genau dies war die Konstellation, der die Nazis 1933 ein schlimmes Ende machten.“ (DD: „Aufstehen“ für die Volksfront? Nein Danke!, übergänge-Flugschrift, Juni 1998, S. 3, Sp. 3)

[2] Die Niederschrift der Geschichte ihres Zustandekommens wurde denn auch ein bis heute berühmter Klassiker der marxistischen Literatur, nämlich Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte von Karl Marx. In: MEW 8, S.  111 ff

[3] „Der Junikampf war durch die republikanische Fraktion der Bourgeoisie geleitet worden, mit dem Siege fiel ihr notwendigerweise die Staatsmacht anheim. … Nicht der Royalismus also, der Bourgeoisrepublikanismus verwirklichte sich im Leben und in den Taten dieser konstituierenden Versammlung, die schließlich nicht starb, auch nicht getötet wurde, sondern verfaulte.“ (Karl Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich. In MEW 7, 35)

[4] Eine Kumpanei, die besonders deprimierend sich bemerkbar macht in dem Echo, das die Autoren der staatlichen oder staatsnahen Propaganda machen; in dem durchweg verunglimpfend denunziatorischen Tonfall, worin sie nicht nur den dezidierten Protest gegen die Corona-Maßnahmen abhandeln, sondern lieber noch mit ausgesuchter Demagogie auf jene (Prantl, Streeck) eindreschen, die gegen das blödsinnige Maskentragen z. B. gar nichts haben, aber den politischen Amoklauf gegen ein ungegängeltes privates wie öffentliches Leben immerhin etwas abbremsen wollen.

[5] Vielleicht muss man allerdings – angesichts des rapiden Fortschritts im Verfall jeglicher Gesellschaftlichkeit – mittlerweile anstelle von „gesellschaftlichen“ richtiger – und leider auch weniger optimistisch – von „kartellierten“ oder halt „bandenmäßigen“ Formen des Eigentums sprechen.

[6] Zumindest an einer Stelle ihres Textes konzedieren ROJAKXS, obgleich nur implizit, das Problem ihres Umgangs mit dem Begriff, wenn sie dort schreiben, dass ein „Durchregieren der herrschenden Klasse … nicht zu erkennen“, sei (ohne freilich zu sagen, wer oder was denn stattdessen wie regiert) und schließlich das Wirken ihres „ideellen Gesamtkapitalisten“ sogar in den Konjunktiv irrealis setzen:

„Im Wettrennen um wirtschaftlichen, geopolitischen und militärischen Einfluss strebt Deutschland weiterhin nach einer Vormachtstellung. Der Staat als ideeller Gesamtkapitalist hätte die Aufgabe, dem deutschen Kapital ein starkes Auftreten auf dem internationalen Parkett zu ermöglichen. Auch dies gelingt ihm derzeit nur eingeschränkt.“

[7] Zur Kuriosität der „Kontinuität“, die da beschworen wird, vgl. auch die Fußnote 11 im ersten Teil meiner „Einwürfe …“.

[8] Von einer „Rückkehr zum kapitalistischen Alltag“, welche angeblich das Anliegen der „Corona-Protestler“ sei, ist ja auch einmal die Rede, ohne dass man erfährt, mit was für einem davon abweichenden Alltag wir es denn derzeit zu tun hätten.

[9] Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: MEW 1, S. 390.

[10] Franz Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944, Frankfurt a. M. 1993, S. 16.

[11] „ … selbstverständlich wird auch künftig das lohnabhängige Volk für die Selbstverteidigung seiner Interessen diese Freiheiten in Anspruch nehmen müssen. Oder vielmehr: mehr denn je. Mehr denn je nämlich wird es ab jetzt darauf ankommen, die Wahrung aller lohnabhängigen Interessen ihrer grob veruntreuenden Verwaltung durch das zum weltverschlingenden Moloch mutierende Staatsungeheuer, den Leviathan, zu entwinden …“ („Corona-Zeiten-Wende. II. Antikapitalismus und Grundrechte“, 15.9.2021).

[12] Vgl. dazu auf diesen Seiten: „Zwischen Pest und Influenza“.

[14] Marx konnte oder mochte vielleicht auch einfach nicht sich vorstellen, dass das Menschenpack verfehlen könnte, das ungeheure Potential, das es in der bürgerlichen Gesellschaft für seine Emanzipation auftürmte, rechtzeitig beim Schopfe zu ergreifen, und statt dessen in ein Jahrhundert selbstgemachter ebenso entsetzlicher wie hoffnungsloser Katastrophen marschieren würde:

„Eine Entwicklung der Produktivkräfte, welche die absolute Anzahl der Arbeiter verminderte, d.h., in der Tat die ganze Nation befähigte, in einem geringern Zeitteil ihre Gesamtproduktion zu vollziehn, würde Revolution herbeiführen, weil sie die Mehrzahl der Bevölkerung außer Kurs setzen würde.“ (MEW 25, S. 274)

[16] Solche „Schöpfungen“ gibt es natürlich weiterhin, wenn auch in verhältnismäßig überschaubarer Zahl, aber um davon welche zu ergattern, muss man in der Regel bereits irgendwie dazugehören zu den elitären Zirkeln und deren Klientel, für die sie gedacht sind.

[17] Die Geschichte und Vorgeschichte dieser politischen Krise, in deren Verlauf aus einer Provinzposse eine Staatsaffäre wurde, ist durchaus wert nachgezeichnet zu werden. Hinsichtlich „Corona“ spielt sie aber weniger eine das Drama konstituierende Rolle, als dass sie vielmehr für dessen spezielle deutsche Verlaufsform charakteristisch war. Sie ist also eine ganz eigene Geschichte und soll daher an anderer Stelle etwas näher gewürdigt werden.

[18] So nun leider auch in der dickleibigen Fleißarbeit eines alten Kämpen der autonomen Linken zum Thema, wenn es da heißt:

„Die Infektionskrankheit Covid-19 entwickelt keine typischen Krankheitszeichen und verläuft sogar häufig symptomlos.“ (Karl Heinz Roth: Blinde Passagiere. Die Corona-Krise und die Folgen, München 2022. Siehe dort am Beginn des Kapitels III.2 „Krankheitsverläufe und medizinische Behandlung“.)

[19] Prominente Gestalten, auf die das wohl zutrifft, sind Angela Merkel und Wladimir Putin.

[20] „ … es gibt eine demokratische Diktatur der Gesundheitspolitik.“ (DD: Corona, die Freiheit, Demokratie und Diktatur, 31.3.2020)

[21] „Bislang gab es nur die bekannte Unterscheidung in Rechtsextremismus, Linksextremismus und Islamismus. Da das Bundesamt für Verfassungsschutz nach gründlicher Analyse die sogenannten ‚Corona-Leugner‘ nicht in die bestehende Gruppenbildung einordnen konnte, schuf es einen ‚neuen Phänomenbereich‘ unter dem Titel ‚Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates‘.“ (G. S.: Anmerkungen zu „Hysterie in der Pandemie“, 8.5.2021)

[22] Vgl. dazu mein Editorial der übergänge Nr. 4 („‚Revolutionstheoretischer Impetus‘ oder Theorie der Revolution?“) vom Mai 1997, in dem es gegen Ende heißt:

„Es verhält sich tatsächlich exakt andersherum, als es das stereotype Ressentiment des (gegen seine einst­mals ‚Heiligen Schriften‘) gewendeten Linksradikalismus heute gerne kolportiert: Nicht Lenin stritt (auch nicht ‚zeitbedingt unschuldig‘) für die Unterwerfung des Proletariats unter die erzieherische Fürsorge von Leuten, die glauben, den Gang der Geschichte zu kennen, sondern seine Gegner, und aus eben diesem Grund wurde er zu ihrem.“

[23] Zum Beispiel: „Nur soweit der Kapitalist personifiziertes Kapital ist, hat er einen historischen Wert und jenes historische Existenzrecht … Nur soweit steckt seine eigne transitorische Notwendigkeit in der transitorischen Notwendigkeit der kapitalistischen Produktionsweise.“ (MEW 23, S. 618. Ähnlich: MEW 19, S. 359 sowie MEW 26.3, S. 51, 261, 269)

[24] Siehe dazu auch die beiden ersten Abschnitte von Teil 1 meiner „Einwürfe …“, betitelt „Lethargie in der Hysterie“.

[25] Vgl. dazu den Abschnitt „Flexibilisierung des Achtstundentags“ in meinem Text „Corona und das Arbeitszeitgesetz“. Die dort aus dem Koalitionsvertrag von 2017 zitierte Absicht, im Arbeitszeitgesetz tarifgebundenen Unternehmen „Experimentierräume“ zur sozialpartnerschaftlichen Flexibilisierung seiner Schranken zu verschaffen, schreibt der aktuelle Koalitionsvertrag der Ampel fort und wird zugleich um einiges deutlicher:

„Wir halten am Grundsatz des 8-Stunden-Tages im Arbeitszeitgesetz fest. Im Rahmen einer im Jahre 2022 zu treffenden, befristeten Regelung mit Evaluationsklausel werden wir es ermöglichen, dass im Rahmen von Tarifverträgen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter bestimmten Voraussetzungen und in einzuhaltenden Fristen ihre Arbeitszeit flexibler gestalten können. Außerdem wollen wir eine begrenzte Möglichkeit zur Abweichung von den derzeit bestehenden Regelungen des Arbeitszeitgesetzes hinsichtlich der Tageshöchstarbeitszeit schaffen, wenn Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen, auf Grund von Tarifverträgen, dies vorsehen (Experimentierräume).“ (Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, S. 54)

[27] Dass die Versammlungsfreiheit nichts ist, worauf notfalls verzichtet werden kann (ohne sie wird auch die fürs Proletariat ähnlich gewichtige Koalitionsfreiheit zur Makulatur), sondern – weit mehr noch als das Wahlrecht – „aus Einwohnern erst Bürger macht“; dass ohne dies „der Citoyen“ verschwindet „und der Untertan … übrig“ bleibt, hat sehr überzeugend Dagmar Henn in einem „Corona-Maßnahmen – Die Abschaffung der Menschenwürde“ betitelten Artikel dargetan, der Anfang vergangenen Dezembers auf RT (seit der Sperrung von RT hierzulande leider nicht mehr erreichbar) veröffentlicht wurde, nachdem das Bundesverfassungsgerichts die im Frühjahr 2021 beschlossene sogenannte „Bundesnotbremse“ abgenickt hatte.

[28] In ihrem Namen wurden – daran ist zu erinnern – nicht nur zahlreiche Demonstrationen gegen das Maßnahmen-Regime verboten, sondern jede Menge Parteitage verschoben oder gleich ganz abgesagt.

[30] Dazu und zur Rolle, welche die Linke dabei gespielt hat, näheres im letzten Unterabschnitt (überschrieben „Die Linke und die Koalitionsfreiheit. Ein Lehrstück“) des ersten Teils („Blütenträume des Antikapitalismus“) von „Corona-Zeiten-Wende“.

[31] Siehe „100 % Sozial. Die Linke. Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2013“, S. 15.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0

Nicht seine Kritik der politischen Ökonomie lieferte Marx den Schluss auf jenes „revolutio-näre Subjekt“ namens „Prole-tariat“ – herleiten lässt sich aus ihr nichts dergleichen –, son-dern genau andersherum be-gründete die schiere Evidenz des Daseins und Wirkens die-ses Subjekts allererst eine Kritik der politischen Ökonomie, die das Kapital als „Durchgang“ hin zur menschlichen Gesellschaft diagnostiziert. Striche man da-gegen aus der Marxschen Di-agnose dieses einzige wahrhaft historisch-subjek­tive Moment darin aus, bliebe von ihr nur das Attest eines unaufhaltsa-men Verhängnisses.(*)

Wertkritischer Exorzismus
Hässlicher Deutscher
Finanzmarktkrise