Krise der LINKEN

Von Daniel Dockerill

(für Info DIE LINKE Schleswig-Holstein. Eine modifizierte Fassung dieses Text ist unter dem Titel Fehlschaltung zuvor bereits im Juli-Heft der Zeitschrift konkret erschienen.)

Kurz hintereinander aus zwei Landtagen in Deutschlands Westen rausgeflogen, wobei der Rausschmiss in NRW besonders schmerzt. Davor im März vergangenen Jahres bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg jeweils bereits zum zweiten Mal gescheitert: Keine Frage, unsere Partei, die Linke – wie sagt man’s richtig: manövriert? treibt? – befindet sich in äußerst ungemütlichem Fahrwasser.

Infrage steht, was im Verlaufe ihrer Gründung, die nach etwa zweijähriger Vorbereitung im Juli 2007 perfekt wurde, das Bemerkenswerteste an ihr ausgemacht hatte: ihr Charakter als politische Kraft links von der SPD, deren Anhang groß genug war, auch linksseits der Elbe nicht mehr, wie’s bis dahin das Schicksal aller solcher Unternehmungen gewesen war, spätestens bei Parlamentswahlen oberhalb der Kreisebene als politisches Fliegengewicht durchzufallen.

Bei der vorgezogenen Bundestagswahl im September 2005 hatte das Wahlbündnis der WASG mit der zur „Linkspartei“ umbenannten PDS beiden zusammen ermöglicht, in Fraktionsstärke in den Bundestag einzuziehen. Der PDS war das zuletzt, bei der Wahl 2002, noch klar misslungen. Die gemeinsam diesmal erzielten 8,7 Prozent an Wählerstimmen hatten es erlaubt, dass nunmehr und erstmals wieder seit 1933 im deutschen Parlament Abgeordnete aus allen Landesteilen sitzen, die mit der organisierten Arbeiterbewegung verbunden sind und deren Anliegen in ausdrücklicher Abgrenzung zur Politik der Sozialdemokratie vertreten.

Unter dem noch frischen Eindruck der ein Jahr zuvor manifest gewordenen Weltwirtschaftskrise bestätigte die Bundestagswahl im September 2009, zu der nun die aus der Fusion von PDS und WASG hervorgegangene neue Partei die Linke antrat, das Ergebnis nicht nur, sondern übertraf es mit 11,9 Prozent noch einmal deutlich.

Absturz und Wiederaufstieg der SPD

Die SPD dagegen, bereits als Kanzlerpartei bei der 2005er Wahl um 4,3 Prozent eingebrochen, erlitt diesmal als Juniorpartner der ersten Merkel-Regierung mit 23 Prozent (minus 11,2 Prozentpunkte) ihr schlechtestes Ergebnis seit Bestehen der Bundesrepublik. Zuvor war die Linke in Bremen, Hessen, Niedersachsen, Hamburg sowie einen Monat vor der Bundestagswahl bravourös auch im Saarland in die Landtage eingezogen, darunter in Hessen binnen Jahresfrist zum zweiten Mal. Am Tag der Bundestagswahl selbst zog sie schließlich auch in den schleswig-holsteinischen Landtag. Ausgespart von diesen Wahlerfolgen der Linken blieb einzig der äußerste Süden der Republik: In Bayern war die Partei im September 2008 relativ knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert, und etwas deutlicher bereits im März 2006, also noch vor der Fusion, die WASG[1] in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz ebenfalls.

Im Ergebnis der letzten Bundestagswahl wechselte ab Herbst 2009, nach einem guten Jahrzehnt in der Regierung, die Sozialdemokratie – hinsichtlich des Rückhalts bei ihrer abonnierten Anhängerschaft an einem Tiefpunkt angelangt, den man mit einigem Grund „historisch“ nennen darf – erstmals wieder zurück in die Opposition; und badete, wie regelmäßig früher schon in analoger Situation, gleichsam in einem Jungbrunnen. Schröders Untaten wie die Münteferings, der Stones und all ihrer Spießgesellen: alsbald vergeben und vergessen. Nicht lange und die SPD war wieder imstande, Wahlen zu Landesparlamenten zu gewinnen.

Musste sie nach der Landtagswahl 2009 in Schleswig-Holstein, wie im Falle der Bundestagswahl, mit der sie zeitlich zusammenfiel, noch einmal aus der Regierung in die Opposition wechseln, so konnte sie ein Dreivierteljahr später, nach der Wahl in NRW im Mai 2010, die der Linken den Einzug ins Parlament des größten deutschen Bundeslands bescherte, die CDU-FDP-Regierung durch eine Minderheitsregierung ablösen. Hannelore Kraft reichte im zweiten Wahlgang die relative Mehrheit der Stimmen von SPD und Grünen im Düsseldorfer Landtag, weil die Abgeordneten der Linken sich enthielten.

Bei der Wahl zur Hamburger Bürgerschaft Ende Februar 2011 gewann dann die SPD nach zehn Jahren in der Opposition dort erstmals wieder die absolute Mehrheit der Mandate. Spitzenkandidat und neuer Erster Bürgermeister: Olaf Scholz, zuletzt, als Nachfolger Münteferings, Arbeitsminister im Kabinett Merkel, davor – von Oktober 2002 bis zu Schröders Rücktritt vom Parteivorsitz im März 2004 – Generalsekretär der SPD und Schröders Mann fürs Grobe insbesondere bei der Durchsetzung der Agendapolitik. In seiner jüngeren Karriere spiegelt sich konzentriert die der SPD.

Kennzeichnend für – sportlich gesprochen – die Geber- wie auch Nehmerqualitäten dieses Mannes und zugleich die seiner Partei war das miserable Ergebnis (52,6 Prozent), das er bei seiner Wiederwahl zum Generalsekretär auf dem SPD-Parteitag im November 2003 einfuhr. Kennzeichnend aber insbesondere dessen Datum.

Politisches Timing auf Sozialdemokratisch

Erinnern wir uns: Im März 2003 hatte Schröder mit seiner berüchtigten „Agenda-Rede“ die sozialen Gemeinheiten angekündigt, die das politische Kernstück seiner zweiten Amtszeit werden sollten. Die Ankündigung war deutlich genug, dass es sehr bald selbst in seinem eigenen Parteianhang leise zu rumoren begann. Namentlich in den Gewerkschaften regte sich Unmut, dem man Luft verschaffen musste. Also wurden am 24. Mai – mit lauer Begeisterung und sehr gebremstem agitatorischen Aufwand – offizielle Protestaktionen der Gewerkschaften in etlichen Städten anberaumt. Zwei Tage darauf gab DGB-Chef Michael Sommer öffentlich ob der schwachen Mobilisierung den Enttäuschten und seinem Parteifreund und Kanzler fürs erste freie Bahn für dessen Agenda: Man würde „erst im Herbst über weitere Proteste entscheiden“.[2]

Das war genau die Zeit, die die SPD-Regierung brauchte, um das in ihrem eigenen Anhang umstrittene Gesetzesprogramm parlamentarisch in einigermaßen trockene Tücher zu bringen. Mit der dritten und letzten Lesung seines Kernstücks, des vierten Hartz-Gesetzes, im Bundestag war das am 17. Oktober erledigt. Zugleich rumorte es weiter und immer heftiger in der Anhängerschaft der SPD, insbesondere in den Gewerkschaften. Symptomatisch dafür: Bei einer zwar nicht vom DGB, aber schließlich von einer Vielzahl unterer Gliederungen der Gewerkschaften bundesweit unterstützen Demonstration in Berlin am 1. November 2003, für die ihre Organisatoren sich kaum mehr als 30.000 Teilnehmer erhofft hatten, waren plötzlich 100.000 auf die Straße gegangen, nicht zuletzt viele Berliner, die sich spontan angeschlossen hatten. Die am 3. April des folgenden Jahres auch offiziell vom DGB getragenen Demonstrationen in Stuttgart, Köln und Berlin brachten dann über 500.000 gegen Schröders Sozialkahlschlag auf die Beine und leiteten damit den Sinkflug der rotgrünen Regierung ein, ohne indes deren Agenda noch irgend gefährden zu können.

Analog das Geschehen in der SPD selbst: Politisch halbwegs bedeutsam artikulierte sich die Unzufriedenheit in der Partei mit der eigenen Regierungspolitik genau erst in dem Moment, als diese vollendete Tatsache war. Der Denkzettel für Schröders Agenda-Mann kam auf ausgesuchte Weise zu spät.

Dessen jüngster Erfolg wiederum bei der Hamburger Bürgerschaftswahl im Februar 2011 war ein klares Zeichen, dass für die SPD alles wieder gut zu werden begann. Ein Zeichen aber auch, wenn es denn immer noch eines dafür braucht, wofür die SPD ihrerseits auch künftig gut sein will und wird: die Drecksarbeit zu machen, wenn das Interesse der besitzenden Klasse wieder einmal nötig hat, ihr den Zorn der Proleten vom Leib zu halten. Dafür kneift der Sozialdemokrat immer von neuem den Arsch zusammen und steckt die anschließend fällige Prügel ein, in der Gewissheit, dass bald wieder bessere Zeiten kommen.

Die Linke in schwerer See

Für unsere Partei dagegen hatten mit der Hamburg-Wahl bereits leise aber vernehmlich die Alarmglocken geläutet. Zunächst jedoch konnte sie bei derselben Gelegenheit ihr Ergebnis von 2008 bestätigen. Manche hatten bereits anderes befürchtet oder gehofft. Hatten doch wenige Wochen vorher die Medien allerhand Wind gemacht wegen eines Artikels der damaligen Parteivorsitzenden Gesine Lötzsch in der jungen Welt über „Wege zum Kommunismus“ und versucht das Ressentiment des Antikommunismus zu bedienen – freilich ohne irgendeine messbare Wirkung. Danach jedoch beginnt eine Reihe von Misserfolgen der Partei bei Wahlen zu Parlamenten der alten Bundesländer, wenngleich zunächst noch keineswegs die Rede davon sein konnte, dass der linke Erfolgstrend der Zeit davor sich umgekehrt hätte. Auch die Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz im März 2011 bestätigten das jeweilige Ergebnis der dort vorausgegangenen Wahlen: 2006 war die WASG mit annähernd gleichen Ergebnissen (3,1 bzw. 2,6 Prozent) an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. In Bremen zog man im Mai 2011 sogar erneut in die Bürgerschaft ein, wenn auch unter Einbuße von 2,8 Prozentpunkten.[3] Ein Verlust freilich in gleicher Höhe bei möglichen Neuwahlen in Schleswig-Holstein oder NRW bedeutete das sichere Ausscheiden aus den dortigen Landtagen. Noch indes schien alles verkraftbar, ohne dass bereits der Charakter der Linken als Partei von politischem Gewicht sowohl im Osten wie im Westen Deutschlands ernsthaft bezweifelt werden musste.

Mittlerweile aber, nach den verlorenen Wahlen in Schleswig-Holstein und namentlich in NRW, scheinen solche Zweifel unabweisbar. Und es werden Erklärungen gesucht und gefunden, was die Partei wohl falsch gemacht habe, dass es mit ihr so gekommen ist. Der demokratische Aberglaube an die Allmacht der Politik treibt kräftige Blüten.

Datiert man jedoch den Beginn des Niedergangs der linken Wahlerfolge ab den verlorenen Wahlen im März 2011 in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz und wendet den Blick weg vom politischen Spektakel auf der Vorderbühne, hin zu dem, was namentlich die möglichen Wähler unserer Partei viel mehr drückt oder erleichtert, dann fällt vielleicht eine interessante Kongruenz mit dem Konjunkturverlauf ins Auge: Im Frühjahr 2011 erreicht das deutsche Bruttoinlandsprodukt erstmals wieder das Niveau, das es vor dem Kriseneinbruch einmal gehabt hat.

Ab etwa diesem Datum fällt aber auf jene Agendapolitik, als deren Opponent Die Linke ins Leben getreten war, zusehends greller ein ganz anderes Licht, als zuletzt noch in den Monaten der auch in Deutschland handfesten Wirtschaftskrise; zumal im Kontrast der prosperierenden deutschen Konjunktur zu der sich ausbreitenden Depression in weiten Teilen des übrigen Europas. Wenn es Deutschland jetzt so außerordentlich gut geht, kann die Politik bis dahin doch nicht völlig verkehrt gewesen sein. Bis auf weiteres keine gute Figur macht angesichts dessen die in der deutschen politischen Kultur auch links nahezu unvermeidliche, wenn auch nicht eben intelligente Behauptung, dass die neoliberale Politik massenhafter Verarmung in einem wirtschaftlichen Desaster enden müsse, das klassenübergreifend „die Menschen“ in Deutschland erfasst. Mit andern Worten: Volkspartei auf links geht da ziemlich schlecht – zumal an Parteien, die auf Deutschland und sein Volk schwören, es gewiss nicht mangelt. Interessenpartei, nämlich Partei derjenigen, auf deren Verarmung jene Politik zielt, zu sein und dies ohne Rücksicht auf entgegenstehende Interessen der Nation, ginge schon eher, müsste aber wohl erst noch gelernt werden.

Signale

Vielleicht deshalb, vielleicht aus bloßer Gewohnheit und weil zu Anderem die Übung fehlt, sind unsere neuen Vorsitzenden darauf verfallen, in dieser Lage der SPD das Angebot zu machen, über deren sämtliche Sauereien den Mantel des gnädigen Vergessens zu breiten und in ein gemeinsames Regierungsboot mit ihr zu steigen. Vernunftgründe fallen mir jedenfalls nicht dafür ein. Sehr wohl jedoch kann ich mir denken, was die bürgerlichen Medien dazu treibt, dem peinlichen Schauspiel in seltener Freigiebigkeit ihre Bühne zur Verfügung zu stellen. Das Menetekel einer erneuten Rezession auch in Deutschland steht bereits drohend an der Wand. Falls daher die SPD demnächst vielleicht wieder den Mohr machen muss, der seine Schuldigkeit tut, wäre es, so vielleicht der nicht eben dumme Gedanke, nicht gut, wenn es links von ihr eine Partei gäbe, die der Schuldigkeit sich enthielte, ihr gar die Stirn zu bieten imstande wäre.

Phantasieren wir einmal ein bisschen. Stellen wir uns vor, es hätte 1998, als Rotgrün sich anschickte, nach 16 Jahren die Regierung Kohl zu beerben, eine Partei gegeben, die Klartext darüber gesprochen hätte, was von der wahrscheinlichen neuen Regierung zu erwarten war; die darauf hingewiesen hätte, dass eine Regierung Schröder/Fischer erklärtermaßen von deutlich weniger Skrupeln als Kohl und Kinkel geplagt sein werde, auch ohne die Uno gegen Jugoslawien in den Krieg zu ziehen; die laut und entschieden gewarnt hätte vor der linken Freude auf die „andere Politik“ eines Kanzlers, der sich selbst mit der Botschaft anpries, der marktwirtschaftlichste Kandidat für das Amt zu sein, den die SPD jemals aufzubieten hatte. Welch vergleichsweise grandiosen Aussichten hätten sich dadurch vielleicht eröffnet für eine kraftvolle Opposition gegen den ersten deutschen Krieg nach Hitler, der der rotgrünen Regierungsübernahme auf dem Fuße folgte, und später gegen Schröders Agenda. Und welchen Respekt hätte eine solche Partei sich schließlich bei allen erworben, die eines politischen Gedankens fähig sind.

Es hat nicht sollen und soll anscheinend, ginge es beispielsweise nach Bodo Ramelow, auch weiterhin nicht sein. Dieser, damals noch parteilos, heute Chef unserer Thüringer Landtagsfraktion, hatte 1997 als einer der Erstunterzeichner einer so genannten  „Erfurter Erklärung“ eifrig getrommelt für das Unheil jener „anderen Politik“. In einer „Erfurter Wortmeldung“, die er zusammen mit dem Vorsitzenden seines Landesverbands anlässlich unseres Programmparteitags im Oktober letzten Jahres veröffentlichte, feiert er besagte Erklärung als „das erste bundesweite Signal, das politisch die drei Parteien SPD, Grüne und PDS mahnte, das Trennende zu überwinden, um gemeinsam die Ära des Helmut Kohl zu beenden“ – ohne das Debakel dieses Endes einer „Ära“, die beileibe nicht nur die des Helmut Kohl gewesen war, mit auch nur einer Silbe zu bedenken.

Viel Beachtung hat diese durchaus bemerkenswerte Wortmeldung, so weit ich sehe, indes nicht gefunden. Schade eigentlich, denn immerhin wäre sie geeignet, den Kontext politischer Optionen, die im kommenden Jahr zur Entscheidung stehen, gewissermaßen ins Historische hinein ein wenig zu erweitern. Es würde sich jedenfalls zweifellos lohnen, das neuerliche „Signal“, womit unsere frisch gekürten Vorsitzenden nun wiederum mahnen, „das Trennende zu überwinden“, auch im Lichte unserer Erfahrung mit jenem früheren zu begutachten. Dann, so wage ich zu hoffen, ginge es wohl eher (noch) nicht nach Bodo, Dietmar et altera.



[1] die jedoch damals bereits mit der Linkspartei.PDS zusammen im Bundestag saß und die Fusion beider Parteien in die Wege geleitet hatte.

[2] Die entsprechenden Meldungen sind heute noch auf stern.de und bei ntv nachlesbar.

[3] Noch einmal deutlich größer fiel schließlich der Verlust der LINKEN bei der vorzeitigen Neuwahl im Saarland im März dieses Jahres aus, jedoch ausgehend von einem ungleich höheren Niveau, weshalb er hier außer Betracht fällt.

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Nicht seine Kritik der politischen Ökonomie lieferte Marx den Schluss auf jenes „revolutio-näre Subjekt“ namens „Prole-tariat“ – herleiten lässt sich aus ihr nichts dergleichen –, son-dern genau andersherum be-gründete die schiere Evidenz des Daseins und Wirkens die-ses Subjekts allererst eine Kritik der politischen Ökonomie, die das Kapital als „Durchgang“ hin zur menschlichen Gesellschaft diagnostiziert. Striche man da-gegen aus der Marxschen Di-agnose dieses einzige wahrhaft historisch-subjek­tive Moment darin aus, bliebe von ihr nur das Attest eines unaufhaltsa-men Verhängnisses.(*)

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