Corona, die Freiheit, Demokratie und Diktatur

Noch ein Kommentar zu Ulla Jelpkes Kommentar in der jungen Welt

von D.D.

Zu J.H.s mir sehr sympathischem Einwurf, der mich noch am Roten Meer in Ägypten, zwei Tage vor unserem Rückflug in das von der Corona-Krise paralysierte Deutschland, erreicht hatte, wollte ich mich schon länger zu Wort melden. Aber es hat dann doch eine gute Woche seit unserer Rückkehr gebraucht, hier, wo nichts mehr zu sein scheint, wie wir es vor unserer zweiwöchigen Reise verlassen hatten, und dann auch in der Schlacht um Daten und Fakten und Argumente betreffs „Corona“, die inzwischen tobt, sich halbwegs zurechtzufinden.

 

„seit dem Zweiten Weltkrieg“

Ja, auch ich finde den „Burgfrieden“ überschriebenen Kommentar von Ulla Jelpke in der jungen Welt[1] einigermaßen ärgerlich. Das geht schon los mit dem ersten Satz, in dem sie quasi zeitgleich mit der Frau Bundeskanzler (deren Ansprache am Vorabend im Fernsehen lief) den Zweiten Weltkrieg als Bezugspunkt wählt. Denn wenn man als allzeit bekennende Antifaschistin hier und jetzt so einen Bezug herstellt, dann hätte es zumindest angestanden, auf den schieren Irrsinn hinzuweisen, den Frau Merkel da gerade verzapft hatte: „Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.“ Stattdessen mit dem Ausmaß an „Grundrechtseinschränkungen“ zu kommen, das seitdem (ja, seit wann denn eigentlich) nicht mehr zu erleben gewesen sei, macht’s leider kaum besser. Es hätte wahrlich vollauf genügt, sich auf die Zeit zu beziehen, seit es in (West-) Deutschland solche Grundrechte überhaupt wieder gibt, also etwa ab Gründung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten. Im Zweiten Weltkrieg und zunächst auch danach waren diese Grundrechte (jedenfalls die, die jetzt eingeschränkt sind) in einem von mordbrennenden Nazis samt dumpfem Mitläufertum massenhaft durchseuchten Land von – vorsichtig gesprochen – ausgesprochen untergeordneter Bedeutung (und selbstverständlich – das zu Frau Merkel – kam es damals auf alles mögliche an, aber ganz sicher nicht „auf unser gemeinsames solidarisches Handeln“).

 

J.H. hat auch darin m. E. ganz Recht: Sollten die „Maßnahmen“ (von denen Jelpke einige aufzählt) „aus gesundheitspolitischer Sicht“ tatsächlich „gegenwärtig“ (!) „notwendig“ sein, dann wäre es geradezu widersinnig, ihrer Einleitung eine längliche Debatte vorzuschalten. Und schon gar nicht eine mit Ulla Jelpke (die ja niemand daran gehindert hat oder hindert, die Debatte zu führen, jetzt nicht und auch vorher nicht) denn was kann man debattieren mit jemand, der („mag … sein“) nur mit den Schultern zuckt.

 

Wie wenig Jelpke in Wahrheit sich für die ganze Angelegenheit interessiert, lässt sich auch daran ablesen, dass sie die einschneidendste und auch ziemlich allererste jener „Maßnahmen“, nämlich die Schließung der Schulen und Kitas, die zugleich allerhand an gesellschaftlicher Arbeitskraft aus dem Verkehr zieht, überhaupt nicht erwähnt. Und die „offensichtliche Ahnungslosigkeit“, die sie den „politischen Entscheidungsträger[n]“ vorwirft, exhibitioniert die Frau, die ja zumindest am Rande selbst noch dazu gehört, als ihre eigene, wenn sie faktenresistent behauptet: „Deutsche dürfen das Land nicht mehr verlassen“.

 

„Dem Volk“ seien, schreibt sie, „alle Versammlungen … verboten“. Nun ja, das mag man so sehen. Wenn man’s partout will. Nur, wo liefe oder besser hockte denn zurzeit in Deutschland ein solches Volk herum, dem dieses alles in allem doch eher platonische Verbot ernsthaft Fesseln anlegte. Mir scheint es vielmehr, als erweisen sich unsere Regierenden gerade jetzt in einem Maße wie selten sonst als Exekutoren eines wirklichen Volkswillens.

 

„demokratische Selbstverständlichkeiten“

Womit wir sozusagen ganz zwanglos bei der Frage angelangt wären: Was versteht Ulla Jelpke, was versteht die Linke überhaupt von „Demokratie“. Jelpke jedenfalls verwechselt in ihrem Kommentar systematisch Demokratie bzw. Demokratismus mit Liberalität bzw. Liberalismus. Das war in (für uns bislang noch halbwegs) gewöhnlichen Zeiten, in denen sich beides mehr oder weniger gut miteinander zu vertragen pflegte, vielleicht nicht so schlimm und eher ein theoretisches Problem. In Krisenzeiten jedoch, und in eine solche sind wir mittlerweile – wie immer auch man ihre Ursachen bestimmen und ihre Dauer einschätzen mag – eingetreten, geraten Demokratie und Liberalität ziemlich regelmäßig in Konflikt miteinander bis hin zum wechselseitig einander ausschließenden Gegensatz.

 

Studieren lässt sich das gut am sozusagen klassischen Fall, der französischen Revolution, in der dieser Gegensatz schließlich die Form zweier einander bekämpfender Parteien annahm: hier der Gironde, die eine konstitutionelle Monarchie präferierte, wovon sie sich die Garantie der Sicherung der bürgerlichen Freiheitsrechte (vor allem gegen den Pöbel) versprach, und dort die Jakobiner, die das, wie auch immer unausgegorene Interesse dieses Pöbels artikulierten, daher der Republik den Vorzug gaben, dem König schließlich den Kopf abschlugen und bereit waren, der Gleichheit aller Bürger (wie auch immer zu verstehen) notfalls die bürgerlichen Freiheitsrechte zu opfern.

 

Bereits an der französischen Revolution lässt sich andererseits auch studieren, was der linksordinären Denke heute im Traum nicht in den Sinn käme, dass Demokratie und Diktatur keineswegs immer und überall bloß im Gegensatz zueinander stehen müssen. In der Krise – und was wäre jede wirkliche Revolution zunächst anderes als eine alle gesellschaftlichen Aspekte und Bereiche erfassende Krise – verlangt die Durchsetzung des Volkswillens nicht selten, schon wegen des dann über Sieg oder Niederlage, über Erfolg oder totalen Misserfolg meist entscheidenden Timings, die alle Wenns und Abers plattwalzende Diktatur.

 

Wenn also Jelpke jetzt „den Demokratieabbau“ bzw. den „Abbau demokratischer Selbstverständlichkeiten“ beklagt, dann verfehlt sie derzeit komplett das Thema. Sie meint natürlich auch hier eigentlich jene „Grundrechtseinschränkungen“, von denen der etwas dämliche Eingangssatz ihres Textes handelt. Sie verkennt aber vollkommen, was die Stunde geschlagen hat in Sachen Liberalität und Demokratie, Freiheit und Gleichheit.

 

Die Demokratie bringt die Gleichheit der Bürger zur Geltung, derart dass die schieren Massen der Meinungen, wie auch immer zustande gekommen, ohne Rücksicht auf ihre oft sehr unterschiedliche Fundiertheit, gegeneinander gewogen werden. Zum Zug kommt nicht das triftigere Argument, sondern dasjenige, dem die Meisten folgen. Und da man, mit mehr oder auch weniger guten Gründen, Gefahr im Verzug wähnt, bleiben ganz unvermeidlich freier Austausch und Prüfung der Argumente auf der Strecke, für die es viel mehr Zeit und Geduld bräuchte, als man zu haben glaubt – und viel mehr Raum, worin Demokratie, das Diktat der Mehrheit, Pause hat.

 

„Konsens für diktatorische Maßnahmen“

Ulla Jelpke hat sich allerdings entschieden, im entscheidenden Punkt lieber unentschieden zu sein. Die gesundheitspolitische Sicht ist nicht die ihre. Da hält sie sich lieber heraus – was man ihr nicht verübeln dürfte, hätte sie sich bis auf weiteres ganz aus der Politik herausgehalten, die zur Zeit nun einmal vollkommen beherrscht wird von eben jener Sicht, aus der das Wohl und Wehe der Menschheit im Moment von der Gesundheitspolitik abhängt.

 

Sie konzediert „eine schwere Verunsicherung der Bevölkerung“ und auch, dass „all diese Entwicklungen nicht geplant waren“ (und deutet im zweiten Halbsatz an, wen sie damit offenbar entlastet sieht, nämlich „die Herrschenden“, von denen man zurzeit indes wahrlich nicht sagen könnte, wer das denn wäre). Wenn aber der gesundheitspolitische Alarm mit allem, was er nach sich zieht, immerhin „notwendig“ sein sollte, sie dem jedenfalls nicht widersprechen „mag“, dann wäre jene Verunsicherung vielleicht eine ganz angemessene Reaktion und es völlig vernünftig, dass wir unser Schicksal fürs Erste denen anvertrauen, die von der Sache, die uns so verunsichert, etwas zu verstehen scheinen.

 

Die aber seien, so raunt das Orakel aus Dortmund, nur „vermeintlich neutral“, weshalb eine „freie Gesellschaft“ sich weder ihnen noch der „Regierung“ anvertrauen und hoffen dürfe, „diese werde es schon gut mit ihr meinen“. Da hat es wohl wenig Sinn, das Orakel danach zu fragen, wie „frei“ denn eine Gesellschaft überhaupt sein kann, die unter dem Bann einer tödlichen Epidemie zu stehen glaubt, und ob nicht – „frei“ hin oder her – eine solche Gesellschaft doch besser daran tut, sich auf ihr Expertentum und ihre Regierung, so wie sie momentan nun einmal verfasst sind, zu verlassen.

 

Diese unsere Gesellschaft jedenfalls scheint in ihrer großen Mehrheit genauso zu denken und verhält sich entsprechend: Es gibt in der Tat, wie auch Jelpke konstatieren muss, „einen weitgehenden gesellschaftlichen Konsens für diktatorische Maßnahmen“; es gibt eine demokratische Diktatur der Gesundheitspolitik. Wer das, wie Jelpke, öffentlich kritisiert, hätte eigentlich die Pflicht, sich näher als bloß in allgemeinen Vorbehalten, die ganz und gar neben der Sache liegen, gegen Experten und Regierung zu eben dieser selbst zu äußern. Und fast wäre ihr das sogar passiert. Einen Absatz vorher nämlich stellt sie immerhin die berechtigte Frage: „Sind alle Maßnahmen, wie vom Gesetz gefordert, wirklich ‚verhältnismäßig‘?“, um freilich sogleich hinterher zu schieben: „Im Moment ist noch nicht einmal die Frage danach zu hören.“

 

„führende Medien“

Nun mag es vielleicht sein, dass Jelpke, so desinteressiert an der Sache, wie sie hier sich zeigt, tatsächlich nichts dergleichen gehört hat, aber zu dem Zeitpunkt, als sie ihren Kommentar zum Besten gab, „zu hören“ war „die Frage“, verschiedentlich gestellt von durchaus kompetenter Seite, sehr wohl schon lange. Zudem, wer oder was hinderte denn Jelpke, schließlich MdB und sicherlich nicht schlecht vernetzt, ihrerseits der Frage nachzugehen?

 

Und dann auch noch dieser Satz: „Auch in den führenden Medien findet sich nur eine Mischung aus Krisenberichterstattung und fatalistischer Ergebenheit.“ Wovon redet die Frau da?

 

Zunächst: Was die „führenden Medien angeht“, so ist meine Wahrnehmung eine diametral andere. Von einer „Berichterstattung“ ließe sich da allenfalls sprechen, nachdem man an der Semantik des Wortes gehörig geschraubt hat, denn nicht von oder über eine, wie auch immer beschaffene, Krise wird etwa bei, um einmal zweie beim Namen zu nennen, ARD und ZDF berichtet, sondern diese Krise wurde und wird von ihnen herbei-„berichtet“. Von „fatalistischer Ergebenheit“ daher keine Spur, vielmehr wird da eine, allerdings seit langem gut eingeübte und geölte, Propagandamaschinerie in den Dienst dessen eingespannt, was, nachdem das „Klima“ und seine „Rettung“ bereits begonnen hatten, etwas auf die Nerven zu gehen, anscheinend versprach, der nächste große Aufreger zu werden.

 

Nun sind aber die Zeiten, da derlei „führende Medien“ die wichtigste Quelle für uns Normalsterbliche waren, sich auf dem Laufenden zu halten, schon eine geraume Zeit vorbei. Stimmen, die von der Propaganda abweichende Ansichten und auch dezidierte Kritik zu Corona und dem Drumherum äußern, sind im Internet rund um die Uhr leicht zu finden. Wirklich wichtig scheinen besagte „führende Medien“ allein noch für jene Spezies zu sein, deren Angehörige in einem gewissen Grad darauf angewiesen sind, in deren Propaganda wohlwollende Berücksichtigung zu finden oder jedenfalls vermeiden müssen, von ihnen unter Quarantäne gestellt zu werden, was in diesen Tagen unter Umständen sehr schnell passiert. Ob der teilweise seltsam orakelhafte Ton des Kommentars der Ulla Jelpke hierin seine Erklärung findet, weiß ich natürlich nicht. Vielleicht geht ihr nur einfach die Puste aus, in dem zunehmend irrsinniger werdenden politischen Spiel noch gehörig mitzumischen. Wer könnte das besser verstehen als ich.

 

Gegenwehr mit Sinn und Verstand nicht in Sicht

Es gebe „dreierlei Grund zur Sorge“, zitiert J.H. am Ende aus Ulla Jelpkes Kommentar: „das Virus, die offensichtliche Ahnungslosigkeit der politischen Entscheidungsträger und den Demokratieabbau“, und setzt hinzu: „Noch mehr sorge ich mich allerdings vor einem Zusammenbruch der Produktion oder finanziellem Notstand und den Folgen.“ Auch diese Sorge teile ich. Wobei es gar nicht darauf ankommt, ob nun der gesundheitspolitisch induzierte Notstand den ökonomischen Crash regelrecht verursacht oder bloß beschleunigt oder gar nur glücklich kaschiert hätte. Denn zu befürchten ist, dass in der Folge die Spirale massenhafter Verarmung in diesem unseren Land und ringsherum sich die eine oder andere Umdrehung weiterdrehen wird, ohne dass eine Gegenwehr in Sicht wäre, die den nötigen Sinn und Verstand aufzubringen in der Lage wäre, um Wirkung zu entfalten. Jenen Sinn und Verstand, dessen letzte Reste wir womöglich gerade am Horizont entschwinden sehen.

 

Die Linke jedenfalls, egal ob Partei oder nicht, ob soft oder radikal, macht mir da kaum mehr Hoffnung. Sie scheint mittlerweile nicht nur zum festen Bestandteil, sondern zu einem unverzichtbaren Stichwortgeber eines Spektakels sich gemausert zu haben, aus dessen gründlicher Kritik allein noch Vernunft wiederzugewinnen wäre.



[1] Dort hinter der Bezahlschranke, Mittlerweile aber auf Jelpkes website unter dem Titel „Burgfrieden und Demokratieabbau: Corona macht’s möglich“ frei verfügbar.

 

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Nicht seine Kritik der politischen Ökonomie lieferte Marx den Schluss auf jenes „revolutio-näre Subjekt“ namens „Prole-tariat“ – herleiten lässt sich aus ihr nichts dergleichen –, son-dern genau andersherum be-gründete die schiere Evidenz des Daseins und Wirkens die-ses Subjekts allererst eine Kritik der politischen Ökonomie, die das Kapital als „Durchgang“ hin zur menschlichen Gesellschaft diagnostiziert. Striche man da-gegen aus der Marxschen Di-agnose dieses einzige wahrhaft historisch-subjek­tive Moment darin aus, bliebe von ihr nur das Attest eines unaufhaltsa-men Verhängnisses.(*)

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