Coronakrise, Klassenfragen und Interessenlagen

Antwort auf eine Nachfrage zu „Die LINKE und Corona“

von D.D.

Moin Rit, zu deinen Fragen bezüglich meines Textes will ich versuchen etwas zu sagen, wenngleich ich fürchte, dass das, was mir dazu einfällt, bei weitem nicht hinreichen wird zu erhellen, „worum es eigentlich geht“.

 

Was der Text kritisch in den Blick zu nehmen versucht, ist ja nur ein klitzekleiner Ausschnitt eines Geschehens, das dabei zu sein scheint, die Welt in einem Ausmaß umzukrempeln, wie es – zumindest in unseren Breiten – weder meine Generation, noch gar die nachfolgenden Generationen bislang jemals erlebt haben. Wobei noch ganz offen bleiben muss – und damit bin ich schon bei einem er­sten Gesichtspunkt dessen, was für die Beantwortung der Frage „worum es eigentlich geht“ durchaus wesentlich wäre –, in welchem Maße „Corona“ hier ursächlich wirkt oder nicht vielmehr nur Anlässe liefert oder auch längst angebahnte und teilweise auch schon stattgehabte tiefreichende Umbrüche nur sichtbar macht.

 

„Corona“ und das deutsche Kapital

Was z. B. „das Herunterfahren der Wirtschaft“ betrifft und wie es dem „deutschen Kapital“ damit geht, wäre zunächst zu differenzieren: Das „Herunterfahren“ der in gewisser Hinsicht wichtigsten Sparte des „deutschen Kapitals“, der deutschen Autoindustrie, war angekündigt und zum Teil auch bereits vollzogen worden etwa zeitgleich mit den länderübergreifenden Schließungen von Kitas, Schulen und Unis – also noch ehe am 22. März Bund und Länder die Maßnahmen zur allgemeinen „Kontaktbeschränkung“ beschlossen und die Schließung der Gastronomie- und einer Reihe anderer Dienstleistungsbetriebe angeordnet hatten.

 

Dieser ziemlich mutwillig herbeigeführte Stillstand der Autoproduktion hatte mit „Corona“ wahrscheinlich wirklich nur soviel zu tun, dass man die Gelegenheit ergriffen hat, allerhand Dellen in den Bilanzen etwas zu verschönern und vielleicht auch Zeit zu gewinnen für von der Klimarettung erzwungene einschneidendere Umsteuerungen. Es gibt wohl kaum eine Branche der Industrie, in der social distancing problemloser funktionieren könnte als in der hochautomatisierten Autoindustrie. Allenfalls indirekt mit Corona zusammenhängende Gründe könnten ernstzunehmend bei der Stilllegung der Autoproduktion eine Rolle gespielt haben, als da etwa wären Absatzstockungen auf dem wichtigsten deutschen Automarkt China oder Unterbrechungen in den Zulieferketten.

 

Womöglich ging es auch von vornherein darum, für die jetzt angeschobene Diskussion um eine Art zweiter Auflage jener glorreichen „Abwrackprämie“, mit der am Standort Deutschland der Branche 2009 im Laufe der Weltwirtschaftskrise unter die Arme gegriffen worden war, vorbereitend ein richtunggebendes Zeichen zu setzen. Jedenfalls steckte die Autoindustrie weltweit und namentlich in Deutschland lange vor „Corona“ in massiven Schwierigkeiten.

 

Ganz anders, wenn auch wiederum kaum einheitlich, verhält es sich mit dem sonstigen „deutschen Kapital“. Von einer der neben der Autoindustrie wichtigsten Branchen in Deutschland, der Chemieindustrie, deren Verband der chemischen Industrie (VCI) bereits im März voller Stolz konstatierte, man sei jetzt „systemrelevant“, vermeldete das Handelsblatt kürzlich (am 8.5.), sie komme „bisher robust durch die Krise“. Das ist aber sicher auch jenseits der Autoindustrie eher nicht der Normalfall für die Mehrzahl der übrigen Branchen in Deutschland. Man kann daher in der Tat davon ausgehen, dass diese „das Herunterfahren“ ihrer Geschäfte weit überwiegend sozusagen kalt erwischt hat, sie es tatsächlich als „keine sehr angenehme Maßnahme“ erleben, als ein ihrem Interesse vollkommen fremdes, aufgezwungenes Schicksal. Fragt sich also, welche Mächte an diesem Schicksal gewebt haben und weben.

 

Eine das deutsche wie jedes andere national organisierte Kapital ziemlich überwältigende Macht, die wahrhaft schicksalhaft wirkt, ist zweifellos der Weltmarkt. Und dessen derzeitige rapide Schrumpfung trifft das auf der Grundlage eines enormen Exportüberschusses etwa ein Jahrzehnt lang prosperierende deutsche Kapital besonders empfindlich – und in der Folge natürlich auch das hiesige Proletariat. Jedoch im Szenario dieses „Herunterfahrens“ dürfte – in historischer Dimension – „Corona“ ebenfalls für nicht mehr als die Rolle des Schrittmachers infrage kommen, denn ein globales Einbrechen der Konjunktur hatte sich nach allem, was man weiß, ja schon eine geraume Zeit vor „Corona“ zumindest abgezeichnet.

 

„gewünschte Schockwirkung“

Das erklärt allerdings nicht – jedenfalls nicht hinreichend – den Vorgang des „Herunterfahrens“ selbst, also jenes Potpourri an „Maßnahmen“ gegen die Ausbreitung einer Infektion, dessen sehenden Auges in Kauf genommenes Resultat die weitgehend darniederliegende Wirtschaft mit all den jetzt noch gar nicht absehbaren Folgen ist.

 

Offiziell motiviert wurde und wird es in erster Linie mit der Befürchtung, ohne dies drohe oder sei sogar ganz unvermeidbar eine solche Überlastung des Gesundheitssystems, dass es vielen derer, die seiner Hilfe bedürften, dann nicht mehr werde helfen können. Zur Plausibilisierung diente der Verweis auf eine seinerzeit (Mitte März) akut alarmierende Situation in Italien (spezifischer in Krankenhäusern im norditalienischen Bergamo). Die Gefährlichkeit des neuentdeckten Virus schrieb man, d.h. vor allem die Virologie selbst (und zwar über alle sonstigen Divergenzen unter den Virologen hinweg), ausdrücklich nicht der besonderen Gefährlichkeit einer Erkrankung an ihm, sondern seiner hohen Infektiosität zu.

 

Diese Sachlage wurde denn auch in einer Studie, die Seehofer am 18. März, also etwa zeitgleich mit dem ersten bundesweit erfolgten Maßnahmenkatalog, den Schließungen von Kitas, Schulen und Unis, in Auftrag gegeben hatte, als Dilemma artikuliert: dass nämlich ein Großteil der Bevölkerung für die nötige Bereitschaft zum Mitmachen sich durch das Virus nicht hinreichend bedroht fühlen könnte. Zur Auflösung dieses Dilemmas empfiehlt die Studie gegen Ende eine „gewünschte Schockwirkung“, erzielt durch das Wecken der menschlichen „Urangst“ vorm Ersticken sowie vor einer „Situation, in der man nichts tun kann, um in Lebensgefahr schwebenden Angehörigen zu helfen“.

 

Und um den Schock, der da wirken soll, zu vervollständigen, wird noch die Addition eines auf „Berichte über einzelne Fälle“ gestütztes „alarmierendes Bild“ vorgeschlagen, dass „[s]elbst anscheinend Geheilte nach einem milden Verlauf anscheinend jederzeit Rückfälle erleben [können], die dann ganz plötzlich tödlich enden, durch Herzinfarkt oder Lungenversagen“, weshalb „über denjenigen, die einmal infiziert waren“ (am 18. März immerhin schon knapp 10.000, mittlerweile mehr als 175.000 ertestete Fälle), die Drohung eines solch grausigen Schicksals „ständig wie ein Damoklesschwert“ schwebe.

 

Es geht bei diesen Überlegungen wohlgemerkt nicht um das wirkliche Krankheitsgeschehen, um seine sehr unterschiedlichen Verläufe, deren nähere Umstände, Ursachen und Wahrscheinlichkeiten und schon gar nicht um eine entsprechende Aufklärung der Bevölkerung. Bezüglich all dieser Fragen haben die sogenannten Leitmedien und die Krisenstäbe aus Beratern und Politikern, soweit aus deren öffentlichem Auftreten zu schließen, aber auch nach allem, was unterdessen ans Licht gekommen ist, ein sträfliches Desinteresse an den Tag gelegt.

 

klinisches Dunkel in Sachen „Corona“

Noch bis zum 7. April lautete eine vom 23. März datierte Empfehlung des RKI (das an der Studie des BMI mitgewirkt hat) zum Umgang mit den „Covid-19-Toten“ (damals noch ungeniert so bezeichnet, mittlerweile sind sie nur mehr „im Zusammenhang mit Covid-19“ verstorben), ihre Obduktion, die ja, zumal bei einer vermeintlich neuartigen Krankheit, über solche Fragen einige Auskunft geben könnte, sei tunlichst zu unterlassen. Angeblich wollte man die Obduzierer, die nun wahrlich von Berufs wegen sich dagegen zu wappnen wissen und vielfach entsprechend wenig Verständnis für die Empfehlung zeigten, vor Infektionen schützen. Man nahm damit in Kauf, über das klinische Geschehen der „neuen“ Krankheit namens Covid-19 mehr als nötig im Dunkeln zu tappen.

 

Bereits aus den zunächst wenigen entgegen der Empfehlung des RKI, die erst am 7. April stillschweigend modifiziert wurde, vorgenommenen Obduktionen an Covid-19-Todesfällen weiß man inzwischen manches, worauf man ohne dies nicht gekommen wäre, das nun mit einer Covid-19-Diagnose behandelten Patienten (hoffentlich) zugutekommt, z.B. dass Maßnahmen zur Thrombose-Prophylaxe tödlichen Verläufen entgegenwirken kann.

 

Mit welch verheerenden Resultaten andererseits besagte regierungsseitig „gewünschte Schockwirkung“ offenbar selbst das höherrangige medizinische Personal jedenfalls zeitweise erfasst hat, kann man der folgenden Nachricht aus meinem lokalen Umfeld entnehmen. In einem Bericht der Kieler Nachrichten vom 15. Mai werden zwei Chefärzte des hiesigen Städtischen Krankenhauses zitiert:

„Zu Beginn der Pandemie, als wir alle noch wenig wussten, galt der Grundsatz: Falls möglich, keine nicht-invasive Beatmung!“

und vom Autor des Berichts wird erläuternd hinzugesetzt: „Mit der invasiven Beatmung, die ein geschlossenes System bildet, sollten Ärzte und Pflegekräfte vor dem Virus geschützt werden.“ Die Chefärzte dann weiter:

„Jetzt, nachdem wir mehr über die Infektionswege wissen, dreht sich das in den Kliniken um, und die nicht-invasive Beatmung gewinnt an Bedeutung.“

 

Dieses „Jetzt“, dessen genaues Datum man vielleicht nie erfahren wird, dürfte so manchem Covid-19-Patienten, der glücklich erst „jetzt“ ins Krankhaus kam, das Leben gerettet haben, das bis dahin durch die medizinisch in Aussicht genommene und auch medial als einzig „lebensrettend“ propagierte Behandlung zum Teil weit mehr bedroht gewesen wäre als durch das Virus. Aufgrund von Daten aus China schon länger und später insbesondere aus New York weiß man, dass mehr als 80 oder sogar 90 Prozent der intensiv-behandelten Corona-Patienten trotz oder womöglich wegen der Intubation gestorben sind und dass an sich, wo nötig, vielmehr eine solange wie irgend möglich beizubehaltende nichtinvasive Beatmung indiziert ist.

 

Jedenfalls: Dem Grusel des „Damoklesschwerts“, das man höchstselbst über allen positiv Getesteten montiert hat, durch Aufhellung des klinischen Dunkels in Sachen „Corona“ abzuhelfen, liegt den vertraulich-strategischen Überlegungen des BMI sicherlich ebenso fern wie der leitmedialen Corona-Propaganda. Nahe liegt ihnen eher das Gegenteil: je dunkler desto wirksamer der gewünschte, durch die Propaganda zu erzielende Schock.

 

Isolation der „Risikogruppen“

Und was die demonstrative Sorge um die sogenannten Risikogruppen angeht: Statt jener des ange­strebten Schocks wegen prospektierten „Situation, in der man nichts tun kann, um in Lebensgefahr schwebenden Angehörigen zu helfen“ (s.o.), im je gegeben Fall konkret entgegenzuwirken, hatte das Maßnahmenpaket einerseits allein die abstrakt statistische Gefahr im Visier, dass die Intensivbetten zu knapp werden könnten, weshalb unter der eigentlich keiner besonderen Gefahr ausgesetzten übrigen Bevölkerung die Ausbreitung der Infektionen ausgebremst werden sollte. Und andererseits wurden über eine halbe Million Bewohner von Alten- und Pflegeheimen – gar nicht mitgerechnet die zumeist ebenfalls den Risikogruppen zuzurechnenden Covid-19-Patienten, die in Krankenhäuser eingeliefert wurden – zwangsweise nicht nur von ihren Angehörigen isoliert, sondern in vielen, wenn nicht den meisten Fällen auch ihrer normalen therapeutischen Versorgung beraubt, und zwar wiederum wegen einer rein statistisch betrachteten Infektionsgefahr und ohne jegliche Abwägung gegen alle nicht weniger realen und teilweise lebensbedrohlichen sonstigen, von der Isolation ausgehenden Gefahren für die davon Getroffenen. Daraus wurde dann die bestürzende wirkliche „Situation“, in der sich viele Angehörige von zu einer Risikogruppe zählenden Menschen sehr bald wiederfanden, wovon ich selbst gleich zwei Liedchen singen könnte.

 

Gemessen daran steht zu vermuten, dass die folgende Passage des BMI-Strategiepapiers, die auf die zur Auflösung des oben angesprochenen Dilemmas „gewünschte Schockwirkung“ hinführt, eher das uneingestandene Unbewusste seiner Autoren wie des Milieus, dem sie angehören, artikuliert als dasjenige der nicht näher bestimmten „vielen“, auf die sie – gewissermaßen klassisch projektiv – gemünzt ist:

„Bei einer prozentual unerheblich klingenden Fallsterblichkeitsrate, die vor allem die Älteren betrifft, denken sich viele dann unbewusst und uneingestanden: ‚Naja, so werden wir die Alten los, die unsere Wirtschaft nach unten ziehen, wir sind sowieso schon zu viele auf der Erde, und mit ein bisschen Glück erbe ich so schon ein bisschen früher‘. Diese Mechanismen haben in der Vergangenheit sicher zur Verharmlosung der Epidemie beigetragen.“

 

Man möchte indes vielleicht lieber nicht noch mehr darüber wissen, was und wie und woher es in Ministerialbeamten denkt, die sowas über jene, denen sie – dem landläufig noch gültigen demokratischen Selbstverständnis nach – an sich zu dienen hätten, in ihre Paper schreiben und in Umlauf bringen.

 

Die Gesundheit der Proleten

Und wie steht es mit dem Schutz der großen Mehrheit der Bevölkerung vor einer Gefahr, die ministerieller Rat auch außerhalb der Risikogruppen über allen dort „Positiven“ als „Damoklesschwert“ schweben sehen möchte? Die Zahl der hiervon Betroffenen ist in der Zeit, seitdem die Maßnahmen in Kraft sind, von etwa 10.000 auf inzwischen etwas mehr als 175.000, also um das gut 17-fache angewachsen. Das wäre, nähme man die Bedrohung ernst, unter der sie demnach unterschiedslos allesamt auch dann stünden, wenn sie’s dem Anschein nach hinter sich hätten, beileibe keine Kleinigkeit, bewegte sich vielmehr in einer Größenordnung, neben der die Zahl der amtlich „im Zusammenhang mit Covid-19“ bereits Verstorbenen sich beinahe lächerlich ausnähme.

 

Der Verweis auf eine solche Gefahr „jederzeit“ möglicher „Rückfälle“ war freilich niemals in dem Sinne ernst gemeint, dass man es nötig gefunden hätte, ihr in irgendeiner Weise vorzubeugen – etwa durch eine langfristige engmaschige Überwachung des Gesundheitszustands aller irgendwann mit positivem Befund Getesteten. Er wurde und wird immer wieder einmal hier und da lediglich zu dem Zweck gestreut, die allgemeine Angst vor „Corona“ auf einem hohen Level zu halten.

 

Was schließlich „die Prols“ angeht und insbesondere die von Dir in den Blick genommene „Situation für ihre Gesundheit“, so ist zunächst festzuhalten, dass darauf, an deren Sicherheit oder Unsicherheit etwas zu ändern, das „Herunterfahren der Wirtschaft“, der sogenannte Lockdown, weder in irgendwelchen Einzelheiten, noch gar in seiner Gesamtheit abgestellt war und ist.

 

Das erhellt schon daraus, dass, nachdem u. a. eines der größten Freizeitvergnügen der Proleten, der großveranstalte Profifußball, unterbunden worden war, man die größte aller Großveranstaltungen, den öffentlichen Personennahverkehr, (oft bei abgesenkter Kapazität, was die „Situation“ tendenziell noch „unsicherer“ gemacht hat) munter weiterlaufen ließ, auf dass, wo es nicht (wie beim Home­office) anders ging, die Proleten auch jenseits jeder „Systemrelevanz“ an den normalen Stätten ihrer Arbeit weiter schaffen konnten. Gar nicht zu reden von den gar nicht so wenigen Ärmsten der Armen im Lande, die – nicht erst jetzt, aber jetzt sozusagen erst recht – als Billigstarbeitskräfte in Sammelunterkünften, also noch viel „unsicherer“, buchstäblich bloß untergebracht sind, um, teilweise saisonal und teilweise rund ums Jahr und nun jedenfalls „systemrelevant“, nicht nur, aber auch die Versorgung der übrigen Proleten sicherzustellen. Schon deshalb übrigens wäre die Idee eines Kampfes der Klasse, „nicht an die Arbeit zurückkehren zu müssen“, schlicht gegenstandslos, denn beträchtliche ihrer Teile – beträchtlich nicht zuletzt hinsichtlich ihres Anteils an der Produktion des Mehrwerts hierzulande – waren der Arbeit nie entbunden gewesen. Ganz abgesehen davon dürfte auch im Sinne der Maßgaben des offiziellen Infektionsschutzes die „Situation“ in den betrieblichen Arbeitsprozessen in vielen Fällen weitaus „sicherer“ zu beherrschen sein als der sonstige Alltag der darin einge­spannten Arbeitskräfte.

 

„ … hat mit Corona nichts zu tun“

Vor allem aber scheint mir die Reduktion der Frage danach, wie zu- oder abträglich die Lebens- und  Arbeitsbedingungen der Proleten ihrer Gesundheit sind, auf das Problem der Konsequenz oder Inkonsequenz im Kampf gegen ein gleichermaßen klassen- wie länderübergreifend angeblich die Menschheit bedrohendes Virus, denkbar ungeeignet, auch nur in dieser einen Frage dem Gesichtspunkt eines proletarischen Klasseninteresses näherzurücken. Einen Zipfel der Absurdität eines solchen Unterfangens haben in Schleswig-Holstein just in diesen Tagen sogar die landeseigenen Sozis – den glücklichen Umstand ausbeutend, dass sie gerade die parlamentarische Opposition geben dürfen – zu fassen gekriegt: Angesichts der Skandalisierung von vor kurzem festgestellten zahlreichen Coronafällen beim Personal mehrerer schleswig-holsteinischer Schlachtbetriebe erklärte ihr Fraktionschef Stegner gestern im Landtag: „Eigentlich hat das alles mit Corona nichts zu tun, sondern mit Arbeitsverhältnissen, die wir so krass in anderen Industriezweigen vor 100 Jahren hatten“.

 

Der Mann hat wohl noch viel mehr Recht, als er selber ahnt: „das alles“ hat in der Tat „mit Corona nichts zu tun“. Miserabel sind die Arbeits- und Lebensverhältnisse eines Großteils der besitzlosen Bevölkerung ja beileibe nicht erst seit der Entdeckung von „Corona“. Und das als „so krass“ Bezeichnete bildet davon nur die skandalträchtige, sicher für ein wenig Aktivismus sorgende Spitze – in diesem unseren glücklichen Lande, denn anderswo ist es heute noch oder auch erst seit neuerem durchaus eher die allgemein tolerierte Norm. Von einem Virus ausgehende massenhafte Infektionen haben „das alles“ jedenfalls um keinen Deut verschlimmert. „Corona“ ist also, um Deine Formulierung aufzugreifen, „eigentlich nicht sehr gefährlich“, oder vielmehr: nicht gefährlicher als andere zu Atemwegserkrankungen führende Infektionen, die unter Umständen auch keineswegs harmlos verlaufen.

 

Dennoch hat „Corona“ uns alle, d. h. zumindest alle, die wir in der mehr oder weniger zivilisierten, eher schlecht als recht gerne als „westlich“ bezeichneten Welt aufgewachsen sind und leben, in einem Ausmaß und mit einer Wucht getroffen, wie es wohl über alle lebenden Generationen hinweg kaum jemand von uns bisher jemals erlebt hat. Dabei habe ich zunächst gar nicht das „Herunterfahren der Wirtschaft“ im Auge, dessen weiterer Verlauf noch ziemlich ungewiss ist und von dem auch noch gar nicht feststeht, inwieweit es mit „Corona“ überhaupt zu tun gehabt hat und haben wird. Das gehört unbedingt noch gründlich untersucht.

 

Parzellierung der Klasse

Viel verheerender noch wird, fürchte ich, die Wirkung von „Corona“ darauf sein, wie „die Prols“, deren an sich fortbestehendes Dasein als Klasse weder institutionell noch gar intellektuell zurzeit irgendwo sich reflektiert, mit der sich pandemisch entwickelnden Krise umgehen werden; besser gesagt: zu wieviel Umgang mit der Krise, statt dass diese mit ihnen einfach umspringt, sie noch in der Lage sein werden. Einer Krise, von der meines Erachtens feststeht, dass sie die Gesellschaft in ausnahmslos allen ihren Aspekten bis ins Mark erschüttern wird: in dem der Ökonomie sowieso, aber vielleicht noch fürchterlicher in deren politischem Handling und im geistig-kulturellen Sichabarbeiten daran. Dass Monsieur Macron umstandslos „Corona“ den „Krieg“ erklären und Frau Merkel wegen eines Virus auf den Zweiten Weltkrieg Bezug nehmen konnten, ohne dass sich beide umgehend vollständig lächerlich gemacht haben, halte ich für ein alarmierendes Zeichen.

 

Aber vielleicht ist meine Wahrnehmung da auch etwas sehr eingeschränkt, gewissermaßen zu stark medial gefiltert. Die zurzeit sehr wenigen Gelegenheiten, dass ich bei kleinen Ausflügen oder Spaziergängen die Stimmung „normaler Menschen“ der einfacheren Sorte, von „Prols“ halt eher als von besserem Pack, auffangen konnte, haben mir manchmal den Eindruck vermittelt, als wenn viele darunter eine Art Imprägnierung besäßen, an der die mediale und politische Coronapropaganda weitgehend abperlt. Und auch bei den in Gang gekommenen Protesten gegen den fortgesetzten Lockdown scheint nach allem, was ich bislang darüber in Erfahrung gebracht habe (in Kiel war ich einmal dabei), in der überwiegenden Mehrzahl normales Volk unterwegs zu sein.

 

Wie dem aber auch sei, alles Personal, das für irgendeinen politischen Ausdruck gesellschaftlicher Restvernunft, so sie sich denn regt, fertig zur Verfügung stünde, scheint mir nahezu vollständig verbrannt zu sein. Dabei wirft die derzeit auf den schönen Namen „Corona“ hörende Krise allerhand Schlaglichter auf Themen, die der Partei Die Linke dereinst auf den Leib geschnitten waren. Aber von einer Partei, deren Co-Vorsitzende das „Bedingungslose Grundeinkommen“ promotet, das womöglich der nächste gravierende Schritt beim Wegräumen von auf Klassensolidarität errichteten Schranken gegen die Ausbeutung der Lohnarbeit werden und die Parzellierung der Klasse ein gutes Stück vorantreiben wird, ist vermutlich kaum mehr etwas Gutes zu erwarten. Nur folgerichtig, dass Frau Kipping in Sachen Lockdown wegen Corona zu den extremen Hardlinern gehört.

 

In der Tat sehe ich das größte Übel hinsichtlich „Corona“ im „Verhalten der Linken dazu“, wobei ich darunter viel mehr verstehe als nur die Partei, nämlich das ganze zu den gesellschaftlichen Rändern ebenso wie zur Mitte hin weitausgreifende sozial-kulturelle Milieu, das sich sehr diffus als im Zweifel eher „links“ verortet, vor allem aber entschieden „gegen rechts“ steht.

 

„Corona“ und „Big Pharma“

Denn man kann zwar mit guten Gründen vermuten, dass beim Anschub der Corona-Panik wie auch bei ihrer fortgesetzten und weiter anhaltenden Befeuerung gewichtige „Partikularinteressen“ insbesondere der Pharmaindustrie eine herausragende Rolle spielen. Man lese dazu zum Beispiel den Beitrag Falscher Alarm: Die Schweinegrippe-Pandemie von Wolfgang Wodarg (in dem 2015 im Piper-Verlag erschienen, von Mikkel Borch-Jakobson herausgegebenen Buch Big Pharma. Wie profitgierige Unternehmen unsere Gesundheit aufs Spiel setzen), der sehr ausführlich das Geschehen von 2009 um die sogenannte Schweinegrippe aufarbeitet. Den Frust des allzu glimpflichen Verlaufs der Grippesaison bei diesem epidemiologischen Fehlalarm scheint der Eine oder Andere aus der virologischen Zunft noch heute denen anzulasten, die damals das Fehlerhafte des Alarms aufgedeckt hatten. Dieser Eindruck drängt sich jedenfalls, um ein Beispiel zu geben, angesichts der Attribute auf, mit denen Prof. Friedemann Weber, Leiter des Instituts für Virologie in Gießen, schon sehr früh, am 20. März, in einem Gastbeitrag für die Berliner Zeitung Wolfgang Wodarg belegt, nachdem dieser nun auch den Alarm wegen „Corona“ als unbegründet qualifiziert hatte: Als „alt bekannter Querulant“ wird er von ihm vorgestellt und „Hey Woody, alter Zerstörer“ geschimpft. (In Parenthese sei bemerkt, aber hier nicht näher ausgeführt, dass insbesondere die zwei die Qualität der Tests betreffenden „Kernbehauptungen“ des Querulanten, die der Autor in seinen Tiraden als widerlegt darstellt, inzwischen sich als wohlbegründet erwiesen haben.)

 

Andere Mitglieder derselben Zunft scheinen die seinerzeitige pandemische Enttäuschung weniger traumatisiert weggesteckt zu haben, den Blick beharrlich nach vorn gerichtet. Christian Drosten, mittlerweile Virologe der Nation, der, ganz ähnlich wie derzeit, schon bei jener sozusagen ins Wasser gefallenen „Pandemie“ von 2009 zwischen der Projektion von Schreckensszenarien und gelassener Beschwichtigung changierte, hatte bereits im September vergangenen Jahres, als vom „neuen“ Corona-Virus noch niemand etwas ahnte, wieder pandemische Visionen. Unter der Überschrift WHO und Weltbank: Welt unzureichend auf globale Epidemien vorbereitet wurde er im Ärzteblatt zu einer unterdessen recht betagten Studie von 2006 befragt, die drei Jahre vor dem Schweinejahr dieses in gewisser Weise vorbereitet zu haben scheint. Darin war für eine künftige Influenza-Pandemie mit 51 bis 81 Millionen Todesopfern gerechnet worden, wozu Herr Drosten (wie gesagt: dreizehn Jahre nach Erscheinen der Studie und zehn Jahre nach der Schweinegrippenpleite) sich mit der Aussage zitieren ließ, er halte „[d]iese Zahlen ... für gerechtfertigt“. Auch erklärte er dort bereits einmal mehr „Impfstoffe“ zum „Hauptwerkzeug gegen solche Erkrankungen“.

 

Kein halbes Jahr später hatte man endlich seine Pandemie, wenn auch nicht als Influenza, sondern als „Corona“, und dann dazu auch wieder eine Studie (aus Großbritannien) mit den nötigen Horrorzahlen (500 Tausend Tote im UK und 2.2 Millionen in den USA). Im „Coronavirus­update Folge 16“ des NDR (vom 18. März) hat Drosten sie frisch vor der Nase, kennt sie noch gar nicht wirklich („Ich lese hier gerade auch, während ich spreche, das musste ich mir jetzt auch rausschreiben, ich habe wirklich erst heute morgen diese Studie gelesen, und ich kann nicht sagen, dass ich die komplett in allen Details erfasst habe.“), hält sie nichtsdestotrotz am Ende „für eine der besten Studien, die bisher verfügbar ist“ und weiß umso sicherer, dass es „wirklich schlimm“ ist, „was man da unterm Strich raus liest aus dieser Studie, und wir müssen uns jetzt hinsetzen und miteinander über Möglichkeiten sprechen“. An welche „Möglichkeiten“ er dabei denkt, hatte er kurz vorher bereits blicken lassen: „Abkürzungen bei der Impstoffzulassung“, so auch der Titel unter dem dieses Update steht, und dazu müsse man „regulative Dinge außer Kraft setzen, was Impfstoffe angeht“, und für ein daraus entspringendes „Risiko müsste dann auch der Staat haften“.

 

„Corona“ – Bedürfnisse und Interessenlagen

Der durch und durch manipulative und interessengeleitete Charakter dieses Geredes liegt dermaßen platt zutage, dass ich mich nur wundern kann, wie so etwas nicht nur ohne größere Beanstandungen durchgehen, sondern sogar zum großen Hit und Drosten zum begeistert gefeierten Superstar werden konnte. Und damit bin ich beim noch ausstehenden Aber zum obigen „zwar“: dass ich es sehr wohl für ziemlich wahrscheinlich halte, dass mächtige und jedenfalls, was den Gesundheitsbereich angeht, sehr einflussreiche Sonderinteressen das hektische Coronagefuchtel maßgeblich in Gang gesetzt haben und halten. Dem Aber nämlich, dass damit nicht erklärt ist, wieso die Sache diesmal nicht so geendet ist wie noch vor gut zehn Jahren im Fall der Schweinegrippe.

 

Wieso konnten diese partikularen Interessen sich diesmal so nahezu widerstandslos durchsetzen? Oder anders gefragt: Welche offenbar massenhaft vorhandenen Bedürfnisse, Sehnsüchte, Hoffnungen suchen in diesem seltsam passiven Aktivismus, der zugleich über jede Menge viel weniger partikulare Interessen rücksichtslos hinweg trampelt, ihre Erfüllung?

 

Ich will nicht behaupten, dass ich darauf bereits eine einigermaßen schlüssige, mich selbst zufriedenstellende Antwort hätte. Manches am jetzigen Geschehen erinnert mich ein bisschen an einen Eindruck, den Leo Trotzki gelegentlich seiner Beobachtung einer patriotisch kriegsbegeisterten Massenversammlung in Wien vor dem Kriegsministerium am Beginn des Ersten Weltkrieges festhält. Die Leute, die da dem Krieg zujubelten, waren überwiegend einfache Menschen, die, realistisch betrachtet, durch ihn nichts zu gewinnen, vielmehr Schrecken, Hunger und Tod zu erwarten hatten, „deren gesamtes Leben“ aber bis dahin, wie Trotzki schreibt, „Tag für Tag in monotoner Hoffnungslosigkeit vergeht“, weshalb das „Sturmleuten der Mobilmachung … als alarmierender und verheißungsvoller Ruf in ihr Leben“ gedrungen sei (Leo Trotzki: Ein politisches Moratorium. In: Ders.: Europa im Krieg. Essen [Arbeiterpresse-Verlag] 1998, S. 12).

 

Freilich scheint mir diesmal die einem Überdruss am bloßen Fortgang des Gewohnt-Alltäglichen entspringende Begeisterung für den Krieg gegen ein Virus, die Sehnsucht nach irgendeinem Ausbruch aus dem gesettelten Zustand entschieden stärker aufseiten der „besseren“, akademisch gebildeten Leute zu liegen – die allerdings heutzutage massenhaft unter solch prekären Bedingungen ihre Existenz bestreiten, dass ihnen die Prostitution ihrer Bildung womöglich zur Gewohnheit geworden ist. Was andererseits das „deutsche Kapital“ angeht, so ist meines Erachtens zu bedenken, dass es zum einen im Wesen jedes nationalen Kapitals liegt, die Artikulation und dann auch tat­kräftige Verfolgung eines gemeinsamen Interesses nicht aus einer gemeinsamen höheren Einsicht zu gewinnen, sondern aus dem wechselseitig sich aneinander Messen der oft sehr divergierenden Kräfte seiner Bestandteile. Dass „da gar kein Widerspruch zwischen den Interessenlagen“ bestünde, halte ich daher für ausgeschlossen, wohl aber für möglich, dass diejenigen von Autobauern und Pharmaindustrie zurzeit nicht gar so weit auseinanderliegen. Zum andern aber ist die Interessenlage des deutschen Kapitals im Ganzen ja immer einem globalen Kräftefeld mit einer Reihe anderer gewichtiger nationaler Kapitale ausgesetzt, das nun schon eine geraume Zeit von gewaltigen Verschiebungen der Kräfte in eine Bewegung versetzt wurde, die eine jeweils präzise Definition der eigenen Interessenlage bisweilen bis zur Paralyse eines noch irgend rational begründeten Handelns erschwert. Möglich dass auch dadurch solche sozialen Kräfte politische Handlungsmacht gewinnen, deren Natur sie längst jeglicher vernünftigen Definition der eigenen Interessen enthoben hat und so der Politik das Aussehen der Abfolge einer Reihe von Amokläufen verleiht.

 

Das soll’s fürs erste gewesen sein mit der einen oder anderen Idee dazu, „worum es eigentlich geht“. Sollte es mir damit gelungen sein, dir eine klitzekleines Licht „auf dem Weg zur Erkenntnis“ anzuzünden, würde es mich natürlich sehr freuen, noch viel mehr jedoch, wenn du dich dadurch zu weiteren Einwenden und Fragen animiert fühlen und mich wieder davon wissen lassen würdest.

 

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Nicht seine Kritik der politischen Ökonomie lieferte Marx den Schluss auf jenes „revolutio-näre Subjekt“ namens „Prole-tariat“ – herleiten lässt sich aus ihr nichts dergleichen –, son-dern genau andersherum be-gründete die schiere Evidenz des Daseins und Wirkens die-ses Subjekts allererst eine Kritik der politischen Ökonomie, die das Kapital als „Durchgang“ hin zur menschlichen Gesellschaft diagnostiziert. Striche man da-gegen aus der Marxschen Di-agnose dieses einzige wahrhaft historisch-subjek­tive Moment darin aus, bliebe von ihr nur das Attest eines unaufhaltsa-men Verhängnisses.(*)

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